Midnight in Paris: über den Kitsch der Intellektuellen

von Christine Resch

Die Kritiker sind sich ziemlich einig: Woody Allens letzter Film Midnight in Paris sei amüsant, aber ein „großer“ Film sei es nicht, vielmehr eine der Variationen auf die Themen und Figuren, die wir aus seinen Filmen hinreichend kennen: „Neue Stadt, alte Neurosen“ ist die Besprechung in Spiegel Online übertitelt. Dort heißt es weiter, dass Woody Allen „auch in der französischen Hauptstadt außer den üblichen Postkartenklischees kaum originelle Motive findet“.[1] Es handle sich um „Tourismusmarketing“[2], das „sich von der ersten bis zur letzten Minute … auf der Grenze zur Peinlichkeit“ bewege.[3] „Paris sei so lieblich wie Las Vegas es sich vorstellt, ohne dass der Film dem Klischee jemals einen wirklichen Bruch verpasst.“[4]

Andere finden, Woody Allen habe es genau auf diese Klischees abgesehen, „gerade weil sie eben die Vorstellung vieler amerikanischer Intellektueller ausmalen, die Paris nur von ihren Reisefotos kennen“.[5] Midnight in Paris befrage „auch viele Seiten des französisch-amerikanischen Verhältnisses: den ungebrochen heimlichen Neid der neuen Welt auf die Kultur des alten Europa und deren romantische Verklärung; […].[6] Es sei aber „müßig, darüber zu räsonnieren, ob und inwieweit ‚Midnight in Paris’ den Realitäten der Zwanziger oder des Jetzt gerecht werde. Es geht um die Entfaltung eines Wunschtraums – und um das Vergnügen, ihn als solchen zu durchstreifen.“[7]

Es stimmt schon: die Bilder von Paris sind umwerfend schön und die meisten Schauspielerinnen auch. Dazu ist es einer der „schnellen“ Woody-Allen-Filme, in denen die Witze und Pointen in kurzen Abständen präsentiert werden. Man könnte sagen, es ist ein „freundlicher“ Film, der die Zuschauerinnen (zunächst) nicht brüskiert. Ist er aber wirklich Fremdenverkehrswerbung oder doch das Gegenteil davon?

Aber zunächst der Plot: Gil (Owen Wilson) und Inez (Rachel McAdams) reisen kurz vor ihrer Hochzeit mit den Eltern von Inez nach Paris. Ihr Vater, John (Kurt Fuller), hat dort geschäftlich zu tun, die Mutter, Helen (Mimi Kennedy), nutzt die Gelegenheit, um nach Luxus-Schnäppchen zu suchen. Zufällig treffen sie in Paris auf Freunde von Inez: Paul (Michael Sheen), der an der Sorbonne lehrt, und Carol (Nina Arianda). Schon im Vorspann lernen wir, dass es ein Film über eine touristische Reise nach Paris ist. Alle Hot-Spots werden in langsamen Schnitten eingeblendet – so schön ins Bild gesetzt, wie es sie nur auf Postkarten und in Reiseführern gibt. Gil und Inez haben aber ziemlich unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Sightseeing betrifft. Für Gil, einen in Hollywood erfolgreichen Drehbuchautor, der literarische Ambitionen hat, sind die 20iger Jahre das Goldene Zeitalter, Hemingway, Fitzgerald, Eliot seine Vorbilder. Inez dagegen ist oberflächlich an der europäischen Kultur, genauer: an allem, was man in Paris halt gesehen haben muss, und vor allen Dingen an großen Abendessen, anschließenden Tanz-Partys und zunehmend an Paul interessiert. Gil findet Paris bei Regen am schönsten, für Inez ist er nur störend. Eines Nachts flaniert Gil allein durch die aparten Gassen, verläuft sich und wird um Mitternacht von einem Oldtimer aufgelesen, in dem Zelda (Alison Pill) und F. Scott Fitzgerald (Tom Hiddlestone) Champagner trinken. Was er zunächst für eine Kostümparty hält, stellt sich als Zeitreise heraus. Nacht für Nacht wird er in der Pariser Bohème der 20iger Jahre verbringen – auf deren Festen, in deren Bars, in deren Wohnungen. Gertrude Stein (Kathy Bates) wird seinen Roman lesen und ihm hilfreiche Tipps geben; Hemingway (Corey Stoll) wird nicht verstehen, warum der Protagonist seines Romans so naiv ist nicht zu bemerken, dass ihn seine Freundin mit dem Pedanten betrügt und Gil so auf die Affäre zwischen Inez und Paul hinweisen; Bunuel wird er die Idee für einen Film vorschlagen (Der Würgeengel) und in Picassos Muse, Adriana (Marion Cotillard) wird er sich verlieben. Er wird sie alle treffen: Cole Porter, Man Ray, Salvadore Dali (genial gespielt von Adrien Brody), Joséphine Baker, Djuna Barnes, Henri Matisse und später, auf einer Zeitreise mit Adriana in ihr Goldenes Zeitalter, die Belle Époque, auch Toulouse-Lautrec, Degas, Gaugin. Gil und Inez trennen sich, Inez reist zurück in die Staaten, Gil bleibt im gegenwärtigen Paris, frisch verliebt in Gabrielle, einer Verkäuferin, die den Touristen Nostalgie-Kitsch verkauft.

