Eva-Maria Krampe
„Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern“ lautet der Untertitel des von Hannes Hofbauer und Stefan Kraft herausgegebenen Sammelbandes „Lockdown 2020“, der Beiträge einer Reihe von Wissenschaftler*innen und Publizist*innen aus Deutschland und Österreich enthält. Zentrale These der Herausgeber ist, dass die von den Regierungen veranlassten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf längere Sicht mehr zerstörerische Folgen haben werden als diese selbst. Umso erstaunlicher sei die gesellschaftliche Akzeptanz bis weit in linke, ehemals staatskritische Kreise hinein. Dies habe stark zum Fehlen einer ernsthaften Opposition beigetragen. Nicht zuletzt Esoteriker und Rechtsradikale fanden gerade dadurch ein geeignetes Aktionsfeld. Ziel des Bandes ist es, die Dimensionen einer wissenschaftlich und sachlich fundierten Kritik zu umreißen, die in der öffentlichen Diskussion bislang kaum berücksichtigt wurden.
Der erste Teil des Bandes widmet sich der Frage nach den Ursachen und der Gefährlichkeit der Pandemie. Zunächst kritisiert ein chinesisches – regimekritisches – Autor*innenkollektiv, dass es in der Debatte kaum eine Rolle spielt, wie gefährliche Viren überhaupt entstehen und übertragen werden. Sie argumentieren, dass dies sehr stark mit der Durchkapitalisierung der Gesellschaften, mit der damit verbundenen Veränderung der Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse und insbesondere mit der Industrialisierung der Landwirtschaft zusammenhänge. Das führe dazu, dass vormals abgeschottete und relativ harmlose Virenstämme sich ausbreiten und in Umfelder geraten können, die epidemische Formen begünstigen. Die heutigen Zustände in China seien mit denen der Industrialisierungsphase in den USA und Europa vergleichbar, die ebenfalls durch das Auftreten gefährlicher Epidemien gekennzeichnet waren. Dazu käme eine deutliche Verschlechterung der Gesundheitsversorgung, nicht zuletzt infolge umfangreicher Privatisierungen. China stelle auch insofern ein Modell für das angebrochene „Corona-Zeitalter“ dar, als es über einen Staatsapparat verfüge, der zu einem rationalen Umgang mit der Pandemie kaum in der Lage sei und diese eher als Vorwand nicht nur für eine Stärkung des autoritären Staates, sondern auch für eine präventive Aufstandsbekämpfung benutzt habe.
Im folgenden Beitrag verweist Andrej Hunko darauf, dass die WHO bereits 2018 vor der Pandemie gewarnt habe, was ebenso unberücksichtigt blieb wie entsprechende Hinweise des Robert-Koch-Instituts. Problematisch sei indessen das Verhalten der WHO in der Pandemie. Die Kürzung der staatlichen Finanzierung und damit eine wachsende Abhängigkeit von privaten, eng mit der Pharmaindustrie verbundenen Geldgebern, habe dieses mit bedingt. Das habe zum einen dazu geführt, dass das früher noch vorhandene Augenmerk auf die Verursachung von Krankheiten durch Lebens- und Arbeitsverhältnisse weitgehend unter den Tisch gefallen sei. Zum anderen ging damit eine höchst unverständliche Definition dessen, was eine Pandemie ausmache, einher. Andreas Sönnichsen verweist in seinem „Wo bleibt die Evidenz?“ überschriebenen Text darauf, dass in der Pandemie, zumindest in der ersten Phase im Frühjahr und Sommer 2020, sehr oft bloße Vermutungen als Tatsachen hingestellt und mit höchst problematischen Zahlen operiert wurde, nicht zuletzt zum Zweck der Panikverbreitung.
