Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit

Joachim Hirsch

Dass das Verhalten der Linken (um hier diesen weiten Begriff zu verwenden) zur Regierungspolitik in der Corona-Krise ein ziemliches Desaster darstellt, wird allmählich – zwei Jahre nach deren Ausbruch – problematisiert. Wenn auch eher noch etwas vereinzelt. Es ist in der Tat erstaunlich, dass es von linker Seite zunächst einmal nur darum ging, sich an „Querdenkern“, „Verschwörungstheoretikern“ und Impfgegnern abzuarbeiten und zugleich die staatlichen Maßnahmen praktisch vorbehaltslos zu unterstützen, wenn nicht sogar als ungenügend zu kritisieren. Als hätte es nicht einmal eine elaborierte Kapitalismus- und Staatskritik gegeben. Ein Beispiel für die erwachte Debatte um linke Politik ist der von Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Anne Seek herausgegebene Band. Er enthält Beiträge aus einigen Diskussionsveranstaltungen, die zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 stattgefunden haben. Seine Besonderheit liegt darin, dass hier nicht nur Wissenschaftler*innen, sondern auch Journalist*innen und vor allem auch Aktivist*innen aus gesellschaftspolitischen Initiativen, nicht zuletzt aus dem Gesundheits- und Medizinbereich zu Wort kommen. Sie beschäftigen sich über die Linken-Kritik hinaus mit der Frage, wer von der Infektion und den darauf bezogenen Maßnahmen besonders betroffen ist, wer davon profitiert, wie Medizin politisch eingesetzt wird und wie eine sozialistische Politik in diesem Zusammenhang aussehen müsste.

Die Kritik an der Linken richtet sich im Kern auf eine Vernachlässigung des Klassencharakters der Epidemie, der dagegen getroffenen Maßnahmen und ihrer Folgen. So zum Beispiel, dass das Infektionsrisiko bei schlechten Wohn- und Unterbringungsverhältnissen, bei Wohnungslosen, Armen und sozial Ausgegrenzten deutlich höher ist als bei sozial Bessergestellten. Weitgehend unberücksichtigt blieb, wie sich die Corona-Politik auf die Arbeitsverhältnisse, die Familienstrukturen (Stärkung des Patriarchats, häusliche Gewalt), die Lage von Alleinerziehenden und Älteren auswirkt, wie Anne Seek schreibt. Das betrifft auch die starke Zunahme psychischer Erkrankungen. Im Gegensatz zum behaupteten Schutz „vulnerabler“ Gruppen blieb die Situation etwa in Alten- und Pflegeheimen lange Zeit ziemlich desolat. Auch die Auswirkungen von Schulschließungen und einer durch Corona vorangeriebenen Digitalisierung des Unterrichts auf die Lage und die Entwicklung der Kinder sowie die Bildungsinhalte blieb zumindest von der offiziellen Politik weitgehend unbeachtet. Gerhard Hanloser weist darauf hin, dass zu den gegen die staatlichen Maßnahmen Protestierenden auch vom sozialen Abstieg Bedrohte, Ausgegrenzte und den Institutionen der liberalen Demokratie Entfremdete und nicht nur einfach Querdenker, Verschwörungstheoretiker oder Esoteriker gehörten, was nicht nur von der Politik und den Medien, sondern auch von den Linken völlig vernachlässigt wurde und bis heute auch noch wird. Dies diente einer pauschalen Delegitimierung der Proteste mit der Konsequenz, dass die Rechtsradikalen dieses Feld praktisch ungehindert besetzen und die AfD sich als deren Interessenvertreterin profilieren konnte. Eine Ursache für dieses Versagen sieht er wie auch andere Autor*innen in einem Mittelschichtbias, dem praktischen Verschwinden einer außerparlamentarischen Linken und einer mit ihrer Parlamentarisierung verbundenen Staatsnähe. Statt in die von Staat und Medien geschürte Panik einzustimmen hätte deutlich gemacht werden sollen, dass Angst immer der Herrschaft dient, wie Andreas Benkert betont. Schließlich wird auf einen auffälligen Glauben an die Wissenschaft hingewiesen, als hätte es nicht einmal eine fundierte linke Wissenschaftskritik gegeben (Andreas Benkert, Elisabeth Voß). Was in diesem Zusammenhang noch hätte deutlicher gemacht werden können ist, dass Corona und die Corona-Politik zu einer deutlichen Verstärkung autoritärer Tendenzen im Staatsapparat geführt hat – früher auch ein zentrales linkes Thema.

