Haushalte als soziale Infrastruktur zum „Betreiben eines eigenen Lebens“. Welche soziale Infrastruktur schafft und braucht Arbeit am Sozialen?

Ellen Bareis und Helga Cremer-Schäfer

Die Bezeichnung „Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur für das Betreiben eines eigenen Lebens“ formulierte Heinz Steinert, um die Logik des 2003 des von der AG links-netz formulierten Vorschlags „Sozialpolitik als allgemein zugängliche Infrastruktur“, auf einen Begriff zu bringen.[1] Eine von Lohnarbeit unabhängige soziale Infrastruktur für das Betreiben eines eigenen Lebens würde die in einer Lebensweise notwendigen „Mittel des Lebens“ (die Ressourcen der Re-Produktionsarbeit) für die Leute zugänglicher/ brauchbarer/ nutzbarer bereitstellen, als „real existierende Sozial-staatlichkeit“ dies leistet. (Vgl. Steinert 2005: 57) Die lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik nannte Steinert „soziale Infrastruktur nach den Bedürfnissen des Kapitals“. Lohnarbeit reproduziere „sich nur unter der Bedingung einer Infrastruktur von gesellschaftlichen Beziehungen und Arrangements nicht warenförmiger Art. Wenn das stimmt, kann sich das kapitalistische Organisationsprinzip grundsätzlich nicht exklusiv durchsetzen, muss es [das Nicht-Warenförmige] als Bedingung seines eigenen Funktionierens zumindest zulassen, eventuell suchen, notfalls sogar selbst herstellen. Der Ort, an dem das geschieht, ist der Haushalt in der heute durchgesetzten Form die Kleinfamilie, als Organisation der nicht-warenförmigen Reproduktions- und Hausarbeit, die das notwendige Komplement zur Lohnarbeit darstellt.“ (Steinert 1989: 623) Phänomene, die in der Soziologie als „Subkultur“ diskutiert wurden und sich gerade nicht nach dem Prinzip der Kleinfamilie gegen herrschaftliche Zumutungen (selbst)organisieren, wären konsequenterweise zu diesem Orten zu rechnen. „Phänomene, die wir mit ‚Subkultur‘ benennen, gehören ebenfalls dazu.“ (Ebd.) Was öffentliche Infrastruktur als „Mittel des Lebens“ (technisch gesprochen als „Ressourcen“) bereitstellt, muss sich nach dem Konzept von links-netz inhaltlich dadurch ausweisen, dass es dem „Betreiben des eigenen Lebens“ der Leute dient und nicht von den einzelnen Haushalten und Betrieben hergestellt werden kann (oder jedenfalls nur mit viel höheren „Gesamt-Kosten“ als wenn es öffentlich geschieht). Ein weiteres Kriterium wäre, dass potentiell alle eine bestimmte Leistung in schwierigen Situationen brauchen können, weil alle bestimmte Lebenslauf-Situationen erleben (Kindheit, Jugend, Alter), oder durch ihre Körperlichkeit (behindert, krank, pflegebedürftig), lebensphasenweise oder dauerhaft auf Unterstützung angewiesen sind, in Haushalts-Konstellationen leben, die sich vom unterstellten „Normal-Haushaltsmodell“ unterscheiden und vorherrschend als „abweichend“ oder „besonders“ bestimmt werden (alleinlebend, als Haushalt mit viele Kinder, mit Pflegebedürftigen, herumziehend) oder sie sind das Ergebnis von staatlichen Diskriminierungen (Ausländerstatus, Geflüchtete, Paria-Bevölkerung, Illegalisierte, Vorbestrafte).

Es geht bei „Mitteln des Lebens“ einerseits um Existenzielles und Banales: Luft zum Atmen, Wasser, Nahrungsmittel, ein Dach über dem Kopf, Schutz vor Krankheit und Verletzung, Kleidung, Heizung und gegenseitige Hilfe in Zwangs- und Notsituationen. Andererseits geht es um Transformationen institutionalisierter öffentlicher Infrastruktur in eine Infrastruktur, die nicht von Betrieben (und Genossenschaften) und auch nicht von Individuen und den Haushaltsformen, in denen sie leben, alleine hergestellt werden kann, um Grundbedürfnisse wie Möglichkeiten der Selbstbildung, Teilnahme an der Entwicklung von Produktivkraft, Möglichkeiten für soziale Erfindungen zu realisieren; hoch gegriffen: um Möglichkeiten von „Fortschritt“ und „Befreiung“: also Wege der Verwirklichung eines eigenen Selbst unter der Bedingung kapitalistischer Produktionsweise und (institutionalisierter) Herrschaft durch Verdinglichung auszuweiten. Wir denken im Folgenden weiter über das nicht unkomplizierte (Vermittlungs-)Verhältnis von öffentlicher Sozialer Infrastruktur und dem Haushalt nach, als ein „subkulturelles Phänomen“, das sich gerade nicht nach dem Prinzip der Kleinfamilie gegen herrschaftliche Zumutungen organisiert und öffentlich bereit gestellte Ressourcen als Mittel zum „Betreiben eines eigenen Lebens“ in Gebrauch nimmt – soweit die Verhältnisse es zulassen. Wir knüpfen dabei an unseren Beitrag in dem Buch Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur, hrsg. von der AG links-netz (Hirsch/Brüchert/Krampe et al. 2013).[2]

