Sozialistische Perspektiven auf die Pandemie

Alex Demirović

Die Spanische Grippe hat 1918/19 geschätzt bis zu 100 Millionen Menschen das Leben gekostet. Für die Schlussphase des Ersten Weltkriegs war sie von erheblicher Bedeutung, insofern sie zur Niederlage Deutschlands beitrug. Menschen waren seinerzeit von der Pandemie weltweit betroffen. Gleichwohl wurde sie schnell vergessen. Das ist heute sicherlich anders. Die Corona-Pandemie ist heute ein bewusst erlebter weltweiter Vorgang. Die weltweite Öffentlichkeit verfolgt seit über einem Jahr das Infektionsgeschehen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass es trotz aller Vorwarnungen von Krisenstäben und wissenschaftlichen Gremien so überraschend ist, dass auch die hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften von einer Seuche und von eigener Hilflosigkeit derart massiv erfasst sind. Es gibt internationale Institutionen, die sich mit Seuchen befassen, ebenso ein einzelstaatliches und globales Monitoring und wissenschaftliches Wissen über die Verbreitung des Virus, seine Mutationen, Krankheitsbilder oder die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle. Anders als 1918 weiß die Wissenschaft, dass es sich um ein Virus handelt, das die Krankheit auslöst, und wie es bekämpft werden kann. Für diese Bekämpfung findet eine internationale Kooperation auf den verschiedenen Ebenen statt, die Nationalstaaten verwenden dafür erhebliche Ressourcen. Dennoch ist zu befürchten, dass die ideologischen Strategien von Wirtschaft und Staaten mit ihren Bemühungen, für die Wiederherstellung einer postpandemische „Normalität“ einzutreten und die Pandemie vergessen zu machen, Erfolg haben werden. Dafür finden sie eine erhebliche Unterstützung in der Bevölkerung – sei es unter denen, die die Existenz des Virus oder seiner Folgen bezweifeln, sei es unter denen, die nicht bereit sind, vorherige Gewohnheiten in Frage zu stellen. Auch wenn es andere wichtige Fragen gibt – und dazu gehört an erster Stelle die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation und eine Verteidigung und Vertiefung der Demokratie -, sollte eine linke Politik einen solchen breiten Konsens stören und an die Pandemie erinnern. Denn es gibt gute Gründe, nicht zur Vor-Corona-Normalität zurückzukehren. Das betrifft das gesellschaftliche Naturverhältnis und damit viele Aspekte der kapitalistisch bestimmten Lebensweise (Ernährung, Gesundheit, Reiseverhalten), konkreter aber auch deswegen, weil weitere und neue Pandemien wahrscheinlich sind und es sinnvoll ist, sich darauf durch eine umfassende Gesundheitspolitik vorzubereiten. (Insofern sind auch Treffen und Planspiele, die von der WHO organisiert werden, keine Verschwörung, sondern durchaus rational. Aber auch hier sind Transparenz und langfristig ausgerichtete demokratische Willensbildung entscheidend. Solche Aktivitäten sollten nicht in den Händen von privaten Stiftungen oder Militär liegen.)

Die Rede von der Normalität ist irreführend. Die Corona-Pandemie ist nicht vorüber. Weltweit kommt es zu neuen Infektionen und Mutationen des Virus, das sich verbreiten kann. Wer behauptet, wir könnten das Virus Sars-CoV-2 ausrotten, liegt daneben – die Menschheit wird auf lange Zeit mit dem Virus leben müssen. Selbst wenn es gelingt, weltweit zu impfen, bleibt das Virus endemisch. Es wird wohl auch längerfristig erforderlich sein, mittels Impfungen und Medikamenten das Virus zu bekämpfen, denn offensichtlich entsteht bis auf weiteres auch keine Herdenimmunität. Das wäre der Grippe vergleichbar, allerdings ist die Infektiosität im Fall von Corona nicht saisonal begrenzt und deutlich höher, so dass mehr Menschen schwer und dauerhaft erkranken oder sterben können.

