Kai Lindemann
In den letzten Jahrzehnten hat die Sozialanthropologie enorme Fortschritte gemacht und spannende, erkenntnisreiche Monographien vorgelegt. Das ist in erster Linie der Entwicklung der Paläogenetik zu verdanken, mit der neue und alte Funde von verstorbenen Individuen bezüglich Geschlecht, Herkunft und Lebensweise präziser eingestuft werden konnten und damit alte Interpretationen widerlegt wurden. Aber auch neue digitale Techniken zur Lokalisierung bedeutender Ausgrabungsstätten haben einige spekulative Annahmen der Disziplin geschärft.
Inzwischen wissen wir, dass die sogenannten Jäger -und Sammler-Gesellschaften gesünder und gleicher gelebt haben. Sie waren größer als Menschen heute, mussten weniger für ihre Reproduktion arbeiten, führten keine Kriege, kannten keine Geschlechterhierarchie, haben behinderte Menschen ihrer Gemeinschaft verehrt und regelmäßig fremde Menschen unter sich aufgenommen. Das klingt nach dem „Urparadies“, das in vielen Religionen und Ideologien eine bedeutende Referenzfolie bildet. Denn die neuen Ausgrabungsbefunde vor der sogenannten „Sesshaftigkeit“[1] geben uns keine Anhaltspunkte von Gewalt, Ungleichheit, Herrschaft oder Ausgrenzung. Allenfalls ist eine temporäre Dominanz bestimmter Individuen ersichtlich, wie sie auch bei unseren nächsten Verwandten den Schimpansen und Bonobos vorkommt.
Was ist geschehen im Zuge des langen Prozesses der Sesshaftigkeit? Dieser Frage haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten viele Sozialwissenschaftler angenommen. Zur Frage nach der Staatsentstehung sind James Scott[2] und David Graeber[3] hervorzuheben. Beide haben sich auf die Entstehung von Herrschaftstechnologien der menschlichen Gesellschaften im Übergang zur Sesshaftigkeit konzentriert. Die Rede ist von den Ur-Staaten in Mesopotamien oder Nordamerika. Hierbei sind nicht nur die frühen Formen der saisonalen Sesshaftigkeit, als auch die zum Teil karnevalesken Legitimationen von Dominanz von großem Interesse bei der Betrachtung des Übergangs zu gewaltförmigen Staaten in der frühen Bronzezeit.
Nun hat der australische Sozialanthropologe Luke Kemp ein großes Werk mit dem Titel „Goliath’s Curse, the History and Future of Societal Collapse“ vorgelegt. Das klingt schon weit mehr nach Dystopie als nach neuen analytischen Erkenntnissen. Doch dieser Weg muss nicht deprimierend sein, schließlich sind gesellschaftliche Zusammenbrüche, ob als failed state oder Bürgerkrieg, ein wiederkehrendes Muster der Menschheitsgeschichte. Nur selten werden sie herrschaftstheoretisch betrachtet, meist werden sie in der Rückschau auf externe Effekte wie Seuchen oder Klimakatastrophen reduziert. Der historische Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels, eigentlich als Hypothese formuliert, hat sich dem Thema mit dem Begriff des Klassenkampfs angenommen und lag in der Ursachendiagnose der überspitzten Ungleichheit, historisch betrachtet nicht falsch. Auch ohne sozialen Kollaps macht uns gegenwärtig die überspitzte Ungleichheit in fast allen Gesellschaften des Planeten Angst.
Kemp entwickelt aber zu Beginn seines Buchs eine sehr optimistische These, die sich auf das oben erwähnte „Urparadies“ bezieht und uns im Laufe der letzten 10.000 Jahre nie verlassen hat. Für ihn sind weder Markt (glaubt man heutzutage), noch Krieg (glaubten unsere Großeltern), noch Mühsal und Leid (glaubten die Großeltern unserer Großeltern) ein ewiges Naturverhältnis. Für Kemp sind Demokratie und Gleichheit das Naturverhältnis der Menschen, das sie in sich tragen, weil die Gewissheit, dass solidarische Kooperation ihre Reproduktion sichert, nie verschwunden ist. Schließlich hat die Menschheit bis auf die letzten zehntausend Jahre die meiste Zeit unter diesem Naturverhältnis erfolgreich existiert. Nicht nur in dieser Annahme, auch in vielen weiteren herrschaftskritischen Begriffen besitzt Kemps Werk Analogien zur Frankfurter Schule[4]. In den Vorarbeiten zur Dialektik der Aufklärung hat Horkheimer oft auf die „wahre Demokratie“ Bezug genommen und Alfred Schmidt hat mit seinem Urteil, die Dialektik der Aufklärung sei eine „Anthropologie des Tauschprinzips“ sogar eine Disziplinnähe konstatiert.
