Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen*

Joachim Hirsch

Zwischen Angst und Herrschaft gibt es einen engen Zusammenhang, der jedoch einige Widersprüche aufweist. Real begründete oder strategisch geschürte Angst hat bei der Legitimation und Stabilisierung von Herrschaft schon immer eine bedeutsame Rolle gespielt. Dies wird etwa deutlich bei der Entstehung des modernen Staates im 16. und 17. Jahrhundert. Der US-amerikanische Historiker Charles Tilly hat diesen als eine Art Schutzgelderpresser bezeichnet, der von den Bürger*innen Gehorsam und finanzielle Leistungen verlangt und im Austausch dafür Schutz vor äußeren und inneren Feinden bietet (Tilly 1975). Und Thomas Hobbes rechtfertigte damit vor dem Hintergrund der englischen Bürgerkriege den sich entwickelnden Absolutismus. Nach ihm ist im Naturzustand, also in einer sich selbst überlassenen Gesellschaft der Mensch des Menschen Wolf und deshalb schwebe Jede*r in ständiger Lebensgefahr. Dieser lebensbedrohlichen Situation sei nur abzuhelfen, wenn alle individuellen Rechte an einen absoluten Herrscher abgetreten werden, dem mitexklusiver Gewalt ausgestatteten „Leviathan“, der damit und als Einziger in der Lage sei, das Leben der Menschen zu schützen. Er konstruiert einen (fiktiven) Vertrag, den die auf einem staatlich kontrollierten Territorium lebenden Menschen zugunsten des Herrschers abschließen (Hobbes 2002). Historisch spielte der verheerende dreißigjährige Krieg in Mitteleuropa eine ähnliche Rolle bei der Durchsetzung des Absolutismus und damit des modernen Staates. Dieser Zusammenhang prägt im Übrigen staatstheoretische Überlegungen bis in die neuere Zeit. Max Weber bezeichnete das „Gewaltmonopol“ als zentrales Merkmal des modernen Staates, als eine zivilisatorische Errungenschaft, die es möglich mache, Schutz vor Bedrohungen aller Art zu erhalten (Weber 19). Das Risiko, vom Nachbarn überfallen zu werden, wird dadurch immerhin geringer. Was passiert, wenn dies nicht gewährleistet ist, lässt sich nicht nur an vielen aktuellen Bürgerkriegen, sondern auch am Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft ablesen, wo dieses Gewaltmonopol nicht völlig durchgesetzt ist und der private Waffenbesitz zur Selbstverständlichkeit gehört. Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen purer Gewaltherrschaft und einer solchen, die hegemonialen Charakter hat. „Hegemonial“ bedeutet, dass die Herrschenden bereit sind, in gewissem Umfang den Interessen der Beherrschten Rechnung zu tragen, also z.B. den Schutz ihres Lebens zu versprechen und damit ihre freiwillige Gefolgschaft zu erlangen.

Diese und viele andere staatstheoretische Konzepte verweisen auf einen grundlegenden Widerspruch, der darin besteht, dass in einer von Gewalt und Ungleichheit geprägten Gesellschaft Herrschaft zugleich Sicherheit bietet und Freiheit beschränkt. Die moderne liberale Demokratie kann als eine Einrichtung betrachtet werden, diesen Widerspruch wenn nicht aufzuheben, so doch dadurch handhabbar zu machen, dass die Staatsgewalt demokratischen Kontrollen unterworfen wird. Die revolutionäre Bourgeoisie schaffte es damit, den Bürgerkrieg, der den kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen immanent ist, zu vermeiden und die Freiheitsbeschränkungen, die damit verbunden sind, in ein rechtliches Regelwerk einzubinden: den modernen Rechts- und Verfassungsstaat. Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft kam zum Schutz des Lebens, die Sicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln dazu und damit die eben auf das Gewaltmonopol gestützte Befestigung der kapitalistischen Klassenverhältnisse als vorrangige Staatsaufgabe. Diese Klassenverhältnisse bedeuten aber zugleich, dass die demokratische Qualität des Staates höchst beschränkt ist, weil grundlegende, die gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen bestimmende Entscheidungen von privaten Unternehmen getroffen werden, der Steuerstaat vom Funktionieren der Ökonomie und damit von der Profitabilität des Kapitals abhängig ist, ganz abgesehen vom privilegierten Einfluss der „Wirtschaft“ auf die Politik. Der in dem Verhältnis von Angst, Freiheit und Herrschaft liegende Widerspruch bleibt also auch in der liberaldemokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaft wirksam.