Haushalte als Teil Sozialer Infrastruktur „zum Betreiben eines eigenen Lebens“

Die Individualisierungs- und die Subsidiaritäts- bzw. Familiarisierungslogik der sozialstaatlichen Form sozialer Infrastruktur „nach den Bedürfnissen des Kapitals“ wurde durch das neoliberale Programm der „Responsibilisierung“ noch einmal verstärkt. In der Kritik der Subsidiaritäts- und der Individualisierungslogik macht die Unterscheidung von Ebenen der Bereitstellung von Ressourcen (gesamtstaatliche Politik, lokale Politik, Betrieb, Haushalt und Individuum) Sinn. Die Herstellung und Garantie der sozialen Infrastruktur wären in der Tat nicht „vorschnell“ auf die Ebene des Haushalts und des Individuums zu verweisen. (Hirsch/Brüchert/Krampe et al. 2013: 58) Um dem eigen­ständigen Beitrag von Haushalten (als einem nicht-warenförmigen Zusammenschluss) sowohl zur realexistierenden lohnarbeitszentrierten wie dem Beitrag im Rahmen einer transformierten sozialen Infrastruktur zum Betreiben eines eigenen Lebens gerecht zu werden, haben wir (Bareis/Cremer-Schäfer 2013) im Rahmen der aktualisierende Diskussion des Vorschlags von links-netz betont, dass unter gegebenen Bedingungen sozialstaatlich bereitgestellter „Sicherheit“ der Haushalt der zentrale Ort ist, an dem Ressourcen für die Individuen aktiv, durch Reproduktionsarbeit nutzbar und zu „Mitteln des Lebens“ gemacht werden müssen — um überhaupt von einem „Gebrauchswert“ sozialer Dienstleistungen zu sprechen, selbst in metaphorischer Weise. Aus Alltagsforschung, den Mustern der „welfare policy from below“ und den „Arbeitsweisen am Sozialen“ haben wir gelernt: Einerseits greifen Haushalte (in der (sozial)politisch durchgesetzten Form des Familien-Haushalts) ganz selbstverständlich auf bereitgestellte Ressourcen der lohnarbeitsbezogenen Infrastruktur zurück. Doch erst im Prozess des In-Gebrauch-Nehmens von organisierter sozialer Sicherheit (verstanden als vorgehaltene Ressourcen der Bearbeitung schwieriger Situationen) entsteht eine soziale Infrastruktur auch „zum Betreiben eines eigenen Lebens“. Das trifft auch auf Transferleistungen zu. Aus Mustern dieser „Arbeitsweisen am Sozialen“ haben wir auch gelernt, dass mit der neoliberalen Transformation Chancen der Nutzbarmachung schwinden. [3] Unsere Schluss­folgerungen für Zukunft waren:

1/ Haushalte werden gegenwärtig und zukünftig gebraucht als Vermittlung zwischen Infrastruktur und den Möglichkeiten der Leute unter der Bedingung von jeder Form von Institutionalisierung ein „eigenes Leben zu betreiben“. Haushalte sind daher Teil der sozialen Infrastruktur zum Betreiben eines eigenen Lebens.

2/ Zu dem eigenständigen Beitrag von Haushalten als Teil der etablierten und transformierten sozialen Infrastruktur gehört, dass sie als ein selbstorganisierter Zusammenschluss gegründet und gewählt werden können. Es kann keine Verpflichtung geben, in einem Familien-Haushalt zu leben — schon gar nicht als Voraussetzung für einen Zugang zu „Mitteln des Lebens“. Vielmehr gehören Beschädigungen des Lebens und Konflikte um Lebensweisen, die sich aus mit der sozialen Institution Familie ergeben können, zu jenen „schwierigen Situationen“, deren Bearbeitung durch bereitgestellte Ressourcen ermöglicht werden muss. Auch daher braucht der Haushalt als selbstorganisierter Zusammenschluss eine entsprechende öffentliche soziale Infrastruktur.

Es sind die Haushalte, die „gleichsam in der Funktion von Anti-Institutionen“ an der Machtasymmetrie von institutionalisierten Konflikten arbeiten. Die Worte „gleichsam in der Funktion von Anti-Institutionen“ habe wir uns von Hans Thiersch geborgt. Eine „Alltagsorientierten Sozialpädagogik“ erinnerte er daran, dass „Institutionen zweideutig sind, ist altes Wissen der pädagogischen Tradition“. (Thiersch 1986: 182) Um den durch institutionalisierte Ordnungs- und Normalisierungsmächte und organisierte Ungleichheit entfremdeten Alltag in einen „gelingenderen Alltag“ zu umzuwandeln, schreibt Thiersch „[d]azu braucht es Institutionen, die, in der Funktion gleichsam von Anti-Institutionen einen beschützenden und strukturierten Raum dafür bieten, dass in ihnen Erfahrungen und Entwicklungschancen, wie sie im Alltag angelegt (oft aber verdeckt sind), dargestellt und entfaltet werden können.“ (Ebenda, Hervorhebung die Verf.). In Modifikation dieser schönen Stelle haben wir in unserem Beitrag „Haushalt und soziale Infrastruktur. Komplizierte Vermittlungen“ (Bareis/Cremer-Schäfer 2013) zu zeigen versucht, dass Haushalte die „Funktion von Anti-Institutionen“ bereits praktizieren und gar nicht so verdeckt und gar nicht so verkehrt, als dass wir nicht davon lernen können. Wir wissen aus Alltagsforschung, aus Institutionenforschung, die die Perspektive der Produktion des Sozialen from below aufgreifen, aus Nicht-Nutzungsforschung zu sozialen Dienst­leistungen „ex negativo“ eine ganze Menge über die notwendige und erbrachte haushaltspezifische „Arbeit am Sozialen“. Wir werden im Folgenden diesen Lernprozess als Ausgangspunkt nehmen um über die nichtfamiliäre Haushaltsform sprechen, über die Arbeitsweisen an diesem Ort als einem „singulären Schnittpunkt“, die Logik der Sorge-Beziehungen und die Bedeutung von Haushalten für die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur zum Betreiben eines eigenen Lebens.