Auch wenn das von Teilen der Linken (etwa der #Zero Covid-Initiative) bestritten wird – entweder weil sie das Ganze für den Teil einer Schockstrategie ansehen oder weil sie denken, die Infektionen könnten auf Null gesenkt werden und es sei das Kapital, das solche Maßnahmen verhindere -, ging es und geht es weiterhin darum, den Verlauf der Infektionen unter Kontrolle zu halten. Das wird manchmal sehr kritisch, wenn nicht gar geringschätzig betrachtet, doch es geht dabei darum, die Kurve flach zu halten, so dass die Verbreitung gering ist und Zeit gewonnen wird für die Produktion von Impfstoffen, für die Entwicklung und Produktion von Medikamenten gegen Covid-19, für Impfungen, für bessere Behandlungsmethoden im Fall der Erkrankung und die Versorgung auf den Intensivstationen. Auch wenn in Deutschland während der Sommermonate die Zahl der Inzidenzen niedrig waren, so kann sich das sehr schnell wieder ändern (das war etwa in Großbritannien alsbald nach dem Freedom Day der Fall, ebenso in Australien oder Österreich – und seit Herbstbeginn tatsächlich auch in Deutschland; und beschleunigend wirken neue Varianten des Virus, erst etwa die Delta-, zum Jahresende 2021 die Omikron-Variante). Ein radikaler Shutdown ist – außer in statistischen Modellen – keine Option. Das hat mit der Ungleichzeitigkeit der Infektionsentwicklung und damit zusammenhängend mit den Mutationen zu tun. Vor allem aber bedarf es eines gewissen Maßes an Aktivitäten in der Wirtschaft, in den Verwaltungen, um die Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten. Es werden Güter benötigt, sie müssen transportiert und verteilt werden, Verwaltung und Politik sind weiterhin erforderlich, es braucht die wissenschaftliche Forschung und medizinische Versorgung, die Berichterstattung in den Medien. Es gibt also ein rationelles Maß an Aktivitäten, das nicht unterschritten werden kann. Welche Aktivitäten in welchem Ausmaß aufrechterhalten bleiben müssen, lässt sich jedoch jeweils nicht genau definieren und ist deswegen Gegenstand gesellschaftlicher Diskussion oder – in einer Klassengesellschaft – auch Gegenstand von Konflikten; und es liegt auf der Hand, dass der Maßstab nicht die Kapitalverwertung und der Profit sein kann, auch wenn die entsprechenden Interessen wegen ihrer großen Macht erheblich, wenn nicht sogar entscheidend jene Festlegungen bestimmen. Diese Macht muss bekämpft und zurückgedrängt werden, weil sie die Gesundheit und das Leben von Menschen aufs Spiel setzt. Doch es bleibt unvermeidlich ein rationelles Moment notwendiger gesellschaftlicher Funktionen, die aufrechterhalten werden müssen, auch wenn dies für die Individuen riskant ist, die in solchen Bereichen arbeiten. Zudem steht alles unter dem Vorbehalt, dass die Freiheit und die Demokratie und zukünftige emanzipatorische Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung gewahrt bleiben. Dafür sind viele Menschen mit Gefahr für Leib und Leben eingetreten und sehen sich in vielen Regionen der Erde dazu gezwungen. Aber es ist ein Hohn auf die wirklichen Kämpfe für Freiheit, wenn in Deutschland von Querdenkern, Neonazis und Abgeordneten der AfD die Einschränkung der Freiheit am Tragen einer Maske oder an der Impfpflicht festgemacht wird. Sie nehmen für ein sehr primitives, egoistisches Freiheitsverständnis („Ich lasse mir von niemandem etwas sagen oder vorschreiben“) die Verbreitung des Virus, die Erkrankung und den Tod anderer Menschen in Kauf. 

