Krise der Demokratie – welche Krise?

Joachim Hirsch

Wenn ich mich richtig erinnere, hat der Schriftsteller und Nobelpreisträger Vargas Llosa den Begriff „sanfter Totalitarismus“ oder „sanfte Diktatur“ gebraucht. Er bezeichnete damit die faktische Alleinherrschaft der „Partei der institutionalisierten Revolution“ (PRI) in Mexiko – formal durch demokratische Wahlen an der Macht, diese aber durch eine durchgängige Kontrolle aller Sphären dessen sichernd, was man als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Dazu gehörten folgsame Medien wie auch die Bedienung einer weitverzweigten Klientel, wofür aus den Öleinnahmen damals noch genügend Mittel bereitstanden. Man könnte diese Begriffe in einer gewissen Weise auch auf die aktuellen Zustände hierzulande beziehen – wenn sie nicht von rechtsradikalen Ideologen zur Diffamierung demokratischer Institutionen und Verfahren gebraucht würden. Die Verhältnisse hierzulande – und vergleichbarer liberaler Demokratien – sind allerdings zunächst einmal anders. Es gibt ein eher offenes Parteiensystem, aber zugleich spielen staatlich organisierte Überwachung und Kontrolle eine zunehmende Rolle. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass die Zivilgesellschaft selbst der Ort ist, von dem aus sich undemokratische Strukturen und Verhältnisse ausbreiten.

Heutzutage ist oft von einer Krise der Demokratie die Rede. Gemeint damit ist vor allem das schwindende Vertrauen breiter Teile der Bevölkerung in die politischen Institutionen und das Aufkommen autoritär-populistischer und rechtsradikaler Parteien, Gruppierungen und Organisationen. Dabei wird indessen übersehen, dass sich die liberale Demokratie eigentlich in einer permanenten Krise befindet. Der wesentliche Grund dafür ist, dass sie einerseits „Volkssouveränität“ proklamiert und gleichzeitig wesentliche gesellschaftliche Entscheidungen kaum beeinflussbaren privaten Kapitaleignern überlässt. Diese Krise hat sich allerdings in jüngster Zeit erheblich verschärft und ich argumentiere hier, dass das mit einer Entwicklung zu tun hat, die durch einen radikalen Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit und der zivilgesellschaftlichen Verhältnisse gekennzeichnet ist. Ich nenne dazu zwei Beispiele: die Corona-Politik der Regierung und den Ukraine-Krieg. Es gibt noch genügend andere.

Die Regierung stand in der Corona-Krise angesichts der gemeldeten und in allen Medien präsentierten Todesfälle in anderen Ländern unter erheblichem Handlungsdruck. Und dies, ohne ausreichende Informationen über die Gefährlichkeit des Virus und seine Verbreitungswege zu verfügen. Sie entschloss sich zu drastischen Maßnahmen, schließlich zu einem umfassenden Lockdown, mit dem grundlegende Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt und wesentliche Verfassungsgrundsätze aufgehoben wurden. Basis dafür war das mehrfach novellierte Infektionsschutzgesetz, mit dem eine Art Notstandsverfassung mit extensiven Exekutivbefugnissen etabliert wurde. Um für diese zweifellos unpopulären Maßnahmen Akzeptanz zu gewinnen, wurden systematisch Ängste geweckt und geschürt (siehe dazu inzwischen häufiger zitierte Strategiepapier des Innenministeriums). Der Tenor war: wenn das Leben aller unmittelbar bedroht ist, sind alle denkbaren Maßnahmen gerechtfertigt.

Einen entscheidenden Akzent erhielt diese Entwicklung durch den damit einsetzenden Medienmechanismus. Fast alle Medien, einschließlich der öffentlich-rechtlichen (man erinnere sich nur an die permanenten Extrasendungen der ARD) und nicht zuletzt auch die sich als „Qualitätszeitungen“ bezeichnenden gingen zu einer Berichterstattung über, die man durchaus als Panikmache bezeichnen kann. D.h. die Verbreitung von Ängsten ohne zu berücksichtigen, wer eigentlich wie von einem Krankheitsrisiko betroffen war und warum sowie praktisch ohne Hinweis darauf, dass ein wesentliches gesellschaftliches Risko in der mangelhaften Ausstattung des nach jahrelanger Sparpolitik ausgedünnten Gesundheitssystem bestand. Kritische Stimmen, die sich mit den faktischen Verfassungsverletzungen beschäftigten oder sich mit der grundgesetzlich gebotenen, aber fehlenden Abwägung zwischen Zweck und Wirkung der getroffenen Maßnahmen, also ihrer Verhältnismäßigkeit beschäftigten, waren kaum zu hören. Einzelfälle wie Heribert Prantl, der in der Süddeutschen Zeitung davor warnte, dass das Virus drohe, den Rechtsstaat zu infizieren, gingen im Allgemeinen und auch von seiner eigenen Zeitung losgetretenen Mediengetöse unter. Tendenziell wurden kritische Stimmen dem Lager der rechtsradialen oder esoterischen „Querdenker“ zugeordnet und damit in die Nähe von Verfassungsfeindlichkeit gerückt. Eine Kritik an dem mit der Corona-Krise eingeleiteten Ausbau der staatlichen Kontroll- und Überwachungsapparatur fand praktisch nicht statt.

