Corona und die Staatskritik

Rudolf Walther

In den Redaktionen von „Linksnetz“ und „express“ kam es in jüngster Zeit zu Konflikten über die Haltung und den Kurs gegenüber der staatlichen Corona-Politik. Man kann das als Zufall verbuchen. Ich neige eher dazu, im gleichzeitigen Auftauchen der Konflikte in beiden Redaktionen ein Indiz dafür zu sehen, dass die Ursache der Konflikte nicht beim Virus selbst liegt, sondern an der Komplexität der Probleme, die die Pandemie wenn nicht erzeugt, so doch erheblich befördert hat. Um es ganz schroff und kurz zu sagen: das Virus und die Folgen seiner politischen und sozialen Bekämpfung zwingen Linke dazu, „über die Bücher zu gehen“.

Damit meine ich natürlich nicht, wir müssten jetzt abschwören und „normal“ „vernünftig“ oder „staatstragend“ werden. Aber wir sollten uns schon fragen, was genau wir meinen, wenn wir Begriffe wie „Staatskritik“ oder „Selbstorganisation“ verwenden. Es könnte ja sein, dass diese mit schweren Krisen, humanitären Katastrophen oder Ähnlichem in dieser Preislage verbundenen Probleme eine neue und andere Bedeutung erhalten.

Um bei der Staatskritik zu bleiben. Sie verliert gar nichts an Dringlichkeit angesichts der Staatlichkeit und ihren Formen, mit denen wir es in der Regel und im Normalfall zu tun haben. Aber angesichts der Lage dürfen und müssen wir uns schon fragen, ob wir noch in normalen Zeiten leben. Ich beschwöre damit nicht irgendwelche Vorstellungen und Spekulationen vom Ausnahmezustand und die sattsam bekannten Antworten darauf von Rechten, Konservativen und „normalen“ Sicherheitsstaatlern darauf, sondern ziele auf die reale und bei Licht wahrnehmbare Ausnahmesituation, die die Pandemie erzeugt hat und weiterhin erzeugt. Über 80 000 Tote allein hierzulande liegen ja schon etwas jenseits von Normalität, auch wenn man nicht hysterieanfällig oder medial-totalinfiziert ist. Das gibt zu denken und obendrein Anlass dazu, normale Muster der Kritik zu überdenken.

Eines dieser Muster ist die uns als normal, zuträglich und angemessen erscheinende Kritik an staatlich verordneten Verhaltensregeln. Ich rede jetzt der Abkürzung halber nicht von „Zivilcourage“ oder gar „Widerstand“ und „Opposition“, denn die Weigerung, eine Maske zu tragen oder Weihnachten, Ostern, Pfingsten oder was der christliche Kalender sonst noch so hergibt, wegen staatlichen Verordnungen nicht in Mallorca oder auf den Malediven verbringen zu können, hat – angesichts der realen Gefahrenlage – mit Opposition gar nichts, mit Borniertheit und selbstverschuldeter Dummheit allerdings allerhand zu tun.

Natürlich rede ich damit nicht jeder staatlichen Maßnahme das Wort und verteidige schon gar nicht staatlich verschuldete Versäumnisse und Defizite in der insgesamt eher wirren Corona-Politik. Aber Kritik, auch Staatskritik, bemisst sich immer noch an ihrer Sachhaltigkeit und Verhältnismäßigkeit, sonst verkommt sie zu eifernder und geifernder Polemik. Diese sollte man sich sparen für die Anprangerung von korrupten Virus-Bekämpfungsgewinnlern und politischen Nullnummern wie Andreas Scheuer &Co.

Kritik, um zum Hauptpunkt zurückzukommen, darf nicht verstummen, wenn staatlicherseits Verordnungen erlassen werden, die obendrein demokratisch nicht oder nur lausig legitimiert sind. Grundrechte sind im Wesentlichen Individualrechte und diese zu verteidigen, ist Pflicht von Liberalen und Linken. Am ziemlich energischen Pathos, mit dem Liberale momentan gerade Grundrechte verteidigen, stört nur, dass sie es bei anderen staatlichen Übergriffen und vor allem bei staatlichen Versäumnissen auf anderen Gebieten – vom Wohnen bis zur Steuergerechtigkeit – mit den Grundrechten und dem Grundgesetz nicht ganz so ernst und wörtlich nehmen. Aber das ist kein Problem der Liberalen, sondern der Linken, die diese Heuchelei kritisieren müssen.

