NGOs und die Ambivalenzen demokratischer Gesellschaften

Thomas Gebauer

Ein neues Politikverhältnis

Nicht zu Unrecht gilt Herbert Marcuse vielen, die sich heute mit der Geschichte der sozialen Bewegungen beschäftigen, als einer ihrer „Väter“. Vor allem sein Buch „Der eindimensionale Mensch“ war für den demokratischen und kulturellen Aufbruch der 1960er Jahre von herausragender Bedeutung. Seine darin formulierte Kritik an einer technokratisch verwalteten Welt öffnete den Blick für alternative politische Praxen, für Ideen von Selbstbestimmung und demokratischer Teilhabe: Ideen, die die damalige „Studentenbewegung“ maßgeblich beeinflussten. Nicht zuletzt sein 1967 in Berlin gehaltener Vortrag „Das Ende der Utopie“ ließ keinen Zweifel daran, dass gesellschaftliche Veränderungen  zwar möglich seien, aber nur nur über Formen von Selbstorganisation gelingen. Ich ging damals noch zur Schule, aber auch in der „Schülerbewegung“ haben wir Marcuse gelesen und wie selbstverständlich darauf gedrängt, den Unterricht selbst zu gestalten.

Die späten 60er Jahren waren die Zeit, in der allerorten Stadtteilgruppen, Bürger*inneninitiativen, Hilfsvereine und andere auf Autonomie drängende Organisationen entstanden sind. Auch medico international, die Organisation, für die ich dann über 40 Jahre gearbeitet habe, wurde in eben dieser Zeit gegründet. Besorgte Frankfurter Bürger*innen wollten dem Kriegsgeschehen in Vietnam nicht länger tatenlos zusehen und begannen, medizinische Hilfe zu organisieren. Aus der spontanen Initiative von damals wurde eine heute weltweit tätige Organisation, die noch immer die Kritik an den Verhältnissen mit der Unterstützung von praktischen Alternativen verbindet.

Oskar Negt hat das Politikverständnis, das sich in den 60er Jahren herausgebildet hat, später so formuliert: Es ist der Prozess, „in dem die Menschen ihre Alltagsutopien umzusetzen versuchen und neue Erfahrungen machen im Umgang miteinander […]. Es sind Formen der wirklichen Besitzergreifung, der Umstrukturierung von Wahrnehmungen und des sinnlichen Ertastens eines sozialen Raumes, der den Alltagserfahrungen der Menschen enteignet war. […] Unter Revolution wäre daher eher eine Summe von Bürgerinitiativen, ein sich zusammenfügendes Gebilde von zivilem Ungehorsam zu verstehen, als eine Klassenaktion im alten Sinne. Darin besteht vermutlich das modernen Gesellschaften angemessene Verständnis von Revolution.“ (Negt 1992, S. 82)[1]

Ziel des sich damals herausbildenden neuen Politikverständnisses war nicht die Machtübernahme als Voraussetzung für die Durchsetzung anderer Lebensformen, sondern die Verweigerung und die Ausbildung einer „neuen Sensibilität“ (Marcuse) als Voraussetzung dafür, neue Lebensformen zu praktizieren, die schließlich für die gesellschaftliche Transformation sorgen.

Die Hoffnungen, die sich mit diesem Politikansatz verbunden haben, waren groß, und sie sind es, bei aller berechtigten Skepsis, noch heute.

Der Bedeutungszuwachs von NGOs im Kontext der neoliberalen Globalisierung

Seit den 60er Jahren hat das zivilgesellschaftliche Engagement enorm zugenommen. Weltweit drängen heute unabhängige Initiativen auf sozial- und umweltpolitische Verbesserungen. Sie sehen sich als Stimme sozial Marginalisierter, kämpfen für gleiche Rechte für alle, für Frieden und Abrüstung, leisten humanitäre Hilfe und andere soziale Dienste. Nicht wenige sind inzwischen transnational vernetzt, so etwa die Landlosen- und Kleinbauernbewegung im „Via Campesina“ oder Gesundheitsgruppen im „Peoples Heath Movement“.

Vor allem eine stetig wachsende Anzahl sog. NGOs hat in den letzten Jahrzehnten die politische Bühne betreten. Im Unterschied zu den oft spontanen und situationsbedingten Initiativen von sozialen Bewegungen verfügen NGOs über eine auf Dauer angelegte feste innere Struktur, meist geregelt über nationale Vereinsrechte.