Für den Prozess der Entwicklung einer „öffentlichen“, allgemein zugänglichen, nicht lohnarbeitszentrierten sozialen Infrastruktur haben wir festgehalten, dass diese von den Mustern der Ingebrauchnahme und Aneignung from below gedacht werden müsse, nicht nur von der Organisierung her. Das „nicht nur“ gilt allerdings auch für die Perspektive „von unten“. Aus den in einer spezifischen Phase der kapitalistischen Produktionsweise und der disziplinierten Lebensweise beobachteten Alltagspraktiken der Nutzbarmachung und Herstellung sozialer Infrastruktur am Ort des Haushalts, kann nicht unmittelbar ein verallgemeinerbares Bereitstellungsprinzip abgeleitet werden. Das wäre naiv. Im Haushalt, verstanden als „singulärer Schnittpunkt“, verschränken sich mit den Arbeitsformen, Einkommen und Beziehungen auch alle gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Insofern ist der Haushalt als ein durch Institutionen und Ungleichheit bestimmter und strukturierter „sozialer Ort“ zu fassen. Aber zugleich als ein Ort zu begreifen, an dem genau diese strukturelle „Zugewiesenheit“ umkämpft bleibt; und an dem sie wird bearbeitet.

Der Haushalt als „singulärer Schnittpunkt“ und „sozialer Ort“

Ein zentrales Argument von uns bleibt, Haushalt in Anlehnung an Doreen Massey (1994) als einen „Ort“ und „singulären Schnittpunkt“ zu fassen. Dies erlaubt es, quer zu den politisch-räumlich durchgesetzten Hierarchien zu denken: ein „singulärer Schnittpunkt“ verschiedener Arbeitsformen, multipler Einkommen, diverser Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückungsformen und sozialen Beziehungen. Orte bilden im Konzept von Massey „Blasen“ im Geflecht von gesellschaftlichen Beziehungen. In diesen Blasen überschneiden sich gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsbeziehungen; globale, nationalstaatliche, regionale Regierungstechnologien, persönliche Unterdrückungsverhältnisse und spezifische Eigenheiten und Eigensinnigkeiten bilden jeweils singuläre „Orte“ (places). Diese Orte sind nicht notwendigerweise physisch bzw. stofflich und sie sind auch nicht einem spezifischen Raum (space), sei es dem Lokalen oder gar Privaten) zugeordnet; sie sind in erster Linie Praktiken. Die Fokussierung von Praktiken ermöglicht es, das Herstellen von sozialer Infrastruktur anders als hierarchisch in Ebenen – vom Staat zum Individuum – zu denken.

Die Beziehungen, die Personen und die Arbeit in einem Haushalt tragen zumindest die Potenzialität von Freiwilligkeit in sich, auch wenn sich dies innerhalb der gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse kaum umstandslos behaupten lässt. Es sollte hier deutlich werden, dass Haushalt keineswegs mit dem Familienhaushalt gleichzusetzen ist. Eher schon als ein Ort, an den die Flucht aus Familien führen könnte. Auch wenn wir das „Anti-Institutionelle“ des Haushalts fokussierten, wollten wir vermeiden, die gegenseitigen paternalistischen Arbeits- und Gefühlsverpflichtungen, die Privatheit sowie die weder waren- noch bürokratieförmigen Machtbeziehungen im herrschenden Familienhaushalt schon für einen Kern von „reziproken“ und bedingungslos „solidarischen“ Beziehungen zwischen Ungleichen (und Abhängigen) zu halten.

Der Haushalt – Zur Form des Zusammenschlusses

Haushaltungen verstehen wir als sozialen Zusammenschluss, der zielorientiert über eine lange Zeitperiode Individuen verschiedenen Alters und Geschlechts in die Lage versetzt, Ressourcen (also notwendige „Mittel des Lebens“), die aus multiplen Quellen kommen, zusammenzuführen, um für individuelle und kollektive Reproduktion zu sorgen. Den Haushalt kennzeichnet, dass die sozialen Beziehungen unter Ansehen der konkreten Personen gestaltet werden (und nicht etwa nach Positionen, Funktionen, Standards, Äquivalenzen, Vorleistungen). Auch Alleinlebende oder in Wohngemeinschaften Lebende bilden eine Form des Haushalts, wenn sie auch meist nicht das Leben lang diese Form wählen bzw. nicht ohnehin einem (verwandten oder befreundeten oder benachbarten) Haushalt „assoziiert“ bleiben bzw. werden. Haushalte sind eine Arbeitsstätte, an der jedoch nach anderen Regeln Dienste erbracht werden als im warenproduzierenden Betrieb, anders als im bürokratisch organisierten Dienstleistungsbetrieb und anders als in einer Dienstleistungsanstalt (mit bekannten Tendenzen zur totalen Institution). Der Reproduktionsarbeit (als Praktiken im Haushalt) liegen die Regel der Reziprozität und das Prinzip „something for nothing“ zugrunde.

Der Haushalt — zu Praktiken und Formen der Reproduktionsarbeit

Im Haushalt schließen sich „Ungleiche“ zusammen. Die Mitglieder befinden sich stets, wenn auch in der Regel nicht gleichzeitig, in einer Situation der Abhängigkeit voneinander. Sie stehen vor Situationen, die dafür notwendigen mehr oder weniger gegenseitigen Dienste bereitstellen zu können und Sorgearbeit tun zu müssen — auch wenn sie es nach Lage der Dinge nicht können. Den Haushalt verstehen wir daher als Ort der Produktion sozialer Infrastruktur und der Konsumption von Ressourcen zum „Betreiben eines eigenen Lebens“. Zwei Grundformen sozialer Beziehung treffen aufeinander. Als wirtschaftlicher und sozialer Zusammenschluss hat die Arbeit in und von Haushalten einen Zweck: Personen mit verschiedenem Arbeits- und Beziehungsvermögen in die Lage zu versetzen, Ressourcen zusammenzuführen und zu produzieren, die die Mitglieder als Person für die Lebensweise als Individuum in Gesellschaft brauchen, um sich in einer herrschenden Produktions- und Lebensweise zu reproduzieren, die dieser Lebensweise entgegensteht. Zudem müssen die Grundlagen des Haushalts als Zusammenschluss von Ungleichen und Verschiedenen erhalten und entwickelt werden. Damit wird die Haushaltung der Ort von „erweiterter Reproduktion“, eine notwendige (wenn auch allein nicht hinreichende) Grundlage für das „Betreiben eines eigenen Lebens“.

