Krise und Kompromiss

Stefan Kraft

Der Virus namens SARS-CoV-2 ist vor mehr als einem Jahr zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden. Das mag auf den ersten Blick kein besonderer Befund sein – zu sehr laborieren wir alle an den Folgen der Pandemiebekämpfung, viele auch an den Folgen des Virus. Dennoch, so scheint es, empfinden viele KritikerInnen des kapitalistischen Systems die virale Bedrohung als etwas, das von außen in die Gesellschaft eingedrungen ist und dessen Bekämpfung auch keine Systemfragen miteinschließt. Wie die britische Wissenschaftshistorikerin Caitlín Doherty auf „Jacobin“ schreibt[1]: „Der Konsens der Linken während der Pandemie lautete, dass in Zeiten der Krise das Vertrauen in die Autorität des Fachwissens ein notwendiger Kompromiss mit dem Liberalismus sei. Nur die Wissenschaft könne uns aus diesem Schlamassel heraus- und zur Politik zurückführen.“

Nun sind auch etwa Waldbrände oder Erdbeben Naturereignisse, deren Ursachen man gemeinhin nicht im politischen und ökonomischen System vermutet. Sieht man sich ihre Bekämpfung oder die darauffolgende Krisenbewältigung an, dann sind diese aber jedes Mal eng damit verknüpft. Wer welche Hilfsgelder erhält, mit welchen Materialien Häuser wiederaufgebaut werden, ob und wie man sich auf die nächste Katastrophe vorbereitet, welche Gruppe der Bevölkerung am stärksten zu leiden hat, dies hängt vorrangig von politischen Entscheidungen ab. Getroffen von jenen, die die Interessen einer elitären Minderheit im Auge haben.

Ebenso müsste in der Corona-Krise eine den herrschaftlichen Verhältnissen kritische Linke die gesellschaftlichen Wurzeln sowohl der Ursachen wie auch der Strategie der Lockdowns offenlegen. Warum hat sie stattdessen zu großen Teilen den oben erwähnten Kompromiss mit dem Liberalismus gewählt?

Die erste Antwort lautet: Das Feld der MaßnahmengegnerInnen wurde von einer Protestbewegung besetzt, von der man sich mit aller Macht zu distanzieren gezwungen sah, um vom besagten Liberalismus nicht mit denselben Etiketten beklebt zu werden. Diese Antwort soll hier nicht weiter ausgeführt werden, um der zweiten Raum zu geben.

Sie besagt: Genauso wenig wie der Virus schon in seinem Entstehen ein außergesellschaftliches Phänomen darstellt (die globalisierte Wirtschaft erzeugt Zoonosen am laufenden Band), genauso wenig ist Wissenschaft, sind Medizin, Epidemiologie, Virologie außerhalb der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung zu verorten. In einem Aufsatz für die Zeitschrift PROKLA erinnerte Michael Heinrich 1990 an die verschüttet gegangenen Analysen der Frankfurter Schule: „In seiner für das Frankfurter ‚Institut für Sozialforschung‘ angefertigten umfangreichen Studie ‚Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild‘ geht Franz Borkenau davon aus, dass die grundlegenden Denkformen der Naturwissenschaft (wie der Begriff des Naturgesetzes, der Kausalität etc.) keine ewigen, überhistorischen, sondern historische Formen sind, und dass das naturwissenschaftliche Weltbild daher nicht einfach ein ‚natürliches‘ Abbild der Außenwelt ist, sondern in seiner begrifflichen Grundstruktur historisch produziert ist und daher auch historisch erklärt werden muß.“

Aufgegriffen hat diese Idee der Berliner Autor Fabian Scheidler in seinem vor Kurzem erschienenen Werk „Der Stoff, aus dem wir sind“, in der er breit verständlich die gesellschaftlichen Ursprünge moderner Naturwissenschaften nachweist (sein Buch streift die Corona-Thematik nur am Rande, aber er sieht in ihr einen weiteren Beleg für den „technokratischen“ Zugang der Herrschaft zur Krisenbewältigung: eine „Eskalation linearer Techniken (…): totale Abschottung der Gesellschaft, chemische Spritzkanonen“)[2].

Auch die ExpertInnen, die seit vielen Monaten in der medialen Öffentlichkeit in das immer gleiche Horn stoßen, sind historische Erscheinungen. Sie entsprechen der Abwehr einer Krankheit durch einen unfähigen neoliberalen Staat, dem einzig und allein autoritäre Formen der Lösung von Krisen einfallen, seien es medizinische, ökonomische oder politische. Die historische Produktion einer wissenschaftlichen „Realität“ wird aber nicht wahrgenommen, stattdessen, wie Doherty schreibt, „stößt man auf ein weiteres Paradox für die Linke: nämlich, dass den Handlungen des Kapitals mit größtem Misstrauen begegnet werden soll – außer, wenn sie sich mit der scheinbar wertfreien Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse überschneiden. Die Investitionstätigkeiten von Pfizer? In jedem Fall verdächtig. Die Labortätigkeiten von Pfizer? Objektiv, neutral und um jeden Preis zu akzeptieren.“

Zwei Hintergründe dieser beschränkten Position seien angerissen: Die Linke war nie weit davon entfernt, sich ihren Kampf um Befreiung zweifelsfrei wissenschaftlich untermauern zu lassen. Und der Schulterschluss mit der „offiziellen“ Wissenschaft ist auch eine späte Genugtuung gegenüber dem Poststrukturalismus, der eben solche überhistorischen Wahrheiten ins Visier nahm.

Wenn das naturwissenschaftliche TV-Bild als natürliches Abbild der Außenwelt und als wertfreie wissenschaftliche Erkenntnis verstanden wird, bleibt die Kritik im Köcher, wird den Regierenden gefolgt von der Ausgangssperre bis zum Digitalen COVID-Zertifikat der EU. Stattdessen sollte die Systemkritik erst recht einsetzen, wenn von oben der Notstand verordnet wird.


[1] https://jacobin.de/artikel/covid-impfung-impfskepsis-corona-leugner-pharmaindustrie/

[2] Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. München 2021, S. 164