Ihre Zahl lässt sich kaum noch ermitteln. Vor einigen Jahren war von weltweit 50 – 100.000 NGOs die Rede, gut 20.000 sind global tätig, bald 5.000 verfügen heute über einen konsultativen Status beim Wirtschaft- und Sozialrat der Vereinten Nationen (1968 waren es nur 180)[2].

NGOs haben ihren Ursprung in verschiedenen Kontexten und Zeiten. Manche entstammen der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Andere haben ihre Wurzeln in religiösen Zusammenhängen. Die meisten der heutigen NGOs aber entstanden als Reaktion auf die enormen politischen Umwälzungen, die mit der neoliberalen Umgestaltung der Welt einhergegangen sind.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das, was wir Globalisierung nennen, zuallererst ein wirtschaftliches und eben kein politisches Projekt gewesen ist. Im Gegenteil: die globale Entfesselung des Kapitalismus – und das ist der Kern der Globalisierung – hat das internationale politische System, die UNO und ihre Institutionen, eher geschwächt als gestärkt. Im Zuge der De-Regulierung des ökonomischen Sektors verloren auch die Nationalstaaten die Fähigkeit, wachsenden transnationalen Problemen, wie dem Klimawandel, der Proliferation von Waffen oder der Steuerflucht wirksam entgegenzutreten.

Im Gegensetz zur Globalisierung der Ökonomie hat sich auf politischer Ebene kein „Weltstaat” herausgebildet. Zwar gibt es Ansätze eines internationalen politischen Regulations- und Kontrollregimes, doch fehlen ihnen klare Formen demokratischer Repräsentation.

In diese Lücke sind zivilgesellschaftliche Akteure, soziale Bewegungen und NGOs gestoßen. Sie drängen auf öffentliche Kontrolle und rationale Gestaltung jener „Weltpolitik”, die mehr und mehr von einem eher undurchsichtigen Geflecht aus einigen mächtigen Staaten und Staaten-Clubs sowie multinationalen Konzernen bestimmt wird und zum heutigen Verlust politischer Hegemonie in einer neuen Block-Konfrontation geführt hat.  

Es ist deshalb auch ein Mangel an Demokratie, besser: an politischer Legitimation, der den Bedeutungszuwachs von zivilgesellschaftlichem Engagement begründet hat. Das klingt paradox, wird doch gerade zivilgesellschaftliches Engagement gemeinhin als Ausdruck demokratischen Zugewinns betrachtet.

Soziale Bewegungen

Viele soziale Bewegungen zeigen eine erstaunliche Dynamik. Es gibt Zeiten, da füllen sie die Schlagzeilen, um schon ein paar Jahre später wieder tot gesagt zu werden. Es ist noch gar nicht so lange her, da schien sich das zivile Engagement der Umweltbewegung der 80er und 90er Jahren erschöpft zu haben, und plötzlich, ohne dass dies vorhersagbar gewesen wäre, gingen mit den „Fridays for Future“ wieder Schüler*innen auf die Straße, um Druck für Klimaschutz zu machen.

Die Gründe für dieses Auf- und Ab sind vielschichtig; sie umfassen innere wie äußere Umstände; einige will ich kurz skizzieren.

Eine-Punkt-Bewegung

Die enorme Kraft, die soziale Bewegungen entfalten können, richtet sich zumeist auf ein Ziel, einen Umstand. Dagegen mangelt es an einem umfassenden Gesellschafts­begriff, wie ihn nicht zuletzt Marcuse für jede Form von Selbstorganisation als notwendig erachtet hatte. 

Schauen wir uns heute um, entdecken wir eine große Vielfalt an Initiativen, die auf Veränderung drängen und diese mitunter bereits leben. Wie treffen auf genossenschaftlich betriebene Höfen und Unternehmen, die auf lokale Wirtschaftskreisläufe setzen und sich kapitalistischer Verwertungslogik widersetzen, auf Leute, die kommunale Bürgerhaushalte mit Leben füllen, für Kulturzentren arbeiten, Begegnungen mit Geflüchteten organisieren, für Klimaschutz kämpfen, gegen den Waffenhandel Sturm laufen, für LGBT-Rechte streiten, etc. Das ist alles richtig und wichtig und doch leidet solches Engagement mitunter darunter, dass es nicht aufeinander bezogen ist und sich so auch nicht als Teil eines gemeinsamen Drängens auf gesellschaftliche Transformation begreifen kann.

