Babacan, Errol (2020): Hegemonie und Kulturkampf. Verknüpfung von Neoliberalismus und Islam in der Türkei

Im vorliegenden Buch wird auf der Grundlage einer Feldstudie in zwei Großstädten der Türkei eine hegemonietheoretische Perspektive auf das von der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) vorangetriebene Herrschaftsprojekt eingenommen. Zwei ineinander verschränkte Ziele leiten die Studie an: Ein Verständnis der sozio-kulturellen Dynamik und Stabilität des AKP-Projekts zu entwickeln und einen Beitrag zur internationalen Debatte um die Aktualität gramscianischer Hegemonietheorie zu leisten.

Die Studie setzt mit der Diskussion der Forschungsliteratur zur AKP ein und arbeitet in diesem Zuge zentrale gesellschaftstheoretische Paradigmen der Türkeiforschung heraus. Die Diskussion führt über in die Begründung des theoretischen Zugangs. Vor dem Hintergrund kontroverser Auffassungen zur Aktualität und Anwendbarkeit von Hegemonietheorie wird eine Operationalisierung des gramscianischen Ansatzes vorgenommen, der unter Bezugnahme auf Bourdieu ressourcentheoretisch erweitert wird. An die theoretische Diskussion schließt die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der islamistischen Bewegung, in deren Tradition die AKP verortet wird, innerhalb der Klassenmatrix des untersuchten Raums an. Die Entwicklung wird in fünf Stationen unterteilt. Die kontemporäre Phase wird als Monopolisierung der Staatsapparate durch die AKP gefasst. Als konsensuale Basis des islamischen Konservatismus der Partei wird ein paternalistisch und patriarchal geprägtes Beziehungsnetz bestimmt, das in den Praktiken einer mit ihr assoziierten Fraktion der Bourgeoisie verwurzelt ist, die Vermittlung eines informellen Klassenkompromisses unter neoliberalen Bedingungen, eine starke soziale Kontrolle und Führung insbesondere über die unteren Schichten der Arbeiterschaft ermöglicht.

Auf der Grundlage der ressourcentheoretischen Erweiterung wird schließlich als Modus Operandi der politischen Kämpfe ein Kulturkampf bestimmt, durch den mit einer bestimmten Auslegung des Islam assoziierte Wissensformen und Praktiken in der Gesellschaft aufgewertet werden. Aufgezeigt wird, dass sich diese Aufwertung in Form einer religiösen Infrastruktur realisiert, die einer wachsenden Schicht von Intellektuellen, die als kulturelle Vermittler des Herrschaftsprojekts fungieren, privilegierten Zugang zu politischer Macht und ökonomischen Mitteln verschafft. Als zentrale Wirkungsstätten dieser Intellektuellen werden öffentliche Institutionen wie die staatliche Religionsbehörde Diyanet, theologische Bildungsinstitutionen sowie private religiöse Netzwerke vorgestellt.

Die Studie nimmt vor diesem Hintergrund schließlich eine Definition von Islamismus als Doppelbewegung zwischen Regulierung der Beziehungen zwischen den Klassen und Etablierung einer islamisch-konservativen Privilegienstruktur vor. Die sozio-kulturelle Dynamik des Projekts wird somit als Islamisierungsprozess begreifbar, der politische und ökonomische Elemente integriert, im Gegenzug die Ausgrenzung nicht-religiöser, säkularer und der dominanten Auslegung des Islam widersprechenden Praktiken und Wissensbestände aus der gesellschaftlichen Partizipation mit sich bringt. Mit Blick auf Stabilität und Entwicklungstendenzen des Projekts schließt die Studie mit dem Fazit, dass eine nachhaltige Herausforderung der paternalistischen Führung der religiösen Intellektuellen über die Arbeiterschaft einer organisierten politischen Alternative zum neoliberalen Regime bedarf, die jedoch nicht in Sicht ist.

Babacan, Errol (2020): Hegemonie und Kulturkampf. Verknüpfung von Neoliberalismus und Islam in der Türkei. Bielefeld: transcript Verlag. https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5316-8/hegemonie-und-kulturkampf/. 324 Seiten.