Man könnte dies einer einmaligen und nicht wiederholbaren Situation zuschreiben. Dem ist jedoch nicht so. Einmal ist damit zu rechnen, dass die Folgen der Corona-Politik nachhaltige Wirkungen auf das allgemeine Bewusstsein und das Demokratieverständnis haben werden. Immerhin wurde deutlich gemacht, dass zentrale demokratische Verfassungsrechte grundsätzlich unter Notstandsvorbehalt stehen. Zum anderen bleibt das Infektionsschutzgesetz mit seinen Ermächtigungen bestehen, was nicht zuletzt deshalb wichtig ist, weil sogenannte Experten ständig weitere Epidemien ankündigen.

Die Situation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war anders. Es gab keinen Informationsmangel wie anfänglich in der Corona-Krise. Hier ging es darum, die Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen und ein massives Aufrüstungsprogramm zu legitimieren. Neuer ist die Tendenz zur Moralisierung der Politik, die suggeriert, es kämpfe das Gute (das sind natürlich wir, der „Westen“ gegen das Böse, d.h. die Russen). Es gehe um die Vereidigung von Freiheit und Demokratie – ungeachtet des demokratisch etwas fragwürdigen Charakters des ukrainischen Regimes. Immerhin zählt es zu den korruptesten der Welt und steht auf der entsprechenden Rankingliste nur knapp vor dem russischen. Präsident Selenski hat entgegen seiner Versprechungen nie etwas dagegen unternommen, was wohl damit zusammenhängt, dass die ukrainischen Oligarchen eine wesentliche Stütze seiner Regierung bilden. Was sich in den Medien vollzieht, ist ungeachtet dieser Umstände einfach Kriegsberichterstattung, und bekanntlich stirbt im Krieg die Wahrheit zuerst. Es geht darum, die (nicht ohne Grund) „kriegsmüde“ Bevölkerung aufzurütteln und von der Unumgänglichkeit der damit verbundenen Opfer zu überzeugen.

Den Russen, oder wie es in der Regel heißt: Putin, wird eine imperialistische Strategie vorgeworfen. Das ist nicht falsch, aber die Medaille hat zwei Seiten: es handelt sich um einen geopolitischen Konflikt, bei dem es um Einflusszonen und globale Machtverhältnisse geht. Dabei wird verschwiegen, dass ein wesentlicher Hintergrund des Konflikts in der seit 1989 in Gang gesetzten Osterweiterung der NATO besteht, und die USA, gefolgt von den sich jetzt wieder fest hinter ihnen versammelten Verbündeten das Ziel haben, Russland wenn nicht zu besiegen, so doch entscheidend zu schwächen. Im Hintergrund steht dabei der sich verschärfende Konflikt mit China. Eine globale militärische Auseinandersetzung um die Weltherrschaft kommt allmählich wieder auf der Tagesordnung. Ob Kanzler Scholz dies gemeint hat, als er von einer „Zeitenwende“ sprach? Möglicherweise hat Putin mit seinem Angriff genau dieser Strategie in die Hände gespielt, sollte dieser am Ende eine nachhaltige militärische und ökonomische Schwächung seines Landes nach sich ziehen. Jedenfalls handelt es sich im Fall der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg. Wobei die NATO immer direkter interveniert.