Das Fehlen eines solchen umfassenden Gesellschaftsbegriffs bedeutet jedoch nicht, dass soziale Bewegungen keinen Erfolg haben können. Im Gegenteil: oft ist es gerade die Fokussierung auf einen Punkt, die dem Engagement Stärke und öffentliche Glaubwürdigkeit verleiht. Ohne den öffentlichen Druck, den soziale Bewegungen in den 90er Jahren entfaltet haben, wären internationale Konventionen, wie das Biodiversitäts-Abkommen, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs oder die Ächtung von Landminen nicht zustande gekommen.

Mangelnde Kontinuität

Aber was kommt nach dem Erfolg? Und was, wenn er zu lange auf sich warten lässt und sich Resignation breit macht? Was, wenn nachkommende Generationen andere Prioritäten setzen? Gesellschaftliche Veränderungen gelingen nicht von heute auf morgen. Sie erfordern einen langen Atem, der auch zwischenzeitliche Niederlagen verkraftet und meist die eigene Lebenszeit überdauern muss.

Eindämmung und Repression

Vieles deutet daraufhin, dass die Erfolge der 90er Jahre auch der im Zuge der neoliberalen Umgestaltung der Welt geschwächten Staatlichkeit geschuldet waren. Inzwischen aber haben die Staaten ihre Lektion gelernt. Sie haben neue Formen gefunden, den Widerspruch aufzufangen bzw., wo das nicht gelingt, mit Repression zu bekämpfen.

Vielerorts sind neue Formate der Partizipation zu einem festen Bestandteil demokratischer Legitimität geworden; so etwa die Einbindung von Bürger*innen in Planungsverfahren, die Schaffung „runder Tische“ und sog. „Multistakeholder“-Treffen, die Chancen der Einflussnahme zumindest suggerieren, zugleich nehmen die Verunglimpfungen von zivilem Ungehorsam als terroristischer Akt zu. Fast gegenläufig zu den neuen Beteiligungs­möglichen werden die Räume für zivilgesellschliche Initiativen immer enger, beides mitunter an ein und demselben Ort.

Professionalisierung

Schließlich liegt ein Grund für das Abflauen von sozialen Bewegungen auch in deren Professionalisierung. Die Expertise, die soziale Bewegungen aus der Kritik an den Verhältnissen ableiten, drängt auf die Bildung professionell arbeitender Organisationen. Aus spontan sich bildenden Initiativen entwickeln sich NGOs, die sich von ihren Ursprüngen lösen und an die zuvor von öffentlichen Bewegungen getragenes Engagement delegiert werden kann.

Nicht-Regierungs-Organisationen

Das weltweite Geflecht von NGOs ist vielschichtig und keineswegs immer transparent. Es besteht aus

  • machtvollen NGO-Multis wie Greenpeace, MSF oder Oxfam, die weltweit organisiert sind;
  • Hilfs-und Menschenrechtsorganisationen, die sich wie „medico international“ oder die in Eigeninitiative betriebenen Beratungsstellen für Folteropfer aus der Solidaritätsbewegung heraus entwickelt haben;
  • unabhängigen Forschungseinrichtungen, wie das Wuppertal Institut;
  • politischen Organisationen wie „attac“ oder das „Tax Justice Network“;
  • berufsständigen Organisationen, wie der „Verein demokratischer Ärzt*innen“;  
  • und, nicht zu vergessen, den kirchlichen Hilfswerke und andere „faith-based organisations“ sowie
  • den Zigtausenden von Süd-NGOs, das bunte „Porto Alegre Volk“, von denen viele mit international tätigen NGOs zusammenarbeiten und nach wie vor fest in sozialen Bewegungen verankert sind.

Aufgrund des großen Ansehens, das NGOs in der Öffentlichkeit genießen (lange Zeit galten sie als die einzig verbliebene Lichtgestalt politischen Handels), haben auch Unternehmen begonnen, eigene NGOs – zumeist Stiftungen – zu gründen. Daneben entstanden „Government initiated“ (GINGOs), von Regierung gebildet, ebenso „Quasi-NGOs“ (QUANGOs), die eng mit staatlichen Akteuren verflochten sind. Selbst Unternehmerverbände und Automobilclubs behaupteten zuletzt  immer wieder, zur Gruppe der NGOs zu gehören.