Die kapitalistische Organisation der Produktion im Allgemeinen, der Gesundheitsorganisation im Besonderen haben sich auch in dieser Pandemie als ungeeignet für die Bewältigung der Krise erwiesen. (Um ein Missverständnis zu vermeiden: Dies gilt auch für China – China ist kein sozialistisches Land, wenn darunter eine entfaltete Selbstbestimmung der Produzierenden und Konsumieren verstanden wird, die Unterdrückung von Kommunikationen hat die Verbreitung des Virus begünstigt und begünstigt wohl auch die Unterdrückung von Wissen über vorhandene Infektionen; und ob derart rigide Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in Deutschland durchsetzbar und wünschenswert sind, ist zweifelhaft.) Viele Unternehmen haben sich um das Gesundheitsrisiko der Lohnabhängigen gar nicht geschert, die Produktion, der Verkauf gingen weiter. Es gab keine Schutzkleidung, Tests wurden vielfach nicht ermöglicht; die Wirtschaftsverbände haben immer wieder darauf hingewirkt, dass Maßnahmen zur Schließung verlangsamt wurden, weniger entschieden ausfielen oder zu früh wieder aufgehoben wurden. Die Pandemie war eine Bonanza für viele Unternehmen. Banken konnten sich im Bereich der faulen Kredite sanieren. Im Fall anderer Unternehmen gab es Mitnahmeeffekte. Apotheken und der Pharmabereich konnten große Gewinne (teils mit öffentlichen Mitteln) machen, ebenso der Versandhandel wie Amazon, die großen Lebensmittelketten. Für die großen Immobilienunternehmen gab es kaum Einbußen. Die Zahl der Millionäre hat zugenommen, die Vermögenden konnten ihr Vermögen noch steigern. Die Details der Geschäftemacherei bleiben noch vielfach weiter aufzuklären. In anderen Bereichen wie Einzelhandel, Gaststätten, Cafés, Kinos, Theater, Clubs, Event-Branche dürfte es zu erheblichen Einbrüchen gekommen sein, die zu sog. Zombie-Firmen, Insolvenzen und mittelfristigem Anstieg von Arbeitslosigkeit führen könnten. Sicherlich haben Betroffene auch aus ganz materiellen Erwägungen zu den Unterstützern der Querdenker-Demos gehört. Nicht zu Unrecht wird gefordert, angesichts der Pandemie auch homöopathische und anthroposophische Behandlungsmethoden zu prüfen und ihnen die Krankenkassenzulassung zu entziehen.

Der kapitalistische Staat kann kein Gesamtinteresse der Gesellschaft verfolgen, sondern bildet Kompromisse zwischen den Kapitalfraktionen an der Macht. Dies führt auch unter normalen Umständen zu sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Politiken. In den vergangenen Monaten hat das Pandemiemanagement viele Schwächen offen gelegt: der parlamentarische Prozess wurde deutlich geschwächt, informelle Gremien (wie die Treffen von Vertretern des Bundeskanzleramtes mit den Landesregierungen oder Landkreisen) erlangten übermäßige Entscheidungskompetenzen; die Ordnungsbehörden und die Polizeien agierten sehr einseitig zugunsten antidemokratischer Kräfte der Querdenker und des Rechtsradikalismus. Beratung und Krisenstäbe sind einseitig auf Virologie oder Infektiologie ausgerichtet (es fehlen neben Epidemolog_innen auch die ÄrztInnen vor Ort, Sozialwissenschaftler_innen, Psycholog_innen, Lehrer_innen, Betroffene) und die Privatisierung der Krankenhäuser und die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte – verstärkt durch die Politik von Jens Spahn – hat zu Unterversorgung geführt. Anders als behauptet, war keine Krisenvorsorge für solche pandemischen Lagen getroffen; die privaten Unternehmen, die Apps entwickeln sollten, erwiesen sich als unfähig; die Schutzkleidung erwies sich vielfach als unzulänglich; die medizinische Forschung war auf viele Fragen nicht vorbereitet und hat zu wenig Personal; es wurde nicht genügend Geld zur Verfügung gestellt, um schnell eine Vielzahl von medizinischen, epidemiologischen oder psychologischen Forschungen anzustoßen. Die Entwicklung der mRNA-Impfstoffe, die über lange Zeit verzögert worden war, wurde erst in dieser Notsituation durch Förderung von Privatunternehmen umfassend unterstützt. Die Pandemie hat die heterogenen politischen Praktiken bis zur Konfusion der Akteure gesteigert. Es wurde die Schuldenbremse aufgegeben und gleichzeitig an ihr festgehalten; es wurden von den Ministerpräsident_innen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen und sofort wieder unterlaufen. Die Minister gaben sich überrascht über die Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie oder der Landwirtschaft, obwohl sie alles wissen konnten, weil es ja politisch gewollt war. Auch dass die Unternehmen sich an die Auflagen der Gesundheitsämter vielfach nicht gehalten haben, blieb folgenlos. Politiker wie Jens Spahn haben immer wieder ausdrücklich oder durch Halbwahrheiten und Schweigen gelogen. Steuergelder wurden mißbräuchlich ausgegeben, vielfach war Begünstigung von Unternehmen im Spiel (die ohne Ausschreibungen und zu überteuerten Preisen Aufträge erhielten). In der bürgerlichen Politik waren die schmutzigsten Geschäftemacher am Werk und haben sich bereichert, indem sie in der Notlage, in der Masken und Schutzkleidungen fehlten, ihre Vermittlung anboten und dafür direkt und indirekt Provisionen kassierten. Aber diese Politiker haben nur fortgesetzt, was auch die Kliniken, Unternehmen und Banken betrieben haben. Kliniken oder Teststationen haben mehr abgerechnet als sie durften. Unternehmen haben Hilfen kassiert und als Dividende an Aktionäre weiter gereicht. Banken haben die faulen Kredite, die Unternehmen bei ihnen hatten, mit den staatlichen Hilfen getilgt.

