Kostenloser öffentlicher Personennahverkehr

Hat die Bundesregierung die soziale Infrastruktur entdeckt?

von Joachim Hirsch

Kostenloser öffentlicher Nahverkehr ist einer der Punkte, die das links-netz in seinem Vorschlag zum Ausbau der sozialen Infrastruktur vorgestellt hat (Vgl. www.links-netz.de, Januar 2012). Dabei ging es darum, gegen den neoliberalen Privatisierungswahn das Angebot an öffentlichen, allen zu Verfügung stehenden Gütern des Grundbedarfs zu erweitern und damit gegen die herrschende Marktvergesellschaftung eine andere, humanere und sozialere Form des Zusammenlebens möglich zu machen – eine Forderung, die angesichts des allseits beklagten Verlusts des gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsender sozialer Ungleichheit mehr denn je Aktualität besitzt. Dabei geht es insbesondere um den Verkehr, das Wohnen, die Gesundheitsversorgung und die Bildung. Also Grundbedürfnisse, deren Befriedigung infrastrukturelle Voraussetzungen erfordert und die angesichts der erreichten ökonomischen Produktivität allen zur Verfügung gestellt werden könnten. Dazu kommt die Forderung nach Einführung eines allgemeinen und bedingungslosen Grundeinkommens in ausreichender Höhe.

Viel ist da mittlerweile nicht passiert. Am Gesundheitswesen wird immer nur noch herumgedoktert ohne es auf eine ganz neue Basis zu stellen und angesichts wachsender Wohnungsnot fällt den Regierenden nicht mehr ein als den jahrelang zurückgefahrenen „sozialen Wohnungsbau“ etwas aufzupäppeln, was heißt, private Bauherren zu subventionieren und dadurch Mieten für einen begrenzten Zeitraum etwas zu verbilligen. Von einem breit angelegten öffentlichen, vor allem kommunalen Wohnungsbau, der die Lage langfristig verbessern würde und für den es genügend historische Beispiele gibt, ist überhaupt nicht die Rede.

Inzwischen scheint sich in Bezug auf die soziale Infrastruktur allerdings etwas zu tun. Die Debatte um ein allgemeines Grundeinkommen hat seit einiger Zeit zumindest den journalistischen Mainstream erreicht und nun beschäftigt sich selbst die Bundesregierung mit Plänen zur Einführung eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs. Mit emanzipativen Zielen hat dies allerdings wenig zu tun, und schon gar nichts einem radikalen gesellschaftlichen Umbau. Dazu fällt den herrschenden Parteien, die sich bestenfalls als Verwalter des Bestehenden fühlen, nichts ein. Wenn sich nun etwas zu bewegen scheint, so ist dies ausschließlich aktuellen Zwängen geschuldet. Das Grundeinkommen ist nicht zuletzt deshalb in die Debatte gekommen, weil es darum geht, die wachsende Zahl der durch die ökonomische und technische Entwicklung Abgehängten irgendwie zu versorgen und ruhig zu stellen und weil die bestehenden Sozialsysteme immer schlechter funktionieren. Deshalb können sich auch Neoliberale damit anfreunden, allerdings zu ihren Bedingungen, was heißt: minimales Niveau und Aufrechterhaltung des Arbeitszwangs, also nicht bedingungslos. Das bedeutete die Zementierung der gesellschaftlichen Spaltung.

Beim öffentlichen Personennahverkehr liegen die Zwänge etwas anders. Die Bundesregierung hat der EU-Kommission den Vorschlag unterbreitet, diesen zumindest in einigen Ballungszentren künftig kostenlos zu machen, um dort den Autoverkehr einzudämmen. Die Kommission droht Deutschland nämlich mit einer Klage, weil in vielen Städten die Grenzwerte für die Luftverschmutzung nicht eingehalten werden. Um die unpopulären Fahrverbote zu vermeiden und die Autoindustrie nicht dazu zwingen zu müssen, die technisch mögliche Umrüstung der Dieselfahrzeuge durchzuführen, wird versucht, die EU-Kommission mit dem neuen Vorschlag wenn nicht zu beruhigen, so doch wenigstens Zeit zu gewinnen. Es ist eine Rettungsaktion – übrigens von einer geschäftsführenden und damit zu grundlegenden Entscheidungen dieses Ausmaßes gar nicht befugten Bundesregierung. In seinen Voraussetzungen und Folgen ist dieses Vorhaben offenbar überhaupt noch nicht durchdacht. Obwohl es in einigen europäischen Städten bereits solche Regelungen gibt und gab, deren Erfahrungen hätten ausgewertet werden können.

Und wie üblich hagelt es an Einwänden nicht zuletzt derer, die sich andere gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt nicht vorstellen können. Vor allem was die Finanzierbarkeit angeht. Mit einigem Recht sind die Kommunen besorgt, vom Bund letztlich auf den Kosten sitzen gelassen zu werden. Aber abgesehen davon geht es im Grunde nur darum, wo an anderer Stelle gespart bzw. zusätzliche öffentliche Einnahmen erzielt werden können. Wenn Finanzierungsfragen thematisiert werden, sollte man beispielsweise auch über die milliardenschweren Steuergeschenke an die Unternehmen reden. Oder über die Mineralölsteuer. Man könnte auch das Autofahren in den Städten durch zusätzliche Abgaben verteuern, etwa durch eine City-Maut wie in London. Damit könnte außerdem dem Einwand begegnet werden, dass es ungerecht wäre, die BewohnerInnen von Ballungsgebieten aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren.

Offen bleibt allerdings, in welchen Umfang AutofahrerInnen bereit wären, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Immerhin ist das Auto, oder genauer das SUV ein zentraler Bestandteil der allseits so geschätzten imperialen Lebensweise. Selbst jetzt schon wäre das Bus- und Bahnfahren billiger als der Unterhalt eines eigenen Wagens. Die bisher vorliegenden Versuche zeigen allerdings, dass es durchaus gelingen kann, die Leute in nennenswertem Umfang um Umsteigen zu bewegen. Dann allerdings träte das Problem auf, dass die jetzt schon teilweise stark überlasteten öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr ausreichen und erhebliche Mittel in den Ausbau dieser Infrastruktur gesteckt werden müssten. Das wäre eine längerfristig anzugehende Angelegenheit und ist mit Schnellschüssen in Richtung EU-Kommission nicht zu bewältigen. Dieser Ausbau hätte schon lange angegangen werden müssen, was jedoch angesichts des Diktats der „schwarzen Null“ in den öffentlichen Haushalten unterblieben ist. Und das zu Zeiten, in denen sich die öffentliche Hand fast zu Nullzinsen finanzieren konnte.

Man kann erwarten, dass es sich bei dem Vorschlag der Bundesregierung zunächst einmal um nicht viel mehr als um ein Ablenkungsmanöver handelt. Aber dennoch: auch auf diesem Feld ist zumindest die Diskussion über ein Thema eröffnet, das bis vor kurzem noch als Spinnerei abgetan worden ist.

© links-netz März 2018