Von Interesse ist die steuerrechtliche Sonderstellung, die NGOs in der Regel genießen. Profitorientierte Unternehmen, die am wachsenden Spendenmarkt partizipieren wollen, sehen in der Steuerbefreiung von NGOs eine Wettbewerbsverzerrung und verlangen ihrerseits Zugang zu Fördermitteln. Gerade der in den letzten Jahren dramatisch angewachsen Bedarf an humanitärer Hilfe weckt Begehrlichkeiten.

Die Verflechtungen, die heute zwischen Firmen, firmeneigenen Stiftungen und Lobbystrukturen im „Hilfsbusiness“ auszumachen sind, verweisen auf einen sich immer deutlicher herausbildenden „Humanitär-Industriellen Komplex“, auf den ich schon Ende der 1990er Jahre aufmerksam gemacht habe und der den Handlungsrahmen von Politik für eigene Initiativen immer weiter einengt. Inzwischen sehen sich multinationale Organisation und nationale  Regierungen gezwungen, mit privaten Akteuren Rahmenabkommen abzuschließen, so die Vereinten Nationen mit dem Davoser Weltwirtschaftsforum oder das Bundesentwicklungshilfeministerium mit der „Bill and Melinda Gates Foundation“,was dem Philanthrokapitalisten den Schein demokratischer Legitimität gibt und das Ministerium an der Aura des Weltretters teilhaben lässt. [3]

Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Ohne die Arbeit von NGOs sähe es um den Zustand der Welt sehr viel schlechter aus. Mit ihrer Bereitschaft, anderen beizustehen, verteidigen sie die zutiefst menschliche Fähigkeit zur Solidarität. Und das ist in Zeiten gesellschaftlicher Fragmentierung nicht wenig und impliziert zudem Kritik an gesellschaftlich herrschender Kälte und Egoismus.

Der Vorsatz „Nicht-Regierung“ meint aber keineswegs eine radikale Opposition zu den herrschenden Verhältnissen. Viele NGOs suchen die Nähe zu Regierungen und übernehmen Aufgaben, die eigentlich in öffentlicher Verantwortung liegen.

NGOs können Teil der Lösung, aber auch Teil des Problems sein. Sie können Herrschaftsverhältnisse unterminieren, aber auch stabilisieren. Sie können durch Expertise machtvolle kritische Positionen stärken und so an der Seite von sozialen Bewegungen Regierungen unter Druck setzen. Sie können mithelfen, dass sich Menschen mit alternativen Lebensentwürfen auf der politischen Bühne zur Wort melden. Sie können zur Überwindung von Bürgerkriegen beitragen, wie in den1990 Jahren in Mosambik oder gar den Rücktritt von Regierungen erzwingen, wie es vor einigen Jahren pakistanischen Juristen gelang.

Sie können aber auch im Schulterschluss mit Staaten zur Stabilisierung herrschender Verhältnisse beitragen, indem sie Aufgaben übernehmen, die eigentlich in öffentlicher Verantwortung liegen sollten. Sie können z.B. für jene Sozialfürsorge sorgen, die staatliche Einheiten nicht mehr leisten, sei es weil ihnen dazu die fiskalischen Mittel fehlen oder weil sie darin keine öffentliche Aufgabe mehr sehen.

Mit der „Privatisierung des Staates“, so habe ich es an anderer Stelle vermerkt, ist es zu einer Art „Staatswerdung der NGOs“ gekommen, die freilich unverbindlich und höchst fragil bleibt.[4]

Es stimmt, dass private Hilfsorganisationen, wie die „Tafeln“ oder Internetplattformen wie „Go Fund Me“ weniger bürokratisch handeln als Sozialbehörden, aber sie können nie für eine allgemeine soziale Sicherung sorgen, wie sie in vielen nationalen Verfassungen garantiert wird. Öffentliche Einrichtungen sind dem Recht auf soziale Sicherung verpflichtet, zumindest dem Anspruch nach. Ihnen gegenüber können Bedürftige Rechte geltend machen, nicht aber gegenüber den vielen privaten Initiativen, die heute Hilfe leisten.