Reproduktionsarbeit reduziert sich allgemein nicht auf die Herstellung der Funktionsfähigkeit und der Qualifikation der (Lohn-)Arbeitskraft, sondern wurde (in der Arbeitssoziologie) als allgemeiner Oberbegriff für alle Tätigkeiten von Menschen eingeführt, mittels derer sie sich gesellschaftliche Teilnahme organisieren. Anders als „Integration“ meint gesellschaftliche Teilnahme (wie zunächst als Gegenbegriff „Partizipation“) auch Möglichkeiten, sich in einer anderen als der herrschenden Arbeits- und Lebensweise entfalten können. Reproduktionsarbeit will durchaus eine Veränderung der Welt bezwecken – dies gilt in erster Linie für alltägliche Kämpfe.

Wir wissen alle welche Formen von Arbeit im Haushalt zu leisten sind:

  • die alltägliche, banale, aber zeit- und kraftaufwendige Haus- und Eigenarbeit (Waschen, Kochen, Putzen, Einkaufen, Reparieren, Geld verwalten, Planen, Erziehen, gegenseitiges Disziplinieren, füreinander Sorge tragen etc. pp.).
  • Weniger beachtet wird die Umwandlung von Waren und von bürokratieförmig bzw. expertokratisch angebotenen sozialen Dienstleistungen in Ressourcen für das Betreiben eines eigenen Lebens; unser Begriff dafür wurde „Nutzbarmachung“ der etablierten sozialstaatlichen Wohlfahrt. In Banalitäten des Alltags ausgedrückt: Bearbeitung der administrativen Anforderungen, Pflichten und Blockierungen: Anträge, Steuer­erklärungen, Versicherungsbürokratien etc.
  • Hinzu kommt das mehr oder weniger bedingungslose bzw. parteiliche zur Verfügung halten von „guten Diensten“; — für das Überstehen von Lebenskatastrophen, die Bearbeitung von Zwangs-, Not- und Ausschließungssituationen (Einspringen, eigene Pläne umwerfen, mit Geld aushelfen, mit Tipps und Alltagsexpertise die zuvor genannte Arbeit ermöglichen etc.) und schließlich
  • die nur begrenzt „gegenseitig“ leistbare Arbeit der Betreuung und Versorgung von Haushaltmitgliedern, die sich temporär oder dauerhaft in einer extremen (doch nicht seltenen) Situation der „Abhängigkeit“ befinden. Dazu gehört auch die (solidarische) Bereitschaft den Haushalt für „Assoziierte“ zu öffnen.

Die „kritische Alltagsforschung“ zu bornierter und findiger Arbeit am Sozialen war für uns lehrreich, weil sie gezeigt hat, dass in Situationen der Abhängigkeit (und wer kommt in seinem Leben nicht einmal in eine solche Situation) der Haushalt auch als zentraler soziale Ort der Herstellung sozialer Infrastruktur zu begreifen ist. Dies vor allem, weil Arbeit an und in dieser Situation nicht in waren- oder bürokratieförmig organisierte Einrichtungen („Anstalts-Haushalte“) verlagert werden kann. Schwierige Situationen, wie die der Abhängigkeit, die von Ausschließung oder Stigmatisierung brauchen Praktiken in der Art von „Anti-Institutionen“. Manche Situationen brauchen sogar die Suspendierung von Reziprozität; sie brauchen Dienste, die nach dem Prinzip „something for nothing“ zur Verfügung gestellt werden. Unser Thema im Folgenden.

Gegenseitigkeit in der Reproduktionsarbeit

Gegenseitigkeit, „Reziprozität“ im Haushalt heißt, alle produzieren und konsumieren, alle tragen für etwas und jemanden Sorge. Im Haushalt wird Reziprozität aber nicht als Vorbedingung für Sozialleistungen definiert oder mit einer künftigen Verpflichtung zu „Normalität“ verknüpft. Reziprozität ist als „Routinegrundlage“ von Interaktion zu verstehen; denn Reproproduktionsarbeit ist Interaktion. Reziprozität bringt eine in der Alltags-Praxis beobachtbare Regel von (Arbeits-) Handlungen auf den Begriff. Sie begründet jedoch keine Norm oder eine Verpflichtung zu (ungleichzeitig) zu erbringenden „Gegenleistungen“. Das Gegenseitige der Arbeit in Haushalten ist nicht mit der institutionalisierten Komplementarität von Vertragsrechten, auch nicht mit der Alltagsrede von „(meinen) Rechten als (deinen) Pflichten“ zu verwechseln, auch nicht mit der sozialpolitischen Devise „wer Rechte in Anspruch nehmen will, muss auch Pflichten übernehmen“. Das neoliberale Junktim von „fordern und fördern“ steht für das gegenteilige Prinzip. Es drückt keine Gegenseitigkeit aus, sondern steht für einen Zwangsvertrag bzw. für Legitimationen zum Ressourcenentzug. Alltäglich beschreibt Reziprozität die Regel, dass jede Teilnehmerin/ jeder Teilnehmer eines Koope­rationszusammenhangs Ressourcen in Gebrauch nimmt (konsumiert); und Jede und Jeder beteiligt sich (zu anderen Zeiten, in anderen Zusammenhängen, wenn er oder sie in der Lage dazu ist) an Tätigkeiten, Ressourcen herzustellen und zu geben.