All dies spielt in der öffentlichen Berichterstattung keine Rolle. Die geopolitischen Strategien und Zusammenhänge zu nennen beinhaltet das Risiko, als „Putin-Versteher“ und als Feind „westlicher Werte“ diffamiert zu werden. (Dabei ist der Wortgebrauch hier besonders erhellend: „verstehen“ heißt ja nicht billigen oder rechtfertigen, sondern Interessen, Motive und Zusammenhänge aufdecken: Analyse also. Also das, was Politiker*innen und Journalist*innen eigentlich tun sollten. Und eben diese soll es wohl nicht geben). Dies eint praktisch alle Parteien und beherrscht die öffentliche Berichterstattung und Diskussion.

Um diese Entwicklung zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf den seit einigen Jahren sich vollziehenden radikalen Strukturwandels der Öffentlichkeit und die Rolle, die kritische Intellektuelle in ihr spielen, also auf das, was von der unabhängigen „Zivilgesellschaft“ als einer zentrale Säule einer funktionierenden Demokratie erwartet wird. In Bezug auf die Medien wird in kritischen Kommentaren gelegentlich von „Gleichschaltung“ geredet. Dieser Eindruck liegt nahe, trifft die Sache aber nicht richtig. Hier „schaltet“ niemand, auch nicht der Staat. Wenn überhaupt, dann liegt eine Art „Selbstgleichschaltung“ vor, bei der es nicht eigentlich um spezifische Inhalte, sondern um ökonomische Kalküle und Konkurrenzmechanismen geht. Dies hängt sehr stark mit der Digitalisierung des Kommunikationssektors zusammen, insbesondere mit dem Aufkommen der sogenannten „sozialen Medien“, die als Kommunikationsplattformen eine völlig neue Form von Öffentlichkeit schaffen, bei der Informationen und Desinformationen jeglicher Art ohne Filter die Welt umkreisen, wobei die Grenze zwischen Privat und Öffentlich verschwimmt und gegeneinander abgeschottete Öffentlichkeiten als selbstreferentielle Echoräume entstehen. Dies hat nicht nur zu einer bemerkenswerten Fragmentierung der Öffentlichkeit geführt. Die Entwicklung hat auch einen starken Auflagenrückgang bei den Zeitungen nach sich gezogen und Sparmaßnahmen erzwungen, die zu Lasten der journalistischen Qualität gehen. Das beeinträchtigt ihre Fähigkeit zu professioneller Überprüfung und Recherche. In der Konkurrenz mit den vor allem auf Skandalisierung und Aufregungserzeugung ausgerichteten „Öffentlichkeiten“ der sozialen Medien wird „Aufmerksamkeitsmanagement“, wie Jürgen Habermas das nennt, zur journalistischen Richtschnur. Das gilt in gewisser Weise auch für Radio und Fernsehen, die im Kampf um Quoten ähnlichen Konkurrenzmechanismen ausgesetzt sind. Professionelle Recherche, kontroverse Diskussion und Hintergrundanalyse bleiben dabei auf der Strecke. Wenn es um Aufmerksamkeitserregung geht, passen Bilder von zerstörten Häusern, weinenden Ukrainerinnen oder Lastwagen voller Coronatoten eben viel besser als Hintergründe, genaues Hinsehen und Analyse.

Wichtiger Bestandteil einer demokratischen Zivilgesellschaft sind neben den Medien kritische Intellektuelle, die sich einmischen, Herrschaftsverhältnisse hinterfragen und unabhängige Positionen in die Debatte einbringen. In den beiden hier untersuchten Fällen war davon praktisch nicht nichts mehr zu spüren. In der Corona-Krise wurden die Regierungsmaßnahmen weitgehend vorbehaltslos unterstützt, gelegentlich sogar noch deren Verschärfung gefordert. Bemerkenswerterweise haben sogar einige Antifa-Gruppen sich in diesem Sinne geäußert. Kritik wurde damit den Rechtsradikalen und „Querdenkern“ überlassen, was deren Zusammenhängen und Milieus weiteren Auftrieb gab. Offenbar ist in weiten Kreisen Herrschaftskritik einer merkwürdigen Staatsgläubigkeit gewichen. Dabei wird deutlich, dass Staatskritik, d.h. die Erkenntnis, dass der bestehende Staat einen Bestandteil des kapitalistischen Herrschaftsapparats darstellt in linken Diskussionen heutzutage kaum mehr eine Rolle spielt. Er wird als neutrales Instrument wahrgenommen, an das Forderungen gestellt oder dessen mangelhaftes Funktionieren gegebenenfalls kritisiert wird, ohne die dahinterstehenden Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. Möglicherweise hat hier auch die inszenierte Panikmache ihre Früchte getragen, etwa nach dem Hobbes`schen Diktum, dass wenn es um den puren Schutz des Lebens und die physische Existenz geht, alle Rechte dem Souverän abgetreten werden müssen.