Die Beteiligungsmöglichkeiten, die zivilgesellschaftliche Akteure bieten, sind beides: Sie sind ein Zugewinn an Demokratie (im Sinne von Selbstorganisation) und zugleich auch ein Verlust an Demokratie (insbesondere, wenn Menschen in Not wieder zu Bittstellern werden).

Letzteres verweist auf eine höchst bedenkliche Re-Feudalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie zeigt sich im Extrem in der enormen Machtfülle, die einzelne Superreiche heute genießen. Die „Bill and Melinda Gates Foundation“ beispielsweise avancierte 2018/2919 nach den USA und Großbritannien zum drittgrößten Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Würde Bill Gates seine Mittel heute zurückziehen (er könnte es jederzeit tun), müsste die WHO Konkurs anmelden.

Im Zuge der „Staatswerdung von NGOs“ haben viele NGOs ihre anfängliche Unabhängigkeit verloren. Aus Demonstranten, die in sozialen Protestbewegungen  verankert waren, wurden Experten, die sich mitunter weder im Habitus noch in der Kleidung von Regierungsvertretern unterscheiden. Nicht wenige NGOs haben sich kooptieren lassen, um heute nur noch Reparaturen am System durchzuführen. Sie werden zu Akteuren eines erweiterten Staates und als solche in Dienst genommen.

Exemplarisch für die Formate, die NGOs substantielle Partizipation suggerieren, aber schlusslos bleiben, stehen  für mich die heute vielerorts stattfindenden Multistakeholder-Treffen. Deren Idee klingt überzeugend. Alle, die von politischen Entscheidungen betroffen sind (und in diesem Sinne Anteil haben, also Stakeholder sind), sollen an der Entscheidungsfindung mitwirken. Neben Regierungen auch Vertreter*innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft, so die Theorie.

In der Praxis sind es allerdings höchst ungleiche Partner*innen, die da zusammenkommen. Mächtige Konzerne (nicht selten vertreten durch hochbezahlte Anwaltskanzleien), Politiker*innen (die vielleicht Sympathie für das Menschenrecht äußern, aber, dem ökonomischen Diktat folgend, auf Sachzwänge verweisen), einflussreiche Philanthrokapitalisten (ohne deren Zuwendungen offenbar nichts mehr geht) und schließlich auch ein paar zivilgesellschaftliche Akteure (die dem Ganzen einen partizipativen Anstrich geben sollen).

Wer aber vertritt die Zivilgesellschaft? International aufgestellte NGOs, die längst eigene Interessen verfolgen? Oder lokale Graswurzel-Initiativen und soziale Bewegungen (die sich die Teilnahme an solchen Treffen meist nicht einmal leisten können)? Mächtige Stiftungen oder demokratisch legitimierte Interessenvertretungen?

Die Erfahrungen, die ich mit solchen „runden Tischen“ machen konnte, waren alles andere als ermutigend. Selbst dann, wenn alle Teilnehmenden der Notwendigkeit substantieller Veränderungen im Prinzip zugestimmt hatten, blieben die Ergebnisse dominiert von praktischen Zwängen und damit jener instrumentellen Vernunft, die schließlich ein „Weiter so!“ – eben „Business as usual“ – rechtfertigte.

Das war in früheren Jahren, als „Runde Tische“ erstmals in Prozesse politischer Entscheidungsfindung eingeführt wurden, etwa zu Zeiten der polnischen Solidarnosc Bewegung, noch anders. Da wurden die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft noch getragen von breitgetragener öffentlicher Gegenmacht.    

Verlust des Utopischen im Pragmatismus

Nicht immer sind es übrigens ungleiche Machtverhältnisse, die den Ausbruch aus den kapitalistisch geprägten Verhältnissen im Wege stehen; mitunter sind es auch die Haltungen, die zivilgesellschaftliche Akteure selbst mitbringen. Insbesondere unter Mitarbeiter*innen von entwicklungspolitisch tätigen NGOs sind immer wieder post-koloniale Einstellungen auszumachen, die den Akteuren oftmals selbst nicht bewusst sind. Doch wenn NGOs die in der Welt grassierende Armut mit Mikro-Krediten und der Umwandlung von Bedürftigen in Kleinunternehmer, sog. „Entrepreneurs“, bekämpfen wollen, tragen sie zur weiteren kapitalistischen Durchdringung der Welt bei. Im Grunde geht es dann nicht mehr um die Beeinflussung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, sondern um die Anpassung der Leute an Verhältnisse, die ihnen von außen übergestülpt werden.