Die Lage in und nach der Pandemie zeigt, dass die demokratischen Prozesse grundsätzlich reorganisiert werden müssten. Die bestehenden Parteien mit ihren engen Interessen sind kein geeigneter Mechanismus, um Führungspersonal zu rekrutieren, das in der Lage ist, eine solche gesellschaftliche Krise zu bewältigen. Denn sie begünstigen Personen, die ohne Lebenserfahrung und Sachkompetenz allein aufgrund von machtpolitischen Schiebereien in den Parteien und ihren Cliquen in verantwortungsvolle Positionen gelangen. Wenn Karl Lauterbach in der neuen Koalitionsregierung auf großen Druck hin wegen seiner Kompetenz zum Gesundheitsminister ernannt wurde, so weist das in die richtige Richtung. Allerdings wird sich sehr bald auch zeigen, dass es nicht an der Kompetenz einzelner hängt, sondern die innere Dynamik der Apparate und ihre Trennung von der Gesellschaft selbst das systematische Problem darstellen. Es bedarf eines weiten Bereichs von demokratischen Beteiligungsprozessen, um für die Maßnahmen einen breiten Konsens zu entwickeln und Personen zu finden, die gesellschaftlich kompetent handeln können. Es geht also nicht um Expertenherrschaft, sondern um Prozesse, in denen die Diskussion zu einem breiten Wissen führt, so dass viele tatsächlich medizinisch, epidemiologisch, infektiologisch mitreden können – und das will ich gegen die vertreten, die sich jetzt darüber lustig machen: es ist ein enormer Schub an medizinischer und virologischer ‚Volksbildung‘, den die Pandemie mit sich gebracht hat – jedoch, so muss man sagen, nicht für Bereiche wie Ökonomie, Politik oder Ökologie. Die demokratische Beteiligung muss die wirtschaftlichen Prozesse ebenso erfassen wie die Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen oder die Rundfunkanstalten. Es gehört ja mit Blick gerade auf letztere zu den Absurditäten, dass Moderator_innen wie Illner, Will oder Lanz mit der Auswahl ihrer Gäste für ihre Talkrunden letztlich darüber entscheiden, welches Wissen in der Gesellschaft verbreitet wird und welche Willensbildung stattfindet. Dass viele Menschen dann von „Lügenpresse“ sprechen, ist gar nicht so abwegig, denn sie müssen Zwangsgebühren zahlen, haben aber keinen Einfluss auf das Geschehen und kommen mit ihren Erfahrungen nicht oder kaum zu Wort. Die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen müssen vergesellschaftet werden (Rekommunalisierung, Genossenschaften), denn als private Unternehmen, die Gewinne abwerfen müssen, dienen sie nicht den Kranken und Pflegebedürftigen, und die Pfleger_innen werden ausgebeutet und mit ihrer Empathie und Fürsorgebereitschaft für die von ihnen Abhängigen werden sie von Politik und Unternehmen aufs widerlichste unter Druck gesetzt. Weiter sollte darüber nachgedacht werden, gemeinsam mit Krankenhäusern und medizinischen Forschungseinrichtung auch die Produktion von Schutzkleidung, Medikamenten, Medizintechnologie und Impfstoffentwicklung zu vergesellschaften. Denn allein dies wird ermöglichen, innovativ und ohne die Last hoch vermachteter Interessen die Gesundheitsversorgung krisenfest zu organisieren.

Hierbei handelt es sich um die korrigierte, aktualisierte und erweiterte Fassung des Textes, der zuerst erschienen ist in: Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg.): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit, Neu-Ulm 2021.