Im Film geht es um verschiedene Formen von Tourismus. Die „Ansichtskarten“ im Vorspann repräsentieren den ganz konventionellen Städte-Tourismus. Die Gebäude, die Plätze, die Brücken, die engen Gassen, die großen Boulevards und die Straßencafés: alles ist bekannt. Die Zuschauerinnen raunen sich leise zu, was sie gerade identifiziert haben. Wenn die Dachlandschaft von Paris bewundert wird, kann man sich selbst dabei zusehen, wie man bei jedem Paris-Besuch wieder die Treppen zum Sacré-Coeur hinaufsteigt, um genau das zu tun. Woody Allen kann nicht darauf verzichten, den Louvre in diese Sammlung aufzunehmen, daher ist die Glaspyramide auch zu sehen. Ansonsten fällt aber auf, dass er das „moderne“ Paris ausblendet: kein Centre Pompidou, kein La Défense. Paris ist eine historische Kulisse für verschiedene Aktivitäten.

John und Helen haben keinerlei kulturelle Interessen: Die Gemahlin des reichen Amerikaners ist mit Einkaufen beschäftigt, bei Dior und besonders mit der Suche nach Luxus-Schnäppchen, vorzugsweise Antiquitäten. Sie hat zwar kleine Probleme mit dem Umrechnungskurs, dafür macht sie aber explizit, was ihren Geschmack auszeichnet: „cheap is cheap“ formuliert sie als Vorwurf an Gil. Dazu kommen das noble Hotel, in dem sie wohnen, und die opulenten Essen. Die Oberschicht hat keinen „guten“ Geschmack, sondern nur einen teuren.

Inez nutzt den Aufenthalt dagegen sehr wohl für Sightseeing. Gemeinsam mit Paul plant sie die Aktivitäten für die jüngere Generation: das Musée Rodin, Versailles, das Musée de l’Orangerie des Tuileries (wo Paul ihnen das Seerosen-Panorama-Bild von Monet erklärt) – und eine Weinprobe. Paul übernimmt dabei jedesmal die Rolle des Experten. Die wenigen Sätze, die Carol im ganzen Film sagt, lauten immer gleich: Paul sei Experte für dieses und jenes. Und weil er an der Sorbonne lehrt, gibt es für Inez keinen Zweifel, dass er der Intellektuelle ist, dem sie daher andächtig zuhört. Den Intellektuellen zeichnet nicht aus, was er sagt, sondern erklärt sich allein über das Prestige der Einrichtung, an der er arbeitet. Seine „Expertise“ besteht in angelesenem Wissen aus Reise- und Weinführern, das mit intellektuellem Nimbus vorgetragen wird. Ob er über Wein, Geschichte oder Kunst redet, macht im Duktus keinen Unterschied. Kunst ist auch für die gebildete Schicht nichts Besonderes, kein Statthalter für Befreiung mehr, vielmehr ein Gegenstand, an dem sich gut fachsimpeln lässt.

Wie der Bluff funktioniert, kann man an einer Szene veranschaulichen. An Rodins Skulptur belehrt Paul die Kunstführerin, sie besteht auf ihrem Wissen. Tatsächlich geht es um biographisches Wissen, und nicht etwa um eine Interpretation der Skulptur. Es kommt zum Schlagabtausch, Gil interveniert, gibt der Kunstführerin (gespielt von Carla Bruni, wie kein Kritiker zu erwähnen vergisst) recht und beruft sich auf seine eigene Lektüre einer zweibändigen Rodin-Biographie, die er aber, wie er Inez gesteht, nie gelesen hat. Dieses eine Mal gelingt es, Paul zum Schweigen zu bringen. Die Situation wiederholt sich vor einem Gemälde von Picasso. Gil widerspricht Paul in den Worten von Gertrude Stein, die er bei einem seiner nächtlichen Ausflüge aufgeschnappt hat. Inez kommentiert das schnippisch mit der rhetorischen Frage, was er denn geraucht habe, und wendet sich wieder Paul zu.