Die voranschreitende Kolonisierung der Lebenswelten hat auch vor den NGOs nicht halt gemacht. Obwohl sozialer Wandel voller Eigensinn und Unbestimmtheit steckt, gilt heute auch unter NGOs ein businessorientiertes Management als Beleg für Professionalität.  Nichts gegen präzise Planung. Aber was folgt daraus, wenn die Ziele eines Projektes „messbar, realistisch und terminiert“ sein sollen, wie es einschlägige Managementschulungen, etwa die SMART-Kriterien fordern, die auch unter NGOs hoch im Kurs stehen? Können solche aus der Warenproduktion stammende Orientierungen im Kampf gegen die Ursachen von Krisen, gegen die strukturelle Armut und ungerechte Macht- und Herrschaftsverhältnisse helfen? Mit der Beschränkung des eigenen Handelns auf pragmatische und zeitnah zu erreichende Ziele fallen große Ziele, wie etwa die Demokratisierung der Verhältnisse oder die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit weg. Die Gefahr, die im pragmatischen Handeln liegt, ist seine Ent-Politisierung. Dann geht es nicht mehr um die Beseitigung der Ursachen von Hunger, sondern um das Verteilen von Nahrungsmittelhilfe, das sich effizient planen lässt.  

NGOs existieren nicht außerhalb kapitalistisch verfasster Gesellschaften. Auch sie unterliegen ökonomischen Zwängen, müssen Gehälter bezahlen und Budgets sichern: Zwänge, die mit der Größe der Organisation zunehmen und schließlich dafür sorgen können, dass politische Ziele hinter denen der Ökonomie zurücktreten.

Deutlich wird das z.B., wenn NGOs im Zugang zu Spenden oder öffentlichen Fördermitteln miteinander konkurrieren und dann nicht immer solche Projekte präsentieren, die politisch geboten wären, sondern solche, die sich gut verkaufen lassen.

Komplexere Zusammenhänge, wie z.B. die Schaffung gerechter Welthandelsbeziehungen oder ein nachhaltiger Klimaschutz lassen sich öffentlich weniger gut vermarkten wie emotional aufgeladene Aktionen, etwa die Rettung der Wale. Nähe ist gefragt: der „Human Touch“. Die Erwartungen, die sich in der Öffentlichkeit in den zurückliegenden Jahrzehnten herausgebildet haben, drehen sich stärker als früher um individuelle Befindlichkeiten.    

Die Währung, die auf dem Spendenmarkt zählt, ist Glaubwürdigkeit und die ist heute mit kleinen und Unmittelbarkeit suggerierenden Projekten einfacher zu erzeugen als mit politischen Forderungen. Die „neue Sensibilität“, die Marcuse als Voraussetzung für den Ausbruch aus einer bürokratisch verwalteten Welt gefordert hat, zeigt sich hier in einer verkürzten, hoch problematischen Weise

Also alles nur Mist?

Nein, definitiv nicht. Nach wie vor liegt im Drängen auf Selbstbestimmung die Hoffnung auf Veränderung. Revolution ist noch immer als eine Summe von Bürgerinitiativen, ein sich zusammenfügendes Gebilde von zivilem Ungehorsam zu verstehen, wie es Negt formuliert hat.

Allerdings muss der Kampf für Selbstbestimmung von Aktivitäten begleitet werden, die auf die Schaffung öffentlicher Institutionen drängen, die Selbstbestimmung ermöglichen und sichern. Der fundamentale Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft lässt nicht durch schlichte Verneinung von Gesellschaft lösen.

Es ist die Balance zwischen Selbstbestimmung und sozialer Sicherheit, die es zu finden gilt. Notwendig ist die Emanzipation der Einzelnen  u n d  der Gesellschaft. Und wie problematisch es ist, Emanzipation nur in Bezug auf die Einzelnen zu sehen, zeigen die zurückliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen.

Denn die Idee der Eigenverantwortung steht bekanntlich auch im Zentrum der neoliberalen Ideologie. Wenn jede und jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht, so das neoliberale Credo. „There is no such a thing as society” (Margaret Thatcher).  

In dem sich der Kapitalismus die Forderung nach Eigenverantwortung zu eigen gemacht hat, konnte er die Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge sehr viel leichter privatisieren, was in vielen Ländern des Südens zu ihrer nahezu vollständigen Abschaffung führte.