Zweifellos ist Kemp kein kritischer Theoretiker und seine Argumentation ist auch nicht sehr dialektisch, was ihr wiederum an einigen Stellen sogar sehr gutgetan hätte. Kemp verbindet vielmehr eine Theorie des Staates mit den neuesten empirischen Befunden der Sozialanthropologie und historischen Archäologie. Zu einer dieser Beobachtungen zählt die Frage, wie aus der oft temporären Dominanz in einer Gruppe, wie wir sie auch bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, Bonobos oder auch Gorillas sehen, eine hierarchische Struktur in staatsähnlichen Gebilden, also Rackets, entsteht.
Er sieht die Voraussetzung in der „status competition“ des ewigen Primaten Mensch, also dem Wettbewerb um Anerkennung und darauf aufbauend um Liebe und Nahrung. Hier sieht Kemp die „Ursuppe“ der verhängnisvollen Herrschaftstechnologien der Sesshaftigkeit. Denn nicht nur der Sieg im Wettbewerb ist entscheidend, sondern auch der Umgang der Gemeinschaft mit dem gedemütigten Individuum in der Niederlage. Ein Mechanismus, der heutzutage im sportlichen Wettbewerb noch funktioniert, auf dem Arbeitsmarkt weniger. Eine zivilisierte Gemeinschaft zeichnet sich für Kemp dadurch aus, dass sie das „Recht des Stärkeren“ einhegt und gleiche Chancen permanent garantiert.
Eigentlich ist das „Recht des Stärkeren“ erst durch die Sesshaftigkeit entstanden, denn zuvor hätte sich jedes Individuum mit diesem Anspruch vor der Gemeinschaft lächerlich gemacht[5]. Wir Sesshaften unterscheiden uns von anderen Primaten im Horten von Ressourcen für die Reproduktion. Affen horten keine Lebensmittel auf lange Zeit, die den gesellschaftlichen Status dominanter Individuen auf Dauer absichern könnte. Das haben die Menschen aber seit der Sesshaftigkeit getan.
Reis und Weizen sind die besten plünderbaren Ressourcen (lootable ressources) des frühen Neolithikums. Sie waren die Grundlage der frühen Staatsbildung mit Mustern ideologischer Legitimation. Schon James Scott hat darauf hingewiesen, dass die Getreidespeicher dieser frühen Staaten oft neben religiösen Zentren lagen und wie im frühen Ägypten die Herrscher zugleich religiöse Führer waren. Hier beginnt sich der Herrschaftskomplex Goliath zu füttern. Kemp wählt mit dem Goliath einen dieser „Silo-Begriffe“ der Neuzeit, wie sie als Multitude, Gouvernementalität oder Moderne geläufig sind. Sie sind halb Mythos, halb Wahrheit und sollen die Wirklichkeit begreifen helfen. Der Goliath ist solch ein Begriff, entlehnt aus der Bibel, hat er seinen Widerpart in David. Und es braucht nicht lange um zu erkennen, dass die Allgemeinheit, ihre oft ungeschriebene Geschichte, mit dem David gemeint ist.
Die plünderbaren Ressourcen sind neben dem Gewaltmonopol und Landbesitz der Treibstoff des Goliaths, der oft mit seinen Beherrschungstechnologien experimentiert. Die Unterschiede halten sich aber in Grenzen, und die Ähnlichkeiten von Pyramiden, über Menschenopfer bis hin zur Sklavenwirtschaft sind zwar zufällig, besitzen aber scheinbar historische Analogien in der Dynamik von Unterwerfung und Widerspenstigkeit. Nur die „lootable Ressources“ veränderten sich über die Jahrtausende ebenso wie die Kriege zwischen den Staaten. Heute zählen zu den „lootable ressources“ auch die Daten der großen Tech-Konzerne des Silicon-Valley. Hieran wird schon deutlich, dass es Kemp nicht um einen klassischen Staatsbegriff geht. Er kritisiert sehr vehement die staatstheoretische Tradition des Westens in Form von Hobbes und Machiavelli, die beide für ihn eher banale Legitimations-Ideologien von Gewalt darstellen. Für Kemp geht es um die Urform der sesshaften Gewaltakteure und das sind Rackets. Und auch hier besitzt Kemp wieder diese interessante Analogie zu den Racketschriften aus den Vorarbeiten der Dialektik der Aufklärung. Dort wurde der Racketbegriff zur Erweiterung der statischen Annahmen des historischen Materialismus eingeführt. Und genau davon redet Kemp, wenn er über gesellschaftliche Zusammenbrüche aus der Geschichte schreibt. Der Kollaps ist nicht die Dystopie, auch wenn wir es aus „Herrschaftserzählungen“ so glauben. Für Kemp ist „Mad Max“ historisch nicht haltbar.
