Corona-Politik und Staatsverständnis

Thomas Gehrig

Die Einschätzung der Corona-Politik steht und fällt mit der Einschätzung der Pandemie …und vielleicht auch mit dem Staatsverständnis.

In dem Satz: „Rechtfertigte die historisch neue Situation einer anscheinend für alle lebensbedrohenden Situation derart weitgehende Zwangsmaßnahmen?“ wird etwas fälschlich unterstellt: So gut wie niemand hat argumentiert, dass die Covid-19 „für alle“ lebensbedrohlich sei! Es war recht schnell klar, dass dies im Wesentlichen nur auf ältere Menschen und Menschen mit spezifischen Vorerkrankungen zutraf. Darüber hinaus hängt in diesem Satz alles von dem „anscheinend“ ab. Sieht es nur so aus, als sei die Lage „lebensbedrohlich“, sind die Berichte aus den Krankenhäusern falsch, gar gefälscht? Ist die Impfkampagne der Versuch, uns alle zu töten oder zu versklaven? Davon ist nicht auszugehen. Hier beginnen die kruden Verschwörungstheorien der sogen. ‚Querdenker‘. Diese kritisieren den Staat – wie so viele andere –, aber mit welchen Argumenten!

Wird akzeptiert, dass die Erkrankung für eine relevante Anzahl von Menschen lebensbedrohlich sein kann, ergibt sich (spätestens) daraus für den Staat die Aufgabe zu handeln. Es gilt hier ein wesentliches Grundrecht zu wahren, dass der körperlichen Unversehrtheit und damit auch das der „Würde des Menschen“. Der Staat betreibt nun eine gerichtlich kontrollierte Abwägung von Grundrechten. In der Abwägung der Bürger*innenrechte – körperliche Unversehrtheit etc. einerseits und individueller Freiheitsrechte (Bewegungsfreiheit, Eigentumsfreiheit etc.) andererseits – werden Freiheitsrechte eingeschränkt. Hier entsteht dann die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Welcher Grad an Einschränkung individueller Freiheit ist für die Rettung eines menschlichen Lebens angemessen, eben verhältnismäßig. Aber auch: Welche sozialen und individuellen Folgewirkungen ergeben sich aus Maßnahmen wie beispielsweise einem weitgehenden Lockdown?

Vor dem Hintergrund gerade der deutschen Geschichte erscheint es als Fortschritt, dem individuellen Leben – gerade auch alter und kranker Menschen – das gleiche Gewicht beizumessen wie dem anderer. Und es erscheint ebenso gerechtfertigt, diese Leben im Verhältnis zu anderen Grundrechten stark zu gewichten. (Liefen die Diskussionen vielleicht anders, wenn beispielsweise Kinder unter zehn Jahren tödlich betroffen wären?)

Dass in der (natur-)wissenschaftlichen Einschätzung der Pandemie, auch deswegen, weil sie in dieser Variante ein neues Phänomen darstellt, Fehler gemacht werden, genauso wie in der politischen Reaktion auf die Pandemie, ist unbestritten. Die Pandemie ist auch ein Lernprozess, in dem sich Einschätzungen ändern. Dass staatliche Maßnahmen und Regelungen, weil sie allgemeinverbindlich gelten sollen, in vielen Fällen unangemessen, unlogisch oder übertrieben wirken, ist ein prinzipielles Problem von Verordnungen und Regeln und ständiger Kritikpunkt der liberalen Kritik und der liberalistischen Polemik. Oder es fehlt an Fachkompetenz, die Logik der Maßnahmen nachzuvollziehen. Eine Auseinandersetzung über die Angemessenheit ist – auch gerichtlich – im Gange. Zu bedenken ist, dass politische Entscheidungsträger*innen nicht erst im Nachhinein Situationen betrachten und handeln können, sondern sich auf prognostische Szenarien einlassen müssen. Politik muss sich hier notgedrungen auf Vermutungen stützen, da nur wenige oder unsichere spezifische empirische Daten vorliegen. Daraus eine Kritik abzuleiten ist unredlich. Auch wenn argumentiert wird, es gäbe ja nur geringe Fallzahlen, die aber ggf. nur deshalb gering sind, weil die mit dem Argument geringer Fallzahlen kritisierten Maßnahmen greifen!

Eine kritische Position müsste zum einen die Einschränkungen der bürgerlichen Freiheitsrechte im Blick haben: Sind diese insgesamt angemessen? Darüber hinaus sind unter einer sozialen Perspektive weitergehende Fragen zu stellen: Wessen Freiheitsrechte werden eingeschränkt, wen betreffen die staatlichen Reglementierungen nicht, welche sozialen Ungleichheiten werden damit forciert? Seit Beginn der Pandemie wird breit darüber berichtet, dass vor dem Virus eben nicht alle gleich sind. Hier ist der Sozialstaat gefragt.