Ich komme jetzt langsam in die Nähe des Kerns meiner Kritik. Ich beziehe mich dabei, ohne programmatische oder revisionistische Absichten, wie man früher sagte, nicht auf Marx, sondern auf Hannah Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt. Ich weiß, dass sie sich dabei auf die problematischen Modelle der griechischen Polis und der amerikanischen Revolutionäre von 1776 bezieht und sich damit natürlich einige berechtigte Vorbehalte einhandelt. Ich versuche es trotzdem in aller Vorsicht, weil es vielleicht die Augen öffnet für Probleme, die sich aus dem fast synonymen Gebrauch der Begriffe „Macht“, „Gewalt“, „Herrschaft“ und „Interesse“ in der, grob gesagt, marxistischen Tradition, ergeben.

Gewalt ist für Arendt monologisch und instrumentell organisiert. Der/die Regierende(n) hat/haben Instrumente – von Gesetzen über die Polizei bis zur Armee – zu ihrer Verfügung, die sie mehr oder weniger freihändig, wenn auch meistens institutionell gesichert anwenden können gegen alle, die sie, in der Regel gesetzlich legitimiert, als ihre Untertanen oder auch Mitbürger – auf jeden Fall ihnen Unterworfene – betrachten dürfen.

Macht konstituiert sich für Arendt dagegen dialogisch. Das hört sich angesichts der tatsächlichen Verhältnisse einigermaßen bizarr an, denn mit denen „draußen im Lande“ wollen doch diejenigen „drinnen“ im Palazzo und seinen Hinterzimmern gar nichts mehr zu tun haben, spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem sie selbst drinnen sind. Macht entsteht, wenn sich Menschen oder Gruppen von Menschen darauf verständigen, sich gegenseitig als Gleiche zu behandeln und ihre Ziele und Interessen gemeinsam zu verfolgen. So verbundene Menschen herrschen nicht, sondern handeln gemeinsam im öffentlichen Raum. Sie suchen Bei- oder Zusammenstimmung mit anderen, nicht Herrschaft über andere, schon gar nicht mit Gewalt, denn diese zielt nur darauf ab, kommunikativ entstandene und begründete Macht zu zerstören.

Soweit das voraussetzungsreiche Konzept von Hannah Arendt, an dem man sicher Vieles kritisieren kann und muss (aber nicht jetzt und nicht hier). Gegenüber dem restlos konturlosen Gebrauch von „Macht“, „Herrschaft“ und „Gewalt, der vor allem mit Foucault ins Diskursgeschehen eingedrungen ist, hat Arendts Definition den Vorteil von Klarheit und Unterscheidbarkeit und stellt gegenüber dem amorphen Begriffshaufen der „French Theory“ eine entschieden nuanciertere und „erweiterte Denkungsart“ (Kant) dar. Ebenso gegenüber Marx, bei dem die Grenzen zwischen den drei Schlüsselbegriffen jeder Gesellschaftstheorie (Macht, Herrschaft und Gewalt) ebenfalls ziemlich unklar sind und sehr diffus bleiben.

Natürlich taugt Arendts begriffliche Abgrenzung nicht als Universalschlüssel, aber gerade in der Diskussion über die Corona- Politik der Regierung könnte etwas mehr Nuancierung sehr wahrscheinlich hilfreich sein, um völlig überzogene und verhältnisblödsinnige Argumente wie das „Diktatur-Geraune“ von rechts in die Schranken zu weisen. Wenn ich nicht ins Kino kann, steht nicht meine Freiheit zur Debatte, sondern mein zumindest wahrscheinlicher Schutz vor der Seuche. Wer über sicherheitsstaatliche Zumutungen aller Art schweigend hinweggeht, sollte nicht das Maul aufreißen, wenn die Bewirtung im Freien mit hoffentlich vernünftigen Gründen vorübergehend eingeschränkt wird. Mir ist auch nicht einsichtig, welcher von Neoliberalen ausgetüftelten Finte der US-Präsident auf die Beine helfen möchte, wenn er die Entprivatisierung von Impfstoff-Patenten ins Gespräch bringt.