Vielmehr ist ein anderes Entwicklungsszenario immer wieder zu beobachten: Nach dem Kollaps der Herrschaftsinstitutionen eines Staates entwickelt sich eine demokratische und egalitäre Gesellschaft[6]. Dann folgt eine Kaperung der schwachen Gemeinschaftsinstitutionen durch Rackets. Die Gesellschaft wird autoritärer, klassen- und gewaltförmiger (samt Menschenopfer, Inquisitionen, Kriegen etc.) bis sie wieder aufgrund der massiven Ungleichheit kollabiert, oft unterstützt durch Seuchen oder klimatische Verwerfungen (wie Dürren), auf die instabile Gesellschaften anfälliger reagieren. Dann beginnt der Zyklus mit dem Aufbau einer kooperativen Gesellschaft von neuem. Natürlich ist das nur ein Muster, das sich jedoch oft beobachten lässt. Im heutigen, globalen Kapitalismus wäre solch ein Zusammenbruch allerdings fataler – das verschweigt auch Kemp uns nicht, auch wenn er durchaus Auswege sieht.
In Zeiten der Gegenaufklärung tut ein derartig stichhaltiges, argumentativ äußerst überzeugendes und umfassendes Werk sehr gut. Es diskreditiert die banalen, zeitgenössischen Ideologien der Leistungsgesellschaft, die viele Menschen verinnerlicht haben. Die Grundthese dieses Buchs bringt uns zurück zu unserem eigentlichen Auftrag, Gleichheit und Demokratie weitab von kapitalistischen Zwängen zu denken, damit wir kooperativ und ohne „Gewalt und Betrug“[7] die existenziellen Herausforderungen effektiv bewältigen können. Kemp hat keine Weltformel geschrieben, aber auf seine Gedanken können viele Menschen, denen es um Gerechtigkeit und Freiheit geht, aufbauen.
Kritisch ist an Kemps Werk durchaus die geringe Thematisierung der Klassen- oder auch Standesverhältnisse zu betrachten, die jeden Staat stützen. Hier sind Graeber und Scott weiter, schließlich braucht jede Herrschaftsform nicht nur die Legitimation durch die Unterworfenen, sondern auch die Zusicherung ihres Beuteanteils – sonst funktioniert sie nicht. Es hätte dem Begriff Goliath gut getan, wenn er nicht nur von der Pyramidenspitze aus gedacht wäre, sondern auch seine Wirkung auf lokale Gemeinschaften im Fokus gestanden hätte. Und staatliche Föderation ist mindestens genauso wichtig zu thematisieren wie die Konkurrenz und Kooperation der Rackets. In seinen Ausführungen über die Ursprünge des europäischen Kolonialismus kommt die Rolle der Kreuzzüge, der Reconquista und der Ritterorden viel zu kurz. Und in heutigen Zeiten des Neoliberalismus und seiner extremistischen Varianten ist auch der Staat selbst eine „lootable Ressource“ geworden. Das verschweigt er uns.
Aber diese Defizite schmälern nicht die Grundthese des Buchs und es ist zu wünschen das uns noch viele dieser großen Würfe der Sozialanthropologie in nächster Zeit beschert werden.
Nicht nur solange bleibt der letzte Satz aus Kemps Buch Gewissheit:
„Revolutions begin where myths end; Goliaths ends when civilization begins.“
Luke Kemp, Goliath’s curse, The history and future of societal collapse, London 2025; Penguin
[1] Bewusst vermeide ich den Begriff „neolithische Revolution“, weil sich selten Revolutionen über 2 Jahrtausende hinziehen, wie in diesem Fall.
[2] James