Im Anschluss daran werden verschiedene Bereiche behandelt, die eigentlich Gegenstand der Kritik sein müssten. Das sind zunächst die Profiteure der Krise, wobei weniger die zahlreichen kleineren Geschäftemacher und Betrüger gemeint sind. Es geht um die Privatisierung des Gesundheitswesens, die nicht zuletzt zu Engpässen bei den Kapazitäten und vor allem bei dem schlecht bezahlten und überarbeiteten Personal geführt hat. Dass vor allem die Pharma-, Elektronik- und Medizingeräteindustrie, die großen Versandhäuser und die IT-Konzerne von der Krise und den dagegen getroffenen Maßnahmen profitiert haben, ist allgemein bekannt. Sie sind auch in der Lage, die durch die Überwachung gewonnen Daten für sich zu verwenden und sind Nutznießer des krisenverursachten Digitalisierungsschubs. Andreas Wulf verweist darauf, wie die Beibehaltung des Patentschutzes für Impfstoffe vor allem zu Lasten ärmerer Länder geht, die damit von Geschenken der Reichen abhängig werden. Dies zur Sicherung enormer Profite der mit den Regierungen kooperierenden Pharmaindustrie.

Besonders interessant in diesem Zusammenhang das von Gerhard Hanloser mit Detlef Hartmann geführte Interview. Dieser argumentiert, dass die Corona-Krise zur Inszenierung eines gesellschaftlichen Schocks dient, der zu einer tiefgreifenden Umwälzung der Lebensverhältnisse führt und damit die Voraussetzung für „eine endgültige Zerstörung der tradierten fordisisch/tayloristischen Arbeits- und Lebensformen und die Schöpfung eines neuen ökonomisch-sozialen Regimes in allen gesellschaftlichen Bereichen“ schafft (137). In der Tat hat die neoliberale Offensive der achtziger und neunziger Jahre nicht den gewünschten Erfolg, nämlich die Überwindung der säkularen kapitalistischen Krise gebracht. Die Corona-Krise könnte nun die Chance bieten, ein völlig neues Akkumulations- und Regulationsmodell zu installieren, mit einer neuen Industriestruktur, ausgewechselten Eliten, neuen Herrschaftsweisen und völlig veränderten Lebens- und Vergesellschaftungsformen.

In dem mit „Medizin ist politisch“ überschriebenen Teil des Buches wird untersucht, wie medizinische Daten und Informationen zu politischen Zwecken gebraucht und zurechtgebogen werden. Dabei wird mehrfach darauf hingewiesen, dass dabei kaum darüber informiert wird, welche Bevölkerungsgruppen besonders von der Infektion und ihren Folgen betroffen sind. Die Klassenlage also. Sehr interessant ist der recht schön mit „Malen mit Zahlen“ überschriebene Beitrag von Michael Kronawitter, der darstellt, wie medizinische Daten manipuliert werden. Dazu gehören zum Beispiel die Angaben über die Todeszahlen in Schweden, mit denen die Untauglichkeit der dortigen Corona-Politik nachgewiesen werden sollte und die auf falschen Vergleichen beruhte. Ebenso dass es keine verlässlichen empirischen Daten über den Zusammenhang von Infektionsverläufen und Maßnahmen gibt. Schließlich wird die Fragwürdigkeit der der Anti-Corona-Politik zugrunde gelegten Modellrechnungen diskutiert. Hintergrund ist das inzwischen recht bekannte Strategiepapier aus dem Bundesinnenministerium, das Verbreitung von Ängsten zum Mittel für eine Hinnahme Corona-Beschränkungen erklärt und auf dessen fragwürdige Entstehung hier näher eingegangen wird.

Der mit „soziale Kämpfe und Gegenwehr“ überschriebene Schlussteil des Buches wirkt etwas disparat. Die Beiträge wiederholen oft zuvor schon ausgeführte Argumentationen. Hervorzuheben ist hier der Text von Alex Demirovic, der in Bezug auf die Corona-Politik betont, dass realistischerweise von der andauernden Existenz des Virus (und wahrscheinlich weiterer) ausgegangen werden muss und vor allem dafür Vorsorge getroffen werden müsse. Dem stehe indessen die kapitalistische Organisation der Produktion und insbesondere des Gesundheitswesens, insbesondere Privatisierungen und Sparpolitik diametral entgegen. Dagegen komme es darauf an, der politischen Beteiligung der Menschen größeren Raum zu geben.

Der Band macht insgesamt deutlich, was die Dimensionen einer linken Kritik an der Corona-Politik sein müssten. Anerkennenswert ist, dass in den Beiträgen durchaus unterschiedliche Einschätzungen und Positionen zu Wort kommen. So enthält der neben der von einigen Autor*innen geäußerten Kritik an der sich selbst als links bezeichnenden „Zero-Covid“-Initiative auch einen Beitrag, der diese verteidigt. Insgesamt sind die abgedruckten Texte von recht unterschiedlicher Qualität, was sicher mit der Art ihres Zustandekommens zusammenhängt. Es ist aber auf jeden Fall sehr empfehlenswert, das Buch zur Kenntnis zu nehmen.

Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seek (Hg.): Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG Spak Bücher, Neu-Ulm 2021, 19 Euro, 239 Seiten.