Es ist der pseudointellektuelle Kulturtourismus, über den wir lachen. Das angelesene Halbwissen, in geschwollenem Ton vorgetragen, wird als Angeberei vorgeführt. Was Gil zu entgegnen hat, gehört dazu, hat auch nichts mit Erfahrungen zu tun, sondern ist Nachplappern.

Trotzdem ist der Intellektuellen-Tourismus komplizierter, wie ihn Gil repräsentiert. Gil ist ein gebildeter Mensch, kennt und bewundert all die Romane, Filme und Kunstwerke der Berühmtheiten, die er auf seiner Zeitreise treffen wird. Im Film werden die Goldenen Zwanziger aber als Klischee, als Rückprojektion von nostalgischen Intellektuellen inszeniert. Die Literaten und Künstler sind zu Karikaturen geworden. Und wieder ist es biographisches Halbwissen, das ausreicht, um die Figuren zu erkennen und die Überzeichnung zu verstehen: der saufende Hemingway, der exzentrische Dali, die dominante und mütterliche Stein (und Alice B. Toklas, die den Gästen die Tür aufmacht), die überspannten Surrealisten, Picasso und seine vielen Weiber. Und wieder ist es Rätselraten, das den Zuschauern nahegelegt wird. Wenn Gil einen Plot für Bunuels Film vorschlägt, bleibt offen, welcher genau es ist. Wenn über den Roman von Hemingway geredet wird, müssen sich die Zuschauer erschließen, um welchen es geht. Wenn das nicht gelingt, verstehen wir die Komik trotzdem. Wir lernen, dass nur wenig Halbbildung notwendig ist, um sich als ernsthafter Intellektueller und Kultur-Tourist darzustellen. Midnight in Paris macht sich über seine intellektuellen Zuschauer und ihre Sehnsüchte lustig. Wenn schließlich noch die berühmte Buchhandlung Shakespeare & Company gezeigt wird, fühlt man sich leicht dabei ertappt, wie man in verschiedenen Städten all die Künstler-Cafés, Buchhandlungen und Friedhöfe aufsucht und bereitwillig in Touristenfallen tappt, die für dieses „Reise-Segment“ beworben werden und sich dabei in die Gesellschaft der intellektuellen Helden phantasiert. Das ist die bösartige Ironie dieses von den Kritikern als „Liebeserklärung an Paris“ gefeierten Films.

Am Beispiel von Paul mag noch plausibel sein, dass die amerikanische Wertschätzung für die alte europäische Kultur lächerlich gemacht wird, wie das einige Kritiker interpretieren. Für Gil gilt das bestimmt nicht mehr. Er will und wird in Paris bleiben und ist mit der europäischen Kultur hoch identifiziert. Die Europäer sind schon mit gemeint, wenn die sentimentalen Vorstellungen von der Pariser Bohéme in den 20ern karikiert werden, wenn gezeigt wird, wie gerne man dabei gewesen wäre, als Künstler und Intellektuelle aus aller Welt dort dem bunten Leben gefrönt und nebenbei „Meisterwerke“ geschaffen haben. Der Film führt die verschiedenen Paris-Klischees vor. Er macht sich vor allen Dingen über die verschiedenen Niveaus von Halbbildung und besonders über die klischeehaften Phantasien der Intellektuellen lustig, die den Kultur-Tourismus ausmachen.