Für vermögende Menschen mag in der Idee der Eigenverantwortung ein Zugewinn an Freiheit stecken. Für weniger privilegierte und den sozial marginalisierte Menschen, die auf soziale Sicherungssysteme angewiesen sind, bedeutet dies eher eine Art „Vogelfreiheit“, eine Existenz bar jeder sozialen Sicherung, und damit sind nicht nur materielle Faktoren gemeint.

In dem, was Nancy Frazer einmal den „progressiven Neoliberalismus“ genannt hat, ist die Frage, wie der wachsenden sozialen Verunsicherung begegnet werden kann, viel zu kurz gekommen. Die Folgen sind höchst beunruhigend. Wachsende soziale Ausschlüsse gehören dazu und jene dramatisch zunehmende soziale Verunsicherung von Menschen, die zu den Haupttreibern der heute weltweit zu beobachtenden anti-demokratische Tendenzen zählt. Ohne die Einhegung des Kapitalismus kann Demokratie weder verteidigt noch weiterentwickelt werden. 

Nichts anderes hat Marcuse gesagt. Was er sich hingegen vielleicht nicht vorstellen konnte, war die erstaunliche Fähigkeit des Kapitalismus, zivilgesellschaftliches Engagement zur Überwindung eigener Legitimationsdefizite in Dienst nehmen zu können.

Die Beharrlichkeit, mit der die herrschenden Verhältnisse aller Kritik zum Trotz überdauern konnten, hat auch damit zu tun, dass sich Herrschaft in den Leuten selbst einnisten konnte. Den Erkenntnissen der psychoanalytischen Sozialwissenschaft folgend, verweist Marcuse im „Eindimensionalen Mensch“  auf die unheilvolle Identifikation von Menschen mit den Verhältnissen, in denen sie leben. Die bestehenden Verhältnisse erhalten sich nicht alleine durch Gewalt, sondern auch über die Identifizierung des Individuums mit der Realität, in diesem Falle mit der Realität kapitalistisch geprägter Gesellschaften. Marcuse nennt dieses Phänomen „Mimesis“. Nicht die vitalen menschlichen Bedürfnisse stehen im Vordergrund, sondern die aus der herrschenden Ökonomie vermittelten.

Theoretisch ist der Kapitalismus längst widerlegt; nicht zuletzt die gegenwärtigen Krisen lassen keinen Zweifel daran, dass er am Limit ist. Seine Prinzipien aber hat die Mehrheit der Menschen tief verinnerlicht. Vielen gelten Wachstum und Konkurrenz als alternativlos, ein ungezügelter Konsum von Waren als Ausdruck von Freiheit. Und auch die Akteur*innen der Zivilgesellschaft sind nicht vor solchen Identifikationen geschützt.

Ausblick

NGOs stehen heute am Scheideweg. Sie müssen sich entscheiden, ob sie Teil des Problems oder Teil der Lösung sein wollen.

Wenn sie sich ihrer Wurzeln in sozialen Bewegungen besinnen, können NGOs noch immer Unrecht und Herrschaft machtvoll herausfordern. Nicht von ungefähr wird zivilgesellschaftliches Engagement, werden NGOs heute von Machthabern in aller Welt bekämpft. Die Räume für demokratische Initiativen, die sich Ende des letzten Jahrhunderts geöffnet haben, werden seit einigen Jahren wieder enger.  

Nur zwölf Prozent der Weltbevölkerung lebt heute in Ländern, in denen Menschen weitgehend ungehindert ihre Meinung sagen, sich versammeln und gegen Missstände protestieren können. In 116 von 196 Staaten werden bürgerliche und politische Grundrechte massiv eingeschränkt[5]. Zwar sind zivilgesellschaftliche Akteure im Süden sehr viel stärker von solchen Einschränkungen betroffen, doch nehmen auch im Norden die Gefahren für die Demokratie zu.