Der zweite Teil des Bandes thematisiert die sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemiebekämpfung. Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy argumentieren, dass diese auch dazu dient, die bisher eher noch latent gebliebene Krise des Kapitalismus zu überwinden, indem als neue ökonomische Leitsektoren u.a. die IT-, Pharma-, Medizintechnik- und Gesundheitsindustrie etabliert und damit der menschliche Körper endgültig zur Basis der Kapitalakkumulation gemacht werde. Dazu käme der durch die Pandemiebekämpfung beschleunigte Digitalisierungsschub, der ganz neue Rationalisierungsspielräume eröffnet und insbesondere die Möglichkeit bietet, Arbeitskraft einzusparen bzw. Löhne zu senken. Der Industriekapitalismus mache einem neuen Akkumulationsmodell, dem Biokapitalismus Platz. In dieses Bild passe, wie schnell und umstandslos die lange Zeit verfolgte und als alternativlos dargestellte neoliberale staatliche Sparpolitik durch einen „Corona-Keynesianismus“ abgelöst wurde. Auch hier werde, wie Alfred J. Noll betont, wieder einmal deutlich, wie der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ fungiere, der den längerfristigen Interessen des Kapitals auch im Konflikt mit einzelnen Kapitalgruppen und dieses Mal mit extrem autoritären Mitteln Rechnung trage. Andrea Komsoly schließlich argumentiert, dass die durch die Pandemie verursachte Stärkung des Nationalstaats keinesfalls zu einer Unterbrechung der globalen Lieferketten, sondern zu deren Neuformierung führen werde, hin zu einem „kybernetisches Zeitalter selbst steuernder und miteinander kommunizierender Maschinen neuen Typs“. Im Übrigen setzten die Tendenzen zu einer Rückverlagerung der Produktion in die kapitalistischen Zentren voraus, dass dort die Lohn- und Arbeitskosten signifikant sinken.
Im dritten Teil, der sich mit den staatlichen Zwangsmaßnahmen und der Rolle der Medien befasst, stellt Matthias Burchardt dar, wie mit der Schaffung des „Homo Hygienicus“ die Differenz zwischen privatem und öffentlichen Leben aufgehoben wird, etwa durch wachsende staatliche Eingriffe in die Privatsphäre und ausgreifende Überwachungsmaßnahmen. Dazu kämen Distanzgebote und Maskenpflicht, was Kommunikation und soziale Teilhabe erschwere. „Fürchte Deinen Nächsten“ werde zum gesellschaftlichen Leitmotiv und das das Händeschütteln ersetzende Anstoßen mit dem Ellbogen mache den veränderten Charakter der Gesellschaft nachdrücklich deutlich. Roland Rottenfußer, Joachim Hirsch und Rolf Gössner beschäftigen sich damit, wie die Pandemie dazu gedient hat, die Entwicklung zu einem autoritären Staat voran zu treiben. Es wurden Reglements geschaffen, die die Gesellschaft tendenziell bis in die kleinsten Verzeigungen hinein durchziehen, ein Vorgang, der nur durch die Inszenierung eines Angstschocks und die Ausrufung eines Quasi-Kriegszustandes (einige Politiker sprachen tatsächlich von Krieg) ermöglicht wurde. In Deutschland habe sich das Parlament durch die Verabschiedung einer Art „Ermächtigungsgesetzes“ – das Infektionsschutzgesetz – selbst entmachtet und die Gesetzgebung der Exekutive überlassen, was zu verfassungsmäßig und rechtsstaatlich nicht zulässigen Grundrechtsbeschränkungen ohne die gebotene Abwägung ihrer Verhältnismäßigkeit führe. Die Stellung des Bundestags sei damit noch schlechter, als es die einst noch hoch umstrittenen Notstandsgesetze vorsähen. Gleichzeitig wurden reihenweise neue digitale Überwachungstechniken entwickelt, die es erlauben, das alltägliche Verhalten der Menschen zu erfassen und zu dokumentieren. Selbst wenn einige davon noch nicht eingesetzt werden, bleiben sie als Reserve erhalten. Walter von Rossum schließlich zeichnet nach, wie diese Entwicklung von den meisten Medien praktisch kritiklos und mit dem Schüren von Ängsten begleitet und unterstützt wurde. Nicht zuletzt dieses Versagen der „Zivilgesellschaft“ zeige, wie brüchig die gerne hochgelobten demokratischen Verhältnisse tatsächlich sind.