Exkurs:

Reziprozität als „Routinegrundlage“ von alltäglicher Reproduktionsarbeit ist nicht identisch mit dem Verständnis, das die wiederbelebte „Soziologie der Reziprozität“ annimmt. Reziprozität als Wechselseitigkeit von Gabe und Gegengabe, wurde für die Soziologie der Sozialpolitik interessant, um auf andere Logiken des Wirtschaftens als den Warentausch und Marktmechanismus aufmerksam zu machen. Herausgestellt wird z.B. bei Lessenich/Mau (2005) die „Einbettung“ der kapitalistischen Marktwirtschaft in den Sozialstaat als ein „Reziprozitätsarrangement“ und „moderne Moralökonomie“ (2005: 271ff). Bei Lessenich/Mau (2005, vgl. insbesondere S. 271ff.) wird Reziprozität zum analytischen Oberbegriff für verschiedene, politisch durchgesetzte Formen von Wechselseitigkeit; alle dienen dazu das „soziale Band“ einer Gesellschaft zu knüpfen. Mit dem Wohlfahrtsstaat, so die These, wurden verschiedene Kompromisse „zwischen ‚Interesse‘ und ‚Moral‘“ institutionalisiert. Der Sozialstaat wird auf diese Weise ordnungstheoretisch als ein „Reziprozitätsarrangement“ bestimmt (vgl. Lessenich/Mau 2005: 260 ff). Es handelt sich um ein Arrangement von (sozialen) Rechten auf Leistungen oder Risikoausgleich und (sozial und zeitlich versetzten) Verpflichtungen zu Gegenleistungen. Man könnte es auch als moderne Moralökonomie bezeichnen, in die wirtschaftliche Tätigkeiten (also kapitalistische Markwirtschaft) „eingebettet“ waren bzw. eingebettet bleiben sollten. Das in der fordistischen Phase des Kapitalismus etablierte sozialstaatliche Reziprozitätsarrangement gilt dabei als ein Modell für „faire Reziprozität“ (ebenda, S. 273). Aus diesem Arrangement wird eine abstrakte Norm von Reziprozität, bei der es nicht um konkrete Muster bzw. Inhalte von Gegenseitigkeit geht, sondern um einen „Reziprozitätsglauben“ (ebd., S. 273, Hervorhebung die Verf.), den der Wohlfahrtsstaat und seine Institutionen laut Lessenich und Mau geeignet war zu erzeugen. Als Bezugspunkt der Kritik von neoliberaler Sozialpolitik würde damit bereits ein spezifisches Kräfteverhältnis und der zugehörige politische Kompromiss als selbstverständlich übernommen. Wir würden damit als Bezugspunkt für Reproduktionsarbeit ein Muster wählen (und naturalisieren), das sich in der alltäglichen Arbeit am sozialstaatlich institutionalisierten Kompromiss herausgebildet hat: die Reziprozitätsprinzipen des fordistischen Sozialstaats; diese oszillieren zwischen Versicherungsprinzip und Zwang zur Selbsthilfe. Wir sehen den Haushalt dagegen als einen Ort, an dem konkrete Reziprozitäts-Erfahrungen gemacht werden. Was eine Erwartung ermöglicht, dass „Geben und Nehmen“ indirekt, letztlich über einen langen Zeitraum und ziemlich grob ausgeglichen werden wird; jeder nach seinen Möglichkeiten und jeder nach ihren Bedürfnissen.

Situationen der Abhängigkeit und die Praxis von „beneficience“

Die bereits in den 1950er Jahren formulierten Überlegungen von Alwin Gouldner (2005/1960) zu einer mehr oder weniger universellen Regel der Reziprozität (leider übersetzt als „Norm der Reziprozität“) bleiben für unsere Diskussion aktuell, weil er die Grenzen reziproker sozialer Beziehungen auf der Interaktionsebene diskutiert. Die Bedingung einer gleichzeitigen oder zeitversetzten Gegenseitigkeit reicht, so seine Beobachtung, in keiner bekannten Lebens- und Produktionsweise dafür aus, dass jedes Mitglied immer die Ressourcen bekommt, die es braucht, um sich als Person (und Individuum) zu reproduzieren. Es klingt etwas universalistisch; gleichwohl ist bedenken, dass es Positionen in der Gesellschaft (und damit Situationen) gibt, in denen prospektive „Empfänger“ nicht in der Lage waren, sind oder gewesen sein werden, im Rahmen der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eine (Gegen-)Gabe zu erbringen. Die Standardbeispiele der wissenschaftlichen und politischen Diskussion dafür sind „Kinder und Alte“ sowie „Kranke und Behinderte“. Im kurzen 20. Jahrhundert wurden sogar phasenweise graduell ausgeschlossene Personen und Kollektive hinzugenommen, ebenso „existenzielle Außenseiter“: Außenseiter durch ihre (minoritäre) Existenzweise.

Um die „Problemgruppenperspektive“ zu vermeiden, welche die hegemoniale Sozialpolitik hier einnimmt, und um die institutionalisierte Reziprozitätsnorm zu überwinden, denken wir Abhängigkeit nicht als ein Merkmal (und Makel) der Person, sondern als eine Situation der graduellen Ressourcenlosigkeit. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich daher nicht auf die im Zusammenhang mit Care-Arbeit anerkannten „Abhängigen“, sondern auf „Situationen der Abhängigkeit“. In Situationen der Abhängigkeit kommen wir nicht nur lebensgeschichtlich (als „Kinder“ oder „Alte“) oder durch unsere Körperlichkeit (als „Kranke“ oder „Behinderte“). In eine Situation der Abhängigkeit geraten alle, die in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft nicht gegen Lohn, nicht im Normal­arbeitsverhältnis und nicht diszipliniert arbeiten können, dürfen oder wollen; und vor allem alle, die nicht als legitimes Mitglied gezählt werden, sondern als Fremde und Andere.