Die Entwicklung der Nationalstaaten verlieh der Sicherheitsfrage eine neue Dimension. Die Machtauseinandersetzungen in dem von wechselseitigen Konkurrenzverhältnissen geprägten und somit anarchischen Staatensystem sorgten für eine ständig vorhandene Kriegsgefahr und die von der kapitalistischen Verwertungsdynamik angetriebene Staatenkonkurrenz, der Kolonialismus sowie imperialistische Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse ließen relativ privilegierte Wohlstandsfestungen entstehen, die ihre Position teilweise durchaus demokratisch legitimiert gegebenenfalls mit Gewalt verteidigen. Dies kennzeichnet auch die Geburt des modernen Rassismus. Aktuell geschieht dies vor allem im Zusammenhang von Flucht und Migration, die von der Bevölkerung in den privilegierten Teilen der Welt als Bedrohung und Wohlstandsrisiko wahrgenommen werden und werden sollen. Staatlich garantierte Sicherheit in der Unsicherheit gewann dadurch eine globale Dimension.

Mit der Durchsetzung des Kapitalismus entstanden aber auch ganz neue Angstpotentiale, die nicht nur der unmittelbaren Lebensgefahr, sondern dem „stummen Zwang“ der Verhältnisse“ geschuldet sind, wie Marx geschrieben hat (Marx 1969). Die aus ihren herkömmlichen sozialen Beziehungen und Lebensverhältnissen herausgerissenen und nur noch über ihre Arbeitskraft verfügenden Menschen sahen sich der ständigen Bedrohung durch Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit ausgesetzt, eine Situation, die den Bestand der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bedrohte – nicht nur in Form revolutionärer Bewegungen, sondern auch dadurch, dass die Verfügbarkeit der für die Kapitalverwertung erforderlichen Arbeitskraft überhaupt in Frage stand. Die Regulierung der Bevölkerung, ihres Wachstums und ihrer Gesundheit wurde dadurch zu einer zentralen Aufgabe. Dies veranlasste die Staaten, nach und nach einige soziale Sicherheitssysteme einzuführen. Marx hat dies anhand der englischen Fabrikgesetzgebung anschaulich dargestellt (Marx 1969). Beide Entwicklungen zusammen hatten den Effekt, auch die unteren Schichten an die staatliche Herrschaft zu binden. In Deutschland hatte die Bismarcksche Sozialgesetzgebung neben den repressiven Sozialistengesetzen erklärtermaßen das Ziel, revolutionäre Umtriebe zu verhindern. Was die Integration der sich ursprünglich revolutionär verstehenden Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staat angeht, war dies auch erfolgreich.

Der Zusammenhang von Angst und Herrschaft beinhaltet noch einen weiteren Widerspruch. Je autoritärer die Herrschaftsverhältnisse sind, desto größer ist auch das Risiko von Revolten und Aufständen. Deshalb sind auch die Herrschenden tendenziell in ihrer Sicherheit bedroht, was sie wiederum dazu veranlassen kann, zu noch härteren Unterdrückungsmethoden zu greifen. Selbst in liberaldemokratisch verfassten Staaten bleibt dieser Widerspruch bis zu einem gewissen Grade wirksam. Angst ist daher auch hier den Herrschenden nicht fremd.