Insgesamt wird die „Bildung“ in der Wissensgesellschaft ironisiert: Sie besteht in Klischees und Ratgeberwissen. Das hat auch eine politische Dimension. Die Propaganda der Tea-Party wird bis zur Kenntlichkeit entstellt. Es sind Dispute zwischen Paul und Gil, in denen das vorgeführt wird. Verwickelt und anschaulich auf den Punkt bringt es ein Konflikt zwischen Gil und Inez. Gil hat an einem der Souvenir-Stände ein Tagebuch von Adriana erworben. Aus diesem erfährt er, dass sie ihn, Gil, getroffen und davon geträumt habe, dass er ihr Ohrringe schenke und dann Sex mit ihm habe. Gil beschließt vor seiner nächsten nächtlichen Zeitreise, ihr Ohrringe zu schenken, vergisst dann aber sie zu kaufen und klaut welche aus dem Schmuckkästchen von Inez. Inez und ihre Eltern, die für ein paar Tage weg wollten, kehren wegen gesundheitlicher Probleme des Vaters überraschend zurück. Sie sucht just diese Ohrringe und verdächtigt sofort das Zimmermädchen des Diebstahls. Gil verteidigt das Zimmermädchen. Weil er immer auf der Seite des Personals sei, so Inez, sage ihr Vater, er sei Kommunist. Das Bittere an dieser Satire besteht darin, dass sie die Realität kaum zu übertreffen mag, dass die Propaganda der Tea-Party der Satire in nichts nachsteht.

Bleiben noch die Liebesgeschichten: Der gemeinsame Urlaub von Paaren kann bekanntlich leicht zum Härtetest für Beziehungen werden, so auch hier. Die Urlaubsliebschaften wiederum leben davon, dass sie zeitlich begrenzt sind, so auch hier. Die phantasierte Affäre mit Adriana ist aufregend bis Gil auf ihrer gemeinsamen Zeitreise in die Belle Époque kapiert, dass jedes Zeitalter und jede Liebe als Alltag langweilig ist, dass die Gegenwart immer unbefriedigend ist. Adriana beschließt in der Belle Époque zu bleiben, Gil kehrt in die Gegenwart zurück. In der Schlussszene hören wir die Glocken um Mitternacht, die das Signal für den Beginn seiner Zeitreisen waren. Dieses Mal flaniert er im Regen auf einer Brücke und wartet nicht auf der Treppe bis er abgeholt wird. Gabrielle kommt des Weges. Die beiden verständigen sich, dass Paris bei Regen poetisch und überhaupt am Schönsten sei und ziehen gemeinsam des Weges. Happy End – wäre da nicht die Drohung, dass Gil in Paris bleiben wird.

Die Gegenwart, in der Gil angekommen ist, ist eine Projektion in die Zukunft. Die Fortsetzung, was geschieht, wenn sich ein Paar in ihren Vorlieben so einig ist wie Gabrielle und Gil hatte Woody Allen schon vor vielen Jahren gedreht. In Everybody says I love you, dem ersten Film von Woody Allen, der in Teilen in Paris spielt, bekommen wir gezeigt, dass das nicht gut ausgeht: „Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt.“

Das Leben in der jeweiligen Gegenwart ist langweilig und die Liebesbeziehungen sind konfliktreich – egal um welche Epoche es sich handelt. Aber Fortschritt gibt es auch kaum: Im Film taucht er nur als medizinischer auf. Paul kommentiert die Sehnsüchte von Gil sarkastisch, dass er die Tuberkulose bei seinem Traum von den Goldenen Zwanzigern vergesse. Gil will Adriana davon abhalten, in der Belle Époque zu bleiben, weil es damals noch keine Antibiotika gegeben habe. Adriana klagt über den Autolärm und wünscht sich Pferdekutschen, die 20iger haben gegenüber der Jetztzeit den Vorteil, dass Klimawandel und Atom noch keine Probleme sind. Allenfalls die unfreiwillige Zeitreise des Detektivs, den John auf Gil ansetzt, um herauszufinden, was der nachts treibt und ob er es wert ist, seine Tochter zu heiraten, nach Versailles und mitten in den Absolutismus hinein, könnte man als Fortschrittsgeschichte interpretieren: Als er im Schloss entdeckt wird, droht ihm sofort der Galgen.

Die Zeitreisen sind keine Terminator-Geschichten, wo der Held die Aufgabe hat, die Zukunft zum Besseren zu verändern. Es ist auch keine Traumnovelle, die es ermöglicht erotische Phantasien auszuleben. Die Zeitreise wird hier verwendet, um die Intellektuellen und ihre kitschigen Vorstellungen vorzuführen. Midnight in Paris spottet über die Halbbildung der Intellektuellen – und damit über seine Zuschauer und ihre nostalgischen Sehnsüchte.


[1]    Daniel Sander in: www.spiegel.de

[2]    Matthias Dell in: www.freitag.de

[3]    Andreas Rosenfelder in: www.welt.de

[4]    Sophie Albers in: www.stern.de

[5]    Birgit Glombitza in: www.taz.de

[6]    Anke Westphal in: www.berlinonline.de

[7]    Rainer Gansera in: www.sueddeutsche.de