Soziale Kämpfe in der Pandemie

Peter Nowak*

„Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Verachtung der Armen so salonfähig wie in der aktuellen Pandemie“, schreibt der Publizist Christian Baron in einem Beitrag für die Wochenzeitung Freitag 48/2021.

Doch wie passt ein solcher Befund damit zusammen, dass wohl kaum in der Geschichte der Bundesrepublik so oft das Wort Solidarität auch von Politiker*innen aller Parteien verwendet wurde, wie in Pandemiezeiten? Mit dieser Frage beschäftigt sich der im Mandelbaum-Verlag erschienene Sammelband „Corona und Gesellschaft“. Herausgegeben wurde er von einem Kreis von Sozialwissenschaftler*innen, die sich mit Beginn des Lockdowns im März 2020 zusammenfanden, um die neue Normalität zu untersuchen. „Die Sozialverhältnisse wurden und werden in der Pandemie neuverhandelt. Mit dem vorliegenden Band sollen die Ambivalenzen und Widersprüche beleuchtet werden, die in der Konstituierung einer neuen Normalität entstehen“ (S. 18), heißt es in der Einleitung.

Es ist eine Mischung aus wissenschaftlichen und aktivistischen Beiträgen. Daran mitgewirkt haben verschiedene emanzipatorische Zusammenschlüsse von Wissenschaftler*innen, darunter die Assoziation für Kritische Gesellschaftsforschung (AkG), das Institut für Protest- und Bewegungsforschung und das Netzwerk Kritische Bewegungsforschung. Die 16 Aufsätze sind überwiegend auch für wissenschaftliche Laien verständlich verfasst und regen zu Diskussionen an.

Neoliberale Solidarität

 In der Einleitung gehen die Herausgeber*innen auf eine Lesart der Solidarität ein, die die einzelnen Individuen und nicht die Gesellschaft in die Pflicht nimmt.

 Im ersten Kapitel untersuchen 4 Wissenschaftler*innen die Umbrüche in Zeiten der Pandemie und ziehen dabei auch einen Zusammenhang zur Klimakrise. Tanja Carstensen und Stefanie Hürtgen widmen sich dann der Stellenwert der Lohnarbeit in der Coronakrise. Hürtgen beschäftigt sich mit der Aufwertung der Sorge- und Pflegearbeit unter Pandemiebedingungen und kommt zu dem Fazit: „Allerdings ist in der Tat ein Paradigmenwechsel angezeigt, wenn wir die Klassenauseinandersetzungen mit der emanzipatorischen Neugestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse zusammenbringen wollen (S.88). Hürtgen entwirft die Utopie einer „grundlegenden Neuorientierung der gesellschaftlichen (Re)Produktion in den Formen der freien Assoziation der Produzent*innen“ (ebenda).

 In einem eigenen Kapital werden die Kämpfe um Migration und das Grenzregime in Pandemiezeiten behandelt. Dort stellt der Sozialwissenschaftler Nikolai Huke Konflikte in Geflüchteteneinrichtungen unter Corona vor. „Trotz der subalternen Position, in der sich Asylsuchende befinden und der repressiven Strukturen, denen sie gegenüberstehen, kam es zu vielfältigen Protesten gegen die Bedingungen in den Flüchtlingsunterkünften“ (S.120), so sein Fazit.  Peter Birke und Louise Bäckermann zeigen am Beispiel von Göttingen und Berlin auf, wie 2020 Gebäude, in denen überwiegend einkommensarme Menschen lebten, als Corona-Hotspots isoliert wurden und untersuchen die sehr unterschiedliche gesellschaftliche Reaktionen in beiden Städten. Mit den rechtsoffenen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen befassen sich zwei weitere Aufsätze. Steven Hummel und Paul Zschocke gehen dabei auf die Entwicklung der maßnahmekritischen Proteste in Leipzig ein und zeigen, wie in der zweiten Phase dort immer mehr rechte Akteur*innen auftraten. Sie beriefen sich dabei auf die Entwicklungen in Leipzig im Herbst 1989, sicher nicht zu Unrecht. Denn auch damals ging die von Rechten aus Westdeutschland unterstützte Nationalisierung und Faschisierung der Proteste der DDR-Opposition von Leipzig aus. Dabei betonen Hummel und Zschocke, dass in Leipzig die Corona-Proteste von Anfang klar rechtsoffen waren.

„Verschwörungstheorien, Antisemitismus, Geschichsrevisionismus, eine fehlende Abgrenzung nach Rechts sowie eine spätestens nach 2021 dominante Reichsbürgerpropaganda sind jedenfalls von Beginn an Bestandteile der Proteste“ (S. 219).

Nachbarschaftliche Solidarität in Zeiten der Pandemie

Im letzten Kapitel unter der Überschrift „Solidarität in Pandemischen Zeiten“befasst sich der Sozialwissenschaftler Leon Roser Reichle mit verschiedenen Aktionen von nachbarschaftlicher Solidarität im Leipziger Osten zu Beginn des Lockdowns. Er unterscheidet drei Arten von Solidarität: als moralische Verpflichtung ohne gesellschaftskritische Komponente, als politische Praxis, oft in enger Kooperation mit der offiziellen Politik und Solidarität als Teil einer Selbstorganisierung von unten, die die Gesellschaft verändert soll. Vor allem linke Stadtgruppen setzten auf die dritte Form. Aber auch in linken Initiativen finden sich die unterschiedlichen Formen von Solidarität oft unvermittelt nebeneinander. Es lohnt sich also genauer hinzuschauen, wenn in Pandemiezeiten so viel von Solidarität geredet wird. „Der vielzitierte Brennglas-Effekt der Pandemie verdeutlichte jedoch sogleich, dass gesellschaftliche Spaltungen nicht vor nachbarschaftlichen Solidaritätsbemühungen haltmachen“ (S. 235), so das Fazit von Reichle.

Die Beiträge werfen ein Schlaglicht auf soziale Kämpfe aber auch auf Ausgrenzung und Ausbeutung in Pandemiezeiten. Die Lektüre des gut lesbaren Buches ist gerade in Zeit zu empfehlen, wo plötzlich niemand mehr etwas von Corona hören will. Man braucht gar nicht zu spekulieren, ob es im Herbst wieder zu hohen Inzidenzen mit erneuten Einschränkungen kommt. Sicher ist, dass die nächste Krise kommt, sei es eine Pandemie, eine Unwetterkatastrophe oder ein kriegerisches Ereignis. Da könnten das Leben und Überleben in der Pandemie eine Blaupause für weitere Notstände sein. Es ist notwendig, dass sich die gesellschaftliche Linke damit auseinandersetzt. Das Buch liefert dafür gutes Material zum Nachdenken und Weiterdiskutieren.

Redaktion Corona-Monitor (Hg.) (2021):Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie. Wien: Mandelbaum-Verlag. 280 Seiten. 18 Euro, ISBN: 978-3.85-476-911-8.

*Der Autor arbeitet als freier Journalist für verschiedene Tages-, Wochen- und Onlinezeitungen. Seine Texte sind dokumentiert unter https://peter-nowak-journalist.de