Dies lässt sich in der Geschichte bis heute verfolgen. In Deutschland waren es nicht zuletzt die gesellschaftlichen Umwälzungen und die verheerenden Wirtschaftskrisen nach dem ersten Weltkrieg, die der Nazi-Diktatur zur Macht verhalfen. Und nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Restauration der durch den Nationalsozialismus und dessen Unterstützung durch wesentliche Teile des Kapitals in Frage gestellte bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sehr stark mit der Bedrohung aus dem Osten, dem Kalten Krieg und die damit verbundene Ideologie des Antikommunismus legitimiert. Eine Folge davon war das Verbot der kommunistischen Partei und die späteren Berufsverbote. Mit dem Datum 1968 verbindet sich nicht nur das kurze liberale und demokratische Zwischenspiel der Studierendenrevolte, sondern auch die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Sie beinhalten eine zunächst auf Vorrat angelegte Einschränkung demokratischer Verfahren und Grundrechte, die wiederum mit kriegerischen Bedrohungen gerechtfertigt wurde, aber durchaus auch auf die Herrschaftssicherung bei inneren Unruhen zielte. Immerhin erzeugten das Auftreten neuer Protestbewegungen und damit auch das allmähliche Verblassen des Antikommunismus neue Herrschaftsrisiken. Allerdings wurde damals dafür noch eine Verfassungsänderung als nötig erachtet, was aktuell, bei der Corona-Krise, praktisch keine Rolle mehr spielt. Es folgte der die Sicherheitsorgane Polizei und Geheimdienste mit weitgehenden Ermächtigungen ausstattende Erlass von Sicherheitsgesetzen und damit ein weiterer Ausbau des autoritären Staates im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die RAF in den Jahren 1977-1979 sowie einige Jahre später dann dasselbe und noch einmal verstärkt nach 2001, diesmal legitimiert mit der Bedrohung durch den islamistischen Terror. Charakteristisch ist dabei, dass einige der dabei installierten Kontroll-, Überwachungs- und Eingriffsrechte mit Terrorabwehr überhaupt nichts zu tun hatten, wie etwa Heribert Prantl aufgezeigt hat (Prantl 2020).

Die Corona-Krise markiert eine neue Stufe dieser durch den Zusammenhang von Angst und Herrschaft gekennzeichneten Entwicklung, die ich, auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezogen als „Sicherheitsstaat 4.0“ bezeichnet habe (Hirsch 2020). Zweifellos hängt das Auftreten des Covid19-Virus stark mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus, der damit verbundenen Industrialisierung der Landwirtschaft und der Zerstörung natürlicher Lebensräume zusammen. Es ist allerdings völlig unangebracht, wenn behauptet wird, dies wäre von irgendwelchen dunklen Mächten planmäßig ins Werk gesetzt worden. Die Pandemie wird jedoch herrschaftstechnisch benutzt, nicht nur zur Aufhebung zentraler Grund- und Freiheitsrechte, sondern auch zum weiteren Ausbau des Kontroll- und Überwachungsstaates. Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass weitgehende Grundrechtseinschränkungen durch einfache Gesetze oder Verordnungen unterhalb des Verfassungsrechts vorgenommen wurden. Man kann daher von einer Entkonstitutionalisierung des Ausnahmezustandes sprechen. Damit steht auch der bürgerliche Rechts- und Verfassungsstaat zur Disposition (Prantl 2021).

Zur Legitimierung der zur Eindämmung der Pandemie eingeführten Zwangsmaßnahmen hat die Regierung, unterstützt durch ihre medialen Begleiter systematisch Ängste geschürt, um die Bereitschaft zur Hinnahme der Beschränkungen zu fördern. Ihre ziemlich disparate Krisenpolitik ist nicht allein durch tatsächlich vorhandene Informationsdefizite hinsichtlich der Wirkungsweise und der Gefährlichkeit des Virus, sondern auch durch eine durch eigene Ängste geschürte Panik zu erklären. Die Furcht davor, Verantwortung für die Folgen der Pandemie übernehmen zu müssen, hat oft zu überstürzten und recht planlos eingesetzten Maßnahmen geführt. Eine sachgerechte Strategie war kaum zu erkennen. Das gilt zum Beispiel für einen vorausschauenden Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen Alte, durch Krankheit vorbelastete oder in Sammelunterkünften Lebende beziehungsweise für den zügigen Ausbau von Behandlungskapazitäten, was selbst nach dem ersten Lockdown monatelang versäumt wurde. Stattdessen wurden unspezifische Restriktionen für alle angeordnet. Sie hatten nicht zuletzt den Zweck, Handlungskompetenz zu beweisen. In Wirklichkeit geht es also um eine Inkompetenz, die ebenfalls aus Angst gespeist wurde und weitere Ängste erzeugte. Ein weiteres Beispiel ist das Chaos bei der Versorgung mit Impfstoffen, das nicht nur durch den Mangel an vorausschauender Planung, sondern auch durch die Rücksichtnahme auf die Profitinteressen der Pharmakonzerne erklärbar ist. Auf eine Beschränkung von Patentrechten, etwa durch die Ermöglichung von Zwangslizenzen für Generikahersteller wurde verzichtet. Auch dies ist ein Hinweis auf die Grenzen staatlicher Macht und damit die Grenzen der Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen.

