Corona und der kybernetische Kapitalismus

Joachim Hirsch

Die Aufregung über Corona und den Umgang damit hat sich inzwischen etwas gelegt. Abgesehen von dem Hickhack um die Aufarbeitung der vielen Fehler, die dabei gemacht wurden. Dafür spielt jetzt der von Bundeskanzler Scholz im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ins Spiel gebrachte Begriff „Zeitenwende“, mit dem der Übergang zu einer neuen Form des Rüstungskapitalismus legitimiert werden soll, in der öffentlichen Debatte eine größere Rolle. Andrea Komlosy greift in ihrem mit „Zeitenwende“ getitelten Buch beide Begriffe auf, stellt sie aber in einen größeren Zusammenhang und verbindet sie miteinander. Sie argumentiert, dass der Begriff „Zeitenwende“ eher auf den Übergang zu einem historisch neuen Akkumulationstyp, den „kybernetischen Kapitalismus“ verweist, mit dem das kapitalistische System aus der schon seit Jahren anhaltenden Krise geführt werden soll und dass die Corona-Krise und die darauf reagierenden Maßnahmen bei seiner Durchsetzung eine wichtige Rolle spielen. Dabei wird deutlich, dass bei einigen der zur Pandemiebekämpfung nicht immer zweckdienlichen Regierungsaktivitäten dennoch eine gewisse Logik zum Ausdruck kommt, auch wenn dies den Akteuren vielleicht nicht ganz bewusst war. In ihrer Untersuchung greift sie auf eine recht breit angelegte Literaturrecherche zurück und ergänzt diese, was aktuelle Entwicklungen angeht, um Zeitungsartikel und Internetquellen.

Der erste Abschnitt des Bandes ist einer sehr ausführlichen Darstellung und Diskussion der Theorien kapitalistischer Entwicklung und ihres zyklischen Verlaufs gewidmet. Komlosy unterscheidet dabei lange Konjunkturzyklen, Hegemonie- und Evolutionszyklen. Unter letzteren versteht sie, Leonid Grinin zitierend „eine radikale Veränderung der globalen Produktivkräfte in Verbindung mit dem Übergang zu einen neuen Organisationprinzip nicht nur bei der Technologie, sondern auch im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur“ (62). Dies beginnend mit der Periode der Jäger und Sammler bis eben zu dem so bezeichneten „kybernetischen Kapitalismus“.

Vor diesem Hintergrund entwickelt sie im zweiten, „Der Corona-Moment im historischen Prozess“ überschriebenen Abschnitt ihre These. Diese lautet: mit der Corona-Krise werden „im Gange befindliche Entwicklungen … vorangetrieben, mannigfaltige Hindernisse auf dem Weg der Erneuerung aus dem Weg geräumt; und aus den Sachzwängen und Verkettungen von Lockdowns, Distanzregeln, Überwachung und biopolitischer Bewegungskontrolle entstehen Bedingungen, die sämtliche Lebensbereiche erfassen und alle Aktivitäten auf den neuen Modus der Kybernetik umstellen“ (102). Von Regierungen, einschlägigen Stiftungen oder der Pharmaindustrie entwickelte Pläne dazu gab es schon lange vorher. Die Corona-Krise bot die Chance, sie gegen viele Widerstände und Hemmnisse entscheidend voranzutreiben. Dies vor allem durch die Begünstigung von Branchen und Unternehmenstypen, die den Kern des neuen Akkumulationsmodus darstellen: Online-Kommunikation in vielen Arbeits- und Lebensbereichen, Online-Handel, die IT-, Pharma- und biomedizinische Industrie, Überwachungs- und Sicherheitstechnik u.a.m., denen sich völlig neue Märkte eröffneten. Lockdowns und Mobilitätsbeschränkungen förderten – mit erheblicher Hilfe der Wissenschaft – deren Akzeptanz, ebenso wie die zur Legitimierung der Corona-Politik mobilisierten Ängste. Eine Art Schocktherapie also.