Eine reziproke Beziehung impliziert, wie oben gezeigt, Bedingungen; sie kann, als eine institutionalisierte Norm und Verpflichtung verstanden, sogar zu sozialer Ausschließung führen. Damit wird eine Umkehrung möglich: Solchen, die Hilfen oder andere (Vor-)Leistungen unterlassen haben, braucht nicht geholfen zu werden. Gewendet auf „Vergeltung“ oder „Beitragsgerechtigkeit“ kann Reziprozität als institutionalisierte Norm sogar ein ziemlich kaltes Ideal werden. Daher geht Alvin Gouldner davon aus, dass Reziprozität als soziales Motiv nicht ausreicht, für alle ein Dasein und ein gutes Leben zu sichern. Dafür bedürfe es der Praxis und Haltung der beneficience: „Hilfe wird nicht abhängig gemacht von früheren, empfangenen Wohltaten oder von zu erwartenden, künftigen Wohltaten.“ (Ebenda: 110) In einem Wort lässt sich das in der Sozialpolitik selten gebrauchte Wort der beneficience schlecht übersetzen. Die üblichen Übersetzungen als Norm von „Wohltätigkeit“ und „Güte“ haben eine starke Assoziation an individuelle Tugenden, damit auch an „Untugenden“ derer die das Objekt werden: wie die Unfähigkeit z.B. der Armen, die anderen nichts geben können. Wir übersetzen die Praktiken von beneficience mit vier Worten: „freundliche Fürsorglichkeit ohne Erwartungen“. In anderer Wendung bedeutet beneficience: Das Erbringen von Diensten, von „Wohltaten“, für die ein Arbeitsbündnis der Solidarität und der Freundlichkeit konstitutiv ist. Freundlichkeit lässt sich weder durch Organisation steuern, weder bürokratisch noch warenförmig herstellen. Obgleich unmöglich auf Dauer zu stellen, begegnet sie uns (nicht nur im Werk von Bertolt Brecht) immer wieder. Doch am seltensten wohl auf Märkten, in Organisationen und Verwaltungen. Oft als Trauerarbeit.

„Something for nothing“, Sorgearbeit, Freundlichkeit als soziale Beziehung herzustellen ist kräftezehrend und hat anspruchsvolle Voraussetzungen. Daher benötigt Sorgearbeit eine eigene öffentliche Infrastruktur der Ermöglichung. Hinzu kommt, dass wir zwar wissen, dass soziale Praktiken der Fürsorglichkeit, der Freundlichkeit und der Solidarität immer wieder „subkulturell“ entstehen, aber durch Organisation und im Zuge von Institutionalisierungen wieder in Entfremdung und Verdinglichung übergehen werden. Ein weiterer Grund, den Ort Haushalt als „Schnittpunkt“ und als einen spezifischen „sozialen Ort“ zu analysieren.

Die Entstehung sozialer Infrastruktur vom Ort des Haushalts aus betrachtet oder: Nicht-Nutzungsprozesse als Lernprozess

Alle Überlegungen zum Konzept einer sozialen Infrastruktur sehen einen Teil der komplizierten Vermittlungen zwischen Haushalt und sozialer Infrastruktur darin, dass das organisierte Bereitstellen von Ressourcen nicht nach einer „Blaupause“ und nicht ohne Beteiligung der Leute geschehen kann. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass auch Alltagspraktiken als „Bornierungen“ zu verstehen sind. Indem sie begrenzte Handlungsmöglichkeiten mit begrenzten Mitteln angehen, eine institutionalisierte Struktur „in-Gebrauch-nehmen“, werden die Grenzen des vorgefundenen Rahmens reproduziert und mitproduziert. Wir nennen dies alltägliche „Arbeitsweisen am Sozialen“ (Bareis 2012), um deren Beschränktheit und Gebundenheit in Hinblick auf die jeweilig hegemoniale „Produktionsweise“ kenntlich zu machen.

Gleichwohl wären Muster und Regeln der Reproduktionsarbeit (als Praktiken von Alltag) nicht nur auf ihre Grenzen hin zu analysieren, sondern auch ihre Potentialität und die implizierten „generativen Themen“ (Paolo Freire) von bornierten Alltagspraktiken zu benennen. Eine soziale Infrastruktur, die allen „gezählten“ und „ungezählten“ (Jaques Rancière) Bewohner*innen einen gleichen Zugang zu notwendigen Ressourcen ermöglicht, kann zudem nicht ohne konfliktreiche Prozesse gedacht werden. Dies gilt umso mehr, da im Konzept „soziale Infrastruktur“ Gesellschaft tendenziell als nationalstaatlich abgrenzbare gedacht ist. Dies scheint für die Institutionen bislang noch angemessen, für die Haushalte allerdings nicht.