Interessant ist, dass in der Covid19-Krise tatsächlich so etwas wie die Hobbessche Situation entstanden ist: Die unmittelbare Furcht vor dem Tod begründet und rechtfertigt den Verzicht auf Freiheitsrechte und die weitgehende Ermächtigung des staatlichen Leviathans. Der Schutz des Lebens bekommt Vorrang vor allen Rechten, auch denen, die für ein würdiges Leben grundlegend sind. Und da das Virus sich über menschliche Träger verbreitet, werden alle anderen zum potentiellen Existenzrisiko, der Mensch also zum Menschen Feind. Dass die Natur auf diese Weise zurückschlägt, ist eine Entwicklung, die in Zukunft verstärkte Bedeutung erhalten wird, nicht nur in Form drohender neuer Pandemien, sondern auch wegen des menschengemachten Klimawandels. Gerade dieser wird aller Voraussicht nach weitere erhebliche Einschränkungen nach sich ziehen.

Was Michel Foucault als „Biopolitik“ bezeichnet hat, eine Entwicklung, die seit der Durchsetzung des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung gewann und auf eine Abstimmung von Kapital- und Bevölkerungsakkumulation zielt, hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht. „Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit all ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung“ (Foucault 1983, 167). Es handelt sich dabei um ein komplexes Dispositiv, bei dem der menschliche Körper selbst zum Ansatzpunkt von Machtstrategien gemacht wird und bei dem Fürsorge und Schutz repressive oder ideologische Herrschaftstechniken ergänzen. „Denn wenn die Macht nur die Funktion hätte, zu unterdrücken, wenn sie nur im Modus der Zensur, der Ausschließung, der Absperrung, der Verdrängung nach Art eines mächtigen Über-Ichs arbeiten, wenn sie sich nur auf negative Weise ausüben würde, wäre sie sehr zerbrechlich. Stark aber ist sie, weil sie positive Auswirkungen auf der Ebene des Begehrens (…) und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt. Die Macht ist weit davon entfernt, das Wissen zu verhindern, sie bringt es vielmehr hervor.“ (Foucault 2005, 78) Der Medizin kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, wie sich aktuell an der prominenten Rolle von Ärzten und Virologen in den herrschenden Machtdiskursen zeigt. Hier verbinden und verknüpfen sich unterschiedliche Machtstrategien. „Früher konnte der Staat sagen: `Ich werde euch ein Territorium geben´ oder `Ich garantiere euch, dass ihr innerhalb eurer Grenzen in Frieden leben könnt´. Das war der Territorialvertrag, und die Sicherung der Grenzen war die Hauptaufgabe des Staates. Heute stellt sich das Problem der Grenzen kaum noch. Der Vertrag, den der Staat der Bevölkerung anbietet, lautet darum: Ìch biete euch Sicherheit´. Sicherheit vor Unsicherheiten, Unfällen, Schäden, Risiken jeder Art.“ „Ein Staat, der Sicherheit schlechthin garantiert, muss immer dann eingreifen, wenn der normale Gang des alltäglichen Lebens durch ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis unterbrochen wird. Dann reicht das Recht nicht mehr aus. Dann sind Eingriffe erforderlich, die trotz ihres außerordentlichen, außergesetzlichen Charakters dennoch nicht als Willkür oder Machtmissbrauch erscheinen dürfen, sondern als Ausdruck von Fürsorge.“ (Foucault 2005, 139f.) In Bezug auf die heutige Situation waren diese Gedanken außerordentlich vorausschauend. Und dabei verbinden und verstärken sich unterschiedliche Machtbeziehungen, so etwa staatlich organisierte Überwachung und Kontrolle mit der Beobachtung und gegebenenfalls auch Denunziation von Nachbarn und Bekannten bei wahrgenommenen Regelverletzungen.