Im letzten, „der neue Umgang“ betitelten Abschnitt werden verschiedene, mit der Pandemie und dem Lockdown verbundene gesellschaftliche Aspekte beleuchtet. Ulrike Baureithel beschäftigt sich mit den Überlegungen zum Aussortieren von „Risikogruppen“ und den damit verbundenen Spaltungstendenzen sowie mit der Frage einer Triage von Erkrankten bei fehlenden Behandlungsmöglichkeiten. Valentin Widmann diskutiert das Verhältnis von Gesundheitsschutz und Menschenrechten und den Umstand, dass das Recht auf Gesundheit faktisch durch Gesundheitspflicht abgelöst wurde: „Biopaternalismus“ also. Jochen Krautz sieht in der Digitalisierung des Bildungswesens nicht nur die Gefahr einer weiter getriebenen Spaltung der Gesellschaft, sondern dazu die Tendenz, Menschen verstärkt steuer- und beherrschbar zu machen. In Bernhard Heinzelmaiers Beitrag über die Jugendlichen als Betroffene der Corona-Epidemie wird der ansonsten eher zu kurz gekommene Klassenaspekt näher beleuchtet. Bedeutsam sei, dass infolge der Lockdownmaßnahmen die soziale Situation gerade von Unterklassenjugendlichen sich manifest verschlechtert habe, gekennzeichnet durch gesellschaftliche Perspektivlosigkeit, drohende Armut und Selbstverlust. Damit habe sich die Situation umgekehrt: während die früher eher noch staatskritisch eingestellten Privilegierteren die Maßnahmen nun eher begrüßten und sogar geneigt seien, diese auch in Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes zu akzeptieren, wachse bei den anderen die Kritik am Staat und an den Herrschaftsverhältnissen. Dies alles zusammen erkläre, weshalb es gerade hier zu oft gewalttätigen Aktionen komme. Neben den Beiträgen von Gerhard Ruiss zur Kulturpolitik und von Nicole Selmer zur Zukunft des als „kaputtes System“ bezeichneten Fußballs ist noch bemerkenswert, was Stefan Kraft über den „ausgeschlossenen Tod“ schreibt. Die kapitalistische Gesellschaft sei bislang durch die Verbannung des Todes aus dem kollektiven Bewusstsein gekennzeichnet gewesen, sei es durch Externalisierung – siehe z.B. die vielen Krankheits-, Kriegs- und Hungertoten in der Peripherie, deren Schicksal als unvermeidlich dargestellt werde –, sei es durch das Abschieben der eigenen Todesfälle in besondere Einrichtungen. Dazu käme das Versprechen auf eine Verlängerung des Lebens durch die pharmazeutische und medizintechnische Industrie. Mit der Corona-Krise stehe die Todesdrohung wieder auf der öffentlichen Tagesordnung und diene nun dazu, Freiheitsbeschränkungen zu legitimieren. Es komme deshalb darauf an, die Tatsache des Todes wieder zur Kenntnis zu nehmen und einen Umgang damit zu finden, d.h. damit aufzuhören, ihn als Drohung zu empfinden, mit der man gesellschaftlich gefügig gemacht wird.
Die Beiträge wurden vor dem zweiten Lockdown im Herbst 2020 geschrieben, was aber ihre Aktualität nicht beeinträchtigt. Sie sind weit davon entfernt, Verschwörungstheorien, von denen sich die Autor*innen zum Teil klar abgrenzen, oder Verharmlosungen zu verbreiten – ein Argument, das oft zum wohlfeilen Abtun jeder Kritik benutzt wird. An einigen der hier präsentierten Beobachtungen und Analysen mögen vielleicht Zweifel bestehen. Sie sind jedoch gut begründet und sollten jedenfalls zur Diskussion gestellt werden. Auch wenn einige der gestellten und recht düsteren Prognosen sich am Ende nicht bewahrheiten sollten – was sicherlich zu hoffen wäre – sind die gesellschaftlichen und politischen Gefahren, die die Pandemie und der Umgang mit ihr groß genug, um ernsthaft zur Kenntnis genommen zu werden. Dazu stellt das Buch einen wichtigen Beitrag dar. Dass die autoritären Tendenzen, die die in den genannten westlichen Demokratien schon seit längeren feststellbar sind durch die staatlichen Maßnahmen und ihre umstandslose gesellschaftliche Hinnahme einen entscheidenden weiteren Antrieb erhalten, dürfte unbestreitbar sein.
Hannes Hofbauer / Stefan Kraft (Hg.): Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Wien: Promedia-Verlag 2020. 280 S. 19,90 EURO.