Diese Zusammenhänge werden im Folgenden genauer ausgeführt. Zunächst geht es um den Umbau der Wirtschaftsstrukturen im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Kapitalismus, wobei der Medizintechnik die Rolle einer neuen Leitindustrie zufallen könnte – ähnlich der Automobilindustrie im industriellen Kapitalismus. Der nächste, „Der neue Mensch“ überschiebene Abschnitt beschäftigt sich mit den Veränderungen im Arbeitsprozess, dem Zugriff auf den Körper und der biopolitischen Steuerung und Überwachung. Die in immer schnellerem Tempo vorangetriebene Ersetzung des Menschen durch Maschinen lässt zugleich den Umfang prekärer Arbeitsverhältnisse anschwellen. Home Office und die Entstehung „digitaler Nomaden“ verschärft die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen und beeinträchtigt deren Organisationsfähigkeit. Die zunehmende Verdatung aller Lebensbereiche, angetrieben durch die kommerzielle Verwertung des Datenmaterials, ermöglicht eine immer umfassendere Überwachung und Kontrolle. Dieser Datensammlung kann man sich kaum mehr entziehen, wenn man am sozialen Leben teilnehmen will. Die Aneignung von Erfahrung tritt als Mehrwertquelle zur Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft hinzu. Der menschliche Körper wird sozusagen zum Rohstoff der Kapitalverwertung. In Anlehnung an Foucault sieht Komlosy hier ein neues biopolitisches Dispositiv, das durch die Corona-Maßnahmen vor allem im medizinischen Gesundheitsmarkt vorangetrieben wird. Big Data und Pharmaindustrie verschmelzen.

Die mit diesen Maßnahmen eingeführte Bewegungskontrolle (Gesundheits-, Impfpass u.ä.) hat die Tendenz, Staatsbürgerschaft als Mobilitätsvoraussetzung zu ersetzen. Die Corona-App hat zwar Ansteckungen kaum verhindert, war aber nützlich zum Datensammeln. Neuere Entwicklungen in diesem Bereich konnte die Verfasserin nicht berücksichtigen: die Corona-App wurde inzwischen stillgelegt, kann aber natürlich jederzeit wieder aktiviert werden. Eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung unter „Experten“, wie zukünftigen Pandemien begegnet werden sollte, erbrachte durchgehend die Forderung nach einer noch weiter ausgebauten Überwachung und Kontrolle (SZ v. 27.3.2023).

Im letzten Kapitel beschäftigt sich die Autorin – allerdings eher etwas kursorisch – mit der geopolitischen Ebene, insbesondere mit der Frage, inwieweit sich mit dem Niedergang der US-Hegemonie die Chance eröffnet, diese abzulösen. Dies sei momentan noch nicht abzusehen. Komlosy weist aber darauf hin, dass auch die Corona-Politik zu einem Konfliktfeld zwischen diesen Mächten (und der Europäischen Union) wurde. So hat die Unterbechung der Lieferketten durch den langen chinesischen Lockdown zu einer grundlegenden Reorganisation der Handelsbeziehungen und Investitionsstrategien geführt. Dies ganz abgesehen von dem neuen Krieg in Europa und dessen geopolitische Auswirkungen.

In der abschließenden Zusammenfassung wird betont, dass es sich bei den die Transformation des globalen Kapitalismus antreibenden Entwicklungen um -allerdings manifeste – Tendenzen handle, deren Ergebnis durchaus noch offen sei.

Die besondere Leistung der Arbeit von Andrea Komlosy besteht darin, die Corona-Pandemie mit ihren Folgen in eine Analyse historischer kapitalistischer Transformationen einzubetten und damit den Blickwinkel über die bestehende – auch kritische – Literatur hinaus deutlich zu erweitern. Dass sie zu keinem abschließenden Ergebnis kommt, ist angesichts der umkämpften und damit noch offenen Situation verständlich. Ihre auf umfangreiche Recherchen gestützte Argumentation pointiert aktuelle Tendenzen sehr stark, ist aber auf jeden Fall plausibel und damit eine gute Grundlage für die politisch-theoretische Diskussion sowie notwendige weitere Untersuchungen. Darstellungstechnisch hätte es der Publikation gutgetan, wenn einige Redundanzen im Text beseitigt worden wären. Das sehr umfangreiche erste Kapitel zu den Zyklentheorien hätte durchaus kürzer gefasst werden können. Hier hat sich wohl Komlosys Beruf als Wirtschafshistorikerin bemerkbar gemacht.Andrea Komlosy: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Promedia-Verlag Wien, 2022. 288 Seiten, 23 €.