Die staatlichen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung beschleunigen im Übrigen eine Entwicklung, die sich schon länger, als Folge der neoliberalen Reorganisation des Kapitalismus nach der Krise der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts abzeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch eine wachsende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Verarmung, nicht zuletzt auch eine zunehmende Existenzbedrohung weiter Teile der Mittelschichten, gesellschaftliche Spaltungen und damit verbunden eine um sich greifende Perspektivlosigkeit. Nicht zuletzt daher rühren die immer deutlicher zum Vorschein tretende Krise der liberalen Demokratie und der darin zum Ausdruck kommende Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien. Die damit sich abzeichnende Tendenz zu autoritäreren politischen Verhältnissen wird durch die Corona-Krise nur weiter befördert.

Auffallend ist dabei, was aus der ehemaligen, im Zuge der Studierendenrevolte nach 1968 entfalteten, nicht zuletzt auf Marx, Gramsci oder Poulantzas gestützte Staatskritik geworden ist. Auf deren Grundlage wurden noch die seit den Notstandsgesetzen durchgeführten sicherheitsstaatlichen Maßnahmen mit guten Gründen kritisiert. Diesbezüglich ist in der Corona-Krise praktisch nichts mehr zu vernehmen. Tendenziell wurden von linken Kreisen eher noch härtere staatliche Eingriffe und Freiheitsbeschränkungen gefordert. Dabei hätte es eigentlich nahe gelegen, nicht nur nach dem Charakter des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern konkreter nach den Interessen zu fragen, die hinter der Art und Weise ihrer Durchsetzung im Zusammenhang mit der anhaltenden kapitalistischen Krise stehen. Weshalb die Geschäfte von Internetkonzernen massiv gefördert und große Unternehmen wie beispielsweise die Lufthansa oder TUI mit massiven Subventionen gestützt wurden, während andere, nicht nur kleingewerbliche Unternehmen vor der Pleite oder Kulturschaffende vor dem ökonomischen Aus stehen, wäre zu erörtern. Dies ist verbunden mit einer exzessiven Staatsverschuldung, für die am Ende die gemeinen Steuerzahler*innen werden aufkommen müssen. Dazu komen die zu erwartenden Kürzungen im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich. Immerhin ist es erstaunlich, wie umstandslos das bisher geltende neoliberale Mantra des ausgeglichenen Staatshaushalts kassiert wurde. Damit wurde ein staatlich inszenierter Konzentrations- und Monopolisierungsprozess eingeleitet, der den Übergang zu einem digitalisierten Kapitalismus befördern soll und von dem eine Lösung der schon länger andauernden ökonomischen Krise durch die Erschließung neuer Verwertungsmöglichkeiten erwartet wird. Überlegungen dazu, so wie sie etwa Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy zur Etablierung eines neuen Akkumulationsmodells vorgestellt haben, findet man in der sich als kritisch verstehenden Literatur kaum (Hofbauer/Komlosy 2020). Immerhin ist es bemerkenswert, dass die Börsenkurse nach dem kurzen Einbruch am Beginn der Krise inzwischen enorm gestiegen sind. Dieses Versäumnis ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie Angst Kritik an Herrschaft abtötet und diese damit stabilisiert.

Es ist abzusehen, dass die Gesellschaft als Folge der Krise einen völlig anderen Charakter erhalten wird. Die Veränderungen werden mit denen vergleichbar sein, die bislang durch verheerende Kriege verursacht wurden. Diese haben immer auch bewirkt, dass die Kapitalverwertung auf eine neue gesellschaftliche und ökonomische Basis gestellt werden konnte. Das kurze Zeitalter relativ liberaler gesellschaftlicher und politischer Zustände dürfte sich dem Ende zuneigen, nicht nur was die zunehmend autoritär agierende Staatsmaschinerie mit ihren Überwachungs- und Kontrollinstrumenten, sondern auch was den Zustand der Zivilgesellschaft angeht. Die durch die Krisenpolitik verursachte Gewöhnung an den Ausnahmezustand dürfte diese überdauern. Die Unfähigkeit von Medien und Wissenschaft, die Regierungsmaßnahmen kritisch zu überprüfen, die Neigung, diese schlicht und einfach zu rechtfertigen und damit selbst Ängste zu schüren, hat ihre Funktion als demokratisches Korrektiv ernsthaft in Frage gestellt. Das dürfte Folgen haben.