Auch im Ukraine-Krieg war von dieser Seite im Wesentlichen die Forderung nach uneingeschränkten Waffenlieferungen bis hin zum direkten Eingreifen der NATO zu vernehmen – Kriegspropaganda also, die den Hardlinern in den Regierungsparteien, etwa Strack-Zimmermann von der FDP oder dem früher als links bezeichneten Hofreiter von den GRÜNEN in die Hände spielte. Gab es ehemals eine Kritik am „militärisch-industriellen Komplex“ oder galt der Slogan „Soldaten sind Mörder“, ging es nun um Flugverbotszonen und Panzerlieferungen. Außenministerin Baerbock ließ sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, Waffenlieferungen würden Menschenleben retten – auch hier ohne jeden kritischen Kommentar.

Das hat allerdings eine gewisse Tradition, man denke nur an den Irak- oder den Balkankrieg. Auch da gab es auf Seiten der Linken bereits die sogenannte „Stahlhelmfraktion“, die die Lüge über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen mit verbreitete, um den Irakkrieg zu legitimieren. Wahrscheinlich hat dies auch mit einer gewissen Orientierungslosigkeit zu tun, die sich nach 1989 und dem scheinbar endgültigen Sieg des Kapitalismus ausbreitete. Offenbar gilt der Glaube, es gehe im Ukraine-Krieg um „westliche Werte“ und Menschenrechte und nicht um Machtkalküle und geopolitische Strategien. Auch hier scheint die Moralisierung von Politik ihre Wirkung zu tun. (Naive) Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik im Sinne von Max Weber also. Vereinzelte kritische Stellungnahmen wie die von Jürgen Habermas, der (in der Süddeutschen Zeitung vom 29.4.2022) vor dieser Haltung warnte und für mehr analytische Distanz und realpolitische Vernunft plädierte, verhallten ungehört. Zweifellos gibt es immer noch kritische Stimmen, aber sie erscheinen eher am Rande und gehen im allgemeinen Mediengetöse unter. Natürlich herrscht formell Meinungsfreiheit, aber eben unter den Bedingungen der neuen Struktur, die die Öffentlichkeit angenommen hat. Insbesondere von prominenten Intellektuellen, die sich ansonsten gerne kritisch äußern ist – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – nichts mehr zu hören.

Ähnliches in der Corona-Krise: Da wurde von linker Seite für die Registrierung auf der Corona-App geworben, als hätte es nie eine Kritik an der Pharmaindustrie oder am Überwachungsstaat gegeben. Dieser scheint überhaupt kein Thema mehr zu sein. Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Attac oder vor allem die Tatsache, dass die Fridays for Future inzwischen von einigen Verfassungsschutzämtern überwacht werden, lohnt offenbar die Erregung nicht – obwohl dies nun wirklich Angriffe auf die „Zivilgesellschaft“ sind.

Wenn die Demokratie in der Krise ist, dann weniger durch eine Bedrohung von außen, sondern durch innere Zerfallserscheinungen. Dazu gehört nicht nur das immer weitere Auseinanderfallen der Gesellschaft und die damit verbundene politische Polarisierung, die eine Folge der jahrzehntelangen neoliberalen Politik ist und gegen die von Seiten der herrschenden Parteien nichts unternommen wird. Ganz entscheidend sind die zivilgesellschaftlichen Zerfallserscheinungen. Ohne eine kritische Öffentlichkeit wird die liberale Demokratie zur bloßen Formalie und verliert ihre Legitimität. Was auch neuere Umfragen bestätigen. Danach hat das allgemeine Vertrauen in die ´demokratischen Institutionen inzwischen einen Tiefpunkt erreicht. Wenn Öffentlichkeit sich aus sich heraus zu einer Herrschaftsdiskurse pflegenden Propagandamaschinerie entwickelt, bedarf es gar nicht mehr der justiziellen Verfolgung Andersdenkender und auch keiner offenen staatlichen Zensur. Es herrscht dann tatsächlich so etwas wie ein „sanfter Totalitarismus“.

Vgl. dazu Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin: Suhrkamp 2022 und die Rezension dazu auf dieser Seite. Sowie: Klaus Weber: Propaganda der „echten Solidarität“, in „express“, Nr.10, 2022.