Der Kampf gegen den weltweit zunehmenden Autoritarismus ist zu einer zentralen Herausforderung für zivilgesellschaftliche Akteure geworden. Auch NGOs haben daran mitzuwirken. Sie können Wissen über die Treiber der Rechtsentwicklung produzieren, sich in die Bildungsarbeit einmischen und Maßnahmen zur Bekämpfung der seit einigen Jahren so dramatisch zunehmenden sozialen Verunsicherung fordern. Die Verwirklichung eines würdevollen Lebens scheitert nicht am Mangel an Ressourcen. Mit den vorhandenen landwirtschaftlichen Produktionsflächen ließen sich heute 10-12 Mrd. Menschen ausreichend ernähren, nahezu das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung. Auch wäre es längst möglich, allen Bewohner*innen dieses Planeten ein monatliches Grundeinkommen zu zahlen. Die Welt schwimmt förmlich im Geld; aufgrund verfehlter Steuerpolitik ist es nur nicht dort, wo es gebraucht wird. Und was spricht gegen die Einführung eines „Global Social Security Fund“, der allen Menschen überall auf der Welt, ungeachtet ihrer nationalstaatlichen Zugehörigkeit und ihrer privater Kaufkraft, Zugang zu einer angemessenen sozialen Infrastruktur ermöglicht: zu Bildung und Gesundheit, Kinder- und Alterssicherung.

Die Radikalität eines solchen Ansatzes liegt vielleicht nicht in der einzelnen Forderung, aber diese gebündelt in einem strategischen Konzept zusammengeführt, in einer umfassenden Vision einer emanzipierten Gesellschaft, kann er die Kraft entfalten, die zur Bekämpfung der herrschenden strukturellen Gewalt vonnöten ist.

Und an dieser Stelle kommt erneut die Idee der Selbstorganisation ins Spiel. Mit Blick auf das tendenzielle Scheitern der multilateralen Institutionen bedarf es eines kosmopolitischen Neuanfangs von unten. Es gilt, den anfangs erwähnten Wirtschafts- und Sozialrat der UN vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem weltweit Menschen in lokalen Foren zusammenkommen, um gemeinsam zu klären, was zur Überwindung der voranschreitenden sozial-ökologischen Krise zu tun ist. Und es muss sich viel ändern, wenn die Idee der Menschenwürde für alle gelten soll: die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, das Konsumentenverhalten, mit anderen Worten: unsere gesamte Lebensweise. Und wie anders sollte der Weg führen, als von unten nach oben?

Demokratie lebt von zivilgesellschaftlicher (Gegen)-Macht. Und dies in einem doppelten Sinne. Eine starke und selbstbewusste Öffentlichkeit ist nötig, um demokratische Verfahren und Institutionen durchzusetzen. Und sie wird auch gebraucht, um darüber zu wachen, dass die so entstandenen Institutionen nicht wieder Teil einer bürokratisch verwalteten Welt werden. Das Ziel ist die Schaffung einer emanzipierten Gesellschaft, die jene Verfahren und Institutionen vorhält, die allen Menschen überall auf der Welt die Chance gibt, ihr Leben selbstbestimmt gestalten können.


[1] Negt, Oskar: Wandlungen im Begriff der Revolution. In: Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt a.M. 1992, S. 75-88.

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/158268/umfrage/entwicklung-der-anzahl-von-ngos-weltweit-seit-1948/

[3] Vgl. Gebauer/Trojanow: Hilfe? Hilfe! – Wege aus der globalen Krise, Frankfurt a. M.  2018, S. 107ff und S. 135

[4] Vgl. Gebauer/Trojanow, ebenda S. 162ff 

[5] vgl. Atlas der Zivilgesellschaft 2022, https://www.brot-fuer-die-welt.de/themen/atlas-der-zivilgesellschaft/

Der Beitrag von Thomas Gebauer ist die Keynote des Panels „Political Practice of (New) Social Movements and the Power(lessness) of NGOs“und ist ein Vorabdruck des Konferenzbandes, der Ende des Jahres 2024 erscheinen wird. Das Panel war einer von zehn thematischen Diskussionsrunden, die im Rahmen der 10. Konferenz der Internationalen Herbert Marcuse Society (IHMS) mit dem Titel „Critical Theory in Motion – Dance into Multidimensionality“vom 5.- 8, Oktober 2023 im Studierendenhaus der Goethe Universität (Campus Bockenheim) stattfand. Sie wurde sowie von hauptverantwortlichen Organisatoren Inka Engel (Universität Koblenz) und P.-E. Jansen (Hochschule Koblenz),  der auch einer der Gründungsdirektoren der IHMS ist und Finn Gölitzer (ASTA Ffm) organisiert.