Das Komplexe und Unfertige von Alternativen gründet darin, dass auch das Denken und nicht nur das Tun des Transformierenden in einer Situation von „Nicht-Wissen“ geschieht. Manches lässt sich schon wissen. Es geht aus der Perspektive „von unten“ hauptsächlich um Regeln und Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit infrastrukturell vorgehaltene Ressourcen in Gebrauch genommen werden können, ohne allzu viele Formen von „Verdinglichung“ zu erfahren, die in Selbstverdinglichung umgewandelt werden muss. Überlegungen zu „radikalen Reformen“ sind eine notwendige Voraussetzung, der Drift in die institutionelle Perspektive entgegenzuarbeiten. Dazu braucht es Kritik verdinglichender Sozialstaatlichkeit, eine reflexive Perspektive auf Institutionalisierung und einen Lernprozess, der die alltäglichen „Arbeitsweisen am Sozialen“ aufgreift. Eine gute Referenzgröße böte das Lernen aus „Arbeitsweisen am Sozialen“, die eine Teilnahme an der hegemonialen Vergesellschaftungsform verweigern und Personen für ihren Eigensinn auch Existenzielles riskieren. (Vgl. Cremer-Schäfer 2020) Dafür braucht es Ressourcen zum Denken und Handeln, nicht nur auf Seiten von lernbereiten Beobachter*innen, sondern auch für die Haushalte; um in ihren Alltagen Erfahrungen zu machen. Eine bedingungslos zugängliche soziale Infrastruktur könnte danach beurteilt werden, inwiefern die jeweils implizierte Partizipations- und die Nutzungsform gerade mal zu einer dauerhaft auf Prekarität gestellten Subsistenzsicherung führt oder sich ein Raum öffnet für die Entwicklung eigensinniger und eigenständiger Haushaltsführungen und Lebensformen.

Einige weitere Beurteilungsfragen und -kriterien wären: Die Bereitstellung welcher Infrastruktur erweitert die Möglichkeit zur Bildung möglichst selbst gewählter Zusammenschlüsse in Haushalten? Und wie kann mit der Gleichwertigkeit von nicht gleichzeitig zu realisierenden Zielen von Reproduktionsarbeit umgegangen werden?

Empirisch zeigte sich in empirischen Untersuchungen der alltäglichen Arbeit an schwierigen Situationen (der Ausschließung) deutlich eine Hierarchie von „defensiven“ Praktiken. Zuerst ist das Überleben als einzelne Person zu bewerkstelligen. Dann kann man für die Reproduktion von Haushaltsmitgliedern sorgen, die noch oder wieder oder zeitweise von jemandem abhängig sind. Erst danach kommen Versuche, die zeitliche und soziale Sicherung der Mittel des Überlebens als Person und der erweiterten Reproduktion anzugehen. In Bezug auf die Strategien, die ökonomische, politische und gesellschaftliche Partizipation erweitern, haben wir dem Alltäglichen deutlich weniger Vorstellungskraft entnehmen können als über die vertrauten defensiven Praktiken. Wir denken an Ideen und Aktivitäten, eine selbstbestimmtere Organisation der sozialen Infrastruktur durchzusetzen, an das große Ziel der (im weiten Sinn unschädlichen) Entwicklung der Produktivkraft, an Teilnahme an sozialem Fortschritt und damit verbundenen Befreiungsmöglichkeiten und Emanzipierung – um einmal ganz „unbescheidene“ Projekte in den Blick zu nehmen. In den alltäglichen „Arbeitsweisen am Sozialen“ sind diese Ziele nicht ganz verschwunden. Die Option auf ein „gutes Leben“, „zufriedenstellende Arbeit“ und ein „eigenbestimmtes, weniger abhängiges Leben“ bleiben in Erzählungen der Leute über die defensiven Praktiken als generative Themen sichtbar. Das pragmatische Organisieren der Existenzsicherung und die Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben sind gleichwertige, wenn auch nicht gleichzeitig realisierbare Ziele.

Wir formulieren zum Schluss einige Fragen und Kriterien, die es ermöglichen zu beurteilen, ob Politik die Entwicklung einer „sozialen Infrastruktur zum Betreiben eines eigenen Lebens“ offenhält.

  • Welche Ressourcen stellt eine etablierte soziale Infrastruktur bzw. ein Infrastrukturkonzept zur Verfügung, um Konflikte um die disziplinierte Lebensweise zu bearbeiten?
  • Welche Ressourcen stellt eine etablierte soziale Infrastruktur bzw. ein Infrastrukturkonzept zur Verfügung, um schwierige Situationen sozialer Ausschließung zu bearbeiten?
  • Gibt es die Möglichkeit aus einem Wirtschafts- und Lebenszusammenhang temporär oder dauerhaft „auszusteigen“ bzw. sich „eigensinnig“ zu einem Haushalt bzw. einer Wohnform zusammenzuschließen?
  • In welche Relation werden die unterschiedlichen Rationalitäten von je institutionalisierter Infrastruktur und Haushalten gebracht? Institutionalisierte und professionalisierte Praxis der Bereitstellung von Ressourcen erzeugen, nach allem, was wir wissen, im besten Fall Orte der „verbindlichen Begegnungen“. (Kunstreich 2012) Haushalte betonen dagegen eher die „Verlässlichkeit der Begegnung“ mit Professionen; d.h. Bedingungslosigkeit und die situative Tauglichkeit von Ressourcen, die bereitgestellt werden. In welche Relation wird also die bürokratisch verbindliche Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur zur „Nachfragelogik“ des Haushalts nach „verlässlichen Begegnungen“ und gebrauchswerthaltigen Diensten gebracht?
  • Welche Möglichkeiten (und Haushaltungsformen) würden durch eine bedingungslos zugängliche Infrastruktur abgesichert? Welche hingegen unzureichend?
  • Welche soziale Infrastruktur braucht es, um Konflikte als Konflikte zu regulieren und z.B. nicht als „Kriminalität“ oder andere Formen der Devianz. Eine Frage, die im Nachdenken über eine allgemein zugängliche Infrastruktur in der Regel vergessen wird.

Schließlich: Wir interpretieren auch Alternativen als „Zwischenergebnisse“ auf dem Weg zu einer allgemein und bedingungslos verfügbaren sozialen Infrastruktur. Man kann auch nach radikalen Reformen (sogar im emphatischen Sinn) nicht von Konsens und Konfliktlosigkeit ausgehen. Im Kontext von Verrechtlichung, im Zusammenhang mit Expert*innenmacht und dem Handeln von Professionellen wird „Eigensinn“ immer wieder zu erkämpfen bleiben – auch gegen die Zwischenergebnisse von Reformen. Es bleibt, soll ein Verhandlungs-Prozess beginnen, die Notwendigkeit, sekundäre Widersprüche und Konflikte des Prozesses der Umorganisierung erneut zum Gegenstand reflexiven Kritik zu machen.