Bezüglich der Frage, wen die staatlichen Reglementierungen nicht treffen, hat sich die Zero-Covid Initiative auf die Forderung versteift, Betriebe verstärkt zu reglementieren. Das Kapital – so der Vorwurf – wird weitgehend geschont, die täglichen ‚Corona-Partys des Kapitals‘ finden statt. Das Recht, nicht infiziert zu werden, endet in der Tat oft am Fabriktor. Diese Forderung verweist auf eine ungleiche Gewichtung von Betrieb und ‚Freizeit‘ und geht über die oberflächliche ‚linke‘ Überlegung hinaus, dass Betriebe ja ‚das Kapital‘ sind, das es ja zu treffen gilt. Der Bereich der Produktion wird jedoch, egal ob er kapitalistisch formiert ist oder nicht, als systemrelevanter angesehen werden müssen als der der ‚Freizeit‘. Und leider übersteigt es die gesellschaftliche Kompetenz derzeit noch, allgemein sinnvolle von unsinniger Produktion zu unterscheiden. Letztlich ist es jedoch eine durchaus diskutierenswerte Überlegung, ob die Pandemie nicht durch eine Art ‚Kurzarbeit Null‘ für alle konsequenter und besser bekämpft werden könnte. Hier zeigt sich, dass derzeit nicht Produktion systemrelevant ist, sondern Kapital.

Dem sich absolut setzenden bürgerlichen Individuum gehen die Freiheitsbeschränkungen viel zu weit. Politiker wie Wolfgang Kubicki argumentieren in etwa so: Keine staatlichen Freiheitsbeschränkungen! Personen, die sich vor einer Infektion schützen wollen, können dies individuell tun und z.B. zu Hause bleiben.

Es geht auch nicht darum, dass der Staat bürgerliche Freiheitsrechte einschränkt – das tut er andauernd, von der Steuererhebung bis zum Tempolimit, dem Verbot Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, bis zum Krankenversicherungszwang. Es geht bei den derzeit einschränkenden Freiheitsrechten um Hygienemaßnahmen wie das Tragen von Schutzmasken und die Versuche, Infektionsketten zu durchbrechen durch Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren.

Eine Linke, die sich auf den Staat fixiert, bleibt bürgerlich beschränkt. Egal ob sie sich als Staats-Linke in diesen hineinbegibt oder sie den „Souverän als Feind“[1] ausmacht. Sie bleibt politisch. Lauert hinter einer linken Staatskritik, in der der Staat zum automatischen Subjekt mit dem Telos autoritärer Herrschaft mutiert, versteckter Liberalismus und bürgerlicher Individualismus, also bürgerliche Formen der Selbstbestimmung?

Eine Linke, die sich aus guten Gründen in der Tradition der Arbeiter*innenbewegung verortet, wird menschliches Leben als wesentliches Freiheitsrecht verteidigen, sie wird sich auf die Perspektive der Arbeitenden in den Betrieben (Arbeitsschutz), aber auch gerade in den Einrichtungen des Gesundheitswesens, den Krankenhäusern etc. (Arbeitsbedingungen) einlassen. Sie wird auch – wie immer schon in der Geschichte – bürgerliche Freiheitsrechte vor autoritärem Zugriff verteidigen.

Eine im Marxschen Sinne kommunistische Perspektive analysiert die systematischen Mängel kapitalistischer Gesellschaften angesichts einer globalen Bedrohung der Menschheit durch eine Pandemie.[2] Sie kritisiert deren beschränkten Horizont, deren eingeschränkte Sicht- und Handlungsweise, die von ihr produzierten sozialen Ungleichheiten, ihre Praxis. Sie hat ‚Freiheit, Gleichheit, … Bentham‘ schon längst hinter sich gelassen. Aus dieser Perspektive heraus wäre auch das Handeln des Staates einzuschätzen, ohne die Tatsache zu übersehen, dass die politischen Verhältnisse nicht so sind, diesen unmittelbar aufzuheben, aber auch ohne die Perspektive aus dem Auge zu verlieren, dies zu tun.


[1] Kornelia Hafner: Anarchismus oder der Souverän als Feind. In: Archiv für die Geschichte der Arbeit und des Widerstandes, Nr. 14/1996, S. 283-309. https://docplayer.org/36687184-Kornelia-hafner-anarchismus-oder-der-souveraen-als-feind-eine-auseinandersetzung-mit-den-thesen-joachim-bruhns-zur-abschaffung-des-staates.html

[2] Dass Menschen Fledermäuse essen, muss hingegen nicht unbedingt etwas mit Kapitalismus oder Umweltschutz zu tun haben. Dass sich eine Infektion rasant global ausbreitet, hat ganz offensichtlich mit der sogen. Globalisierung zu tun, die an sich wiederum wohl kein Rückschritt in der Menschheitsgeschichte darstellt.