Der Zusammenhang von Angst und Herrschaft wird also nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch mit dem Blick auf die Geschichte deutlich. Ihn aufzulösen bedürfte es einer angstfreien Gesellschaft, einer Gesellschaft, die allen ein sicheres Leben gewährt und Freiheit mit dem Wohlergehen aller verbindet. Und die es lernt, auf rationale Weise mit dem Tod umzugehen, also ihn weder zu leugnen noch als diffuse Bedrohung wahrzunehmen, wie Stefan Kraft geschrieben hat (Kraft 2020). Die Vorstellung eines „Naturzustandes“, bei dem den Menschen bestimmte Eigenschaften wie eine wesensmäßige Aggressivität zugeschrieben werden wie etwa Hobbes es getan hat, ist kaum haltbar. Wie Menschen sich verhalten hängt sehr wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen sie leben. Allerdings bedeutet Freiheit immer auch die Möglichkeit von Konflikten und die Frage ist, wie diese angstfrei zu bewältigen sind. Dieser Widerspruch wird bleiben und ihn zu bewältigen wäre am ehesten in einer realen Demokratie möglich, die den Menschen nicht nur beschränkte Mitwirkungsrechte an den sie betreffenden Entscheidungen einräumt, wie es gegenwärtig der Fall ist, sondern eine umfassende Selbstbestimmung und Selbstverwaltung und damit eine friedliche Aushandlung von Konflikten ermöglicht.

Unter kapitalistischen Bedingungen ist dies allerdings undenkbar. Es ist kein Zufall, dass es in der aktuellen Krise zu keinerlei Ideen und Anstrengungen kam, sie durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten, durch Selbstorganisation und Eigeninitiative, also demokratisch zu bewältigen. Das wäre mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen kaum vereinbar. Es ginge also darum, ganz neue gesellschaftsorganisatorischer Vorstellungen und Konzepte zu entwickeln, die über Staats- und Ökonomiekritik hinausgehen.

Literatur:

Foucault, Michel 1983: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Suhrkamp, Frankfurt (Main).
Foucault, Michel 2005: Analytik der Macht. Suhrkamp Frankfurt (Main).
Hirsch, Joachim 1986: Der Sicherheitsstaat. Das „Modell Deutschland“, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen, 2.Auflage, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt (Main).
Hirsch, Joachim 2020: Sicherheitsstaat 4.0, in: Lokdown 2020, hg. v. Hannes Hofbauer und Stefan Kraft, Promedia-Verlag, Wien.
Hobbes, Thomas 2002: Leviathan, Suhrkamp Frankfurt (Main).
Hofbauer, Hannes und Komlosy, Andrea 2020:  Neues Akkumulationsmodell, in: Lockdown 2020, Promedia-Verlag Wien.
Marx, Karl 1969: Das Kapital, Band 1, Dietz, Berlin.
Kraft, Stefan 2020: Der ausgeschlossene Tod, in: Lockdown 2020, hg. v. Hannes Hofbauer und Stefan Kraft, Promedia-Verlag, Wien.
Prantl, Heribert 2020: Verfallsdatum? Süddeutsche Zeitung 25./26.4.2020.
Prantl, Heribert 2021: Ausnahmezutand. Süddeutsche Zeitung 20.721.2.2021.
Tilly, Charles 1975: The Formation of National States in Western Europe, Princeton University Press, Princeton.
Weber, Max 1966. Staatssoziologie, Duncker & Humblot, Berlin.

*Dieser Text ist die Vorveröffentlichung eines Beitrags zu dem Band „Herrschaft der Angst“, der demnächst im Promedia-Verlag (Wien) erscheinen wird.