[1] Wir beziehen uns im Folgenden sowohl auf die Analysen und Vorschläge der von der AG links-netz 2013 herausgegebenen Publikation Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur wie auf das 2005 gemeinsam gestaltete Heft 97 der Widersprüche „Politik des Sozialen – Alternativen zur Sozialpolitik. Umrisse einer sozialen Infrastruktur.

[2] Der folgende Teil ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung unseres Beitrags zu einem Tagungsband Soziale Dienstleistungen als soziale Infrastruktur: Optionen für Soziale Arbeit, der von Gertrud Oelerich und Andreas Schaarschuch herausgegeben wird. Zu unseren theoretischen Bezügen gestatten wir uns auf unseren Beitrag in Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur zu verweisen.

[3] Wir haben dies am Exempel mehrerer „Fallgeschichten“ des Übergangs zur neoliberalen Phase dargelegt. (Bareis/Cremer-Schäfer 2012; 2021; Bareis/Cremer-Schäfer/ Klee 2015) Ausgangs- und Orientierungspunkt war die „CASE“-Studie, die die „Welfare Policy from Below“ beschrieben hat. (Steinert/Pilgram 2007) Ellen Bareis hat im Tagungsband Befreiungswissen als Forschungsprogramm. Denken mit Heinz Steinert die Relevanz der Studie für die Weiterarbeit an der Forschungsperspektive „from below“ und damit an der Weiterentwicklung einer „sozialen Infrastruktur zum Betreiben eines eigenen Lebens“ expliziert.

Literatur:

Adloff, Frank/ Mau, Steffen (Hg.) (2005): Vom Geben zum Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Hirsch, Joachim/ Brüchert, Oliver/ Krampe, Eva-Maria et al. (Hg.) (2013): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: VSA-Verlag

Bareis, Ellen (2012): Nutzbarmachung und ihre Grenzen – (Nicht-)Nutzungsforschung im Kontext von sozialer Ausschließung und der Arbeit an der Partizipation. In: Schimpf, Elke/ Stehr, Johannes (Hg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandsbereiche – Kontextbedingungen – Positionierungen – Perspektive. Wiesbaden: Springer VS, 291-314

Bareis, Ellen (2022): Wohlfahrt von unten. In: Kranebitter, Andreas/Pilgram, Arno/Reidinger, Veronika/Reinprecht, Christoph/Reitter, Karl (Hg.): Befreiungswissen als Forschungsprogramm. Denken mit Heinz Steinert. Münster: Westfälisches Dampfboot, 121-144

Bareis, Ellen/ Cremer-Schäfer, Helga (2012): Alltagsforschung als Kritik. Grundlagen der Forschungsperspektive der „Wohlfahrtsproduktion von unten“. In: Graßhoff, Gunther (Hg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, 139-159

Bareis, Ellen/Cremer-Schäfer, Helga (2013): Haushalt und soziale Infrastruktur: komplizierte Vermittlungen. In: Hirsch, Joachim/ Brüchert, Oliver/ Krampe, Eva-Maria et al.:161-184

Bareis, Ellen/ Cremer-Schäfer, Helga/ Klee, Shalimar (2015): Arbeitsweisen am Sozialen. Die Perspektive der Nutzungsforschung und der Wohlfahrtsproduktion „von unten“. In: Bareis, Ellen/Wagner, Thomas (Hg.), Politik mit der Armut. Europäische Sozialpolitik und Wohlfahrtsproduktion „von unten“. Münster: Westfälisches Dampfboot, 310-340

Bareis, Ellen/Cremer-Schäfer, Helga (2021): Bearbeitung von Situationen sozialer Ausschließung – Praktiken des Alltags. In: Anhorn, Roland/Stehr, Johannes (Hg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Verlag VS, 701-737

Clarke, John (2007): Die Neuerfindung der Community? Regieren in umkämpften Räumen. In: Kessl, Fabian/ Otto, Hans-Uwe (Hg.): Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume. Opladen & Farmington Hills: 57-79

Cremer-Schäfer, Helga (2020): Ent-Stigmatisierung — eine parteiliche Gegenstrategie zu „institutioneller Stigmatisierung“? Schwierig, aber nicht ganz unmöglich, In: Forum Erziehungshilfe, Heft 3/2020 „Parteilichkeit heute“, 156-160

Gouldner, Alwin W. (2005/1960): Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie. In: Adloff, Frank/ Mau, Steffen (Hg.), 109-123

Kunstreich, Timm (2012): Sozialer Raum als „Ort verlässlicher Begegnung“. Ein Essay über Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. In: Widersprüche 125 „Sag mir wie? Methodisches Handeln zwischen Heilsversprechen und klugem Takt“, 87-92

Lessenich, Stephan/ Mau, Steffen (2005): Reziprozität im Wohlfahrtsstaat. In: Adloff, Frank/ Mau, Steffen (Hg.), 257-276

Massey, Doreen (1994): A Place Called Home? In: Dies.: Space, place and gender. Minneapolis: University of Minnesota Press, 157-173

Steinert, Heinz (2005): Eine kleine Radikalisierung von Sozialpolitik: Die allgemein verfügbare „soziale Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens“ ist notwendig und denkbar. In: Widersprüche, Heft 97 „Politik des Sozialen – Alternativen zur Sozialpolitik. Umrisse einer sozialen Infrastruktur“, Bielefeld: Kleine Verlag, 51-67

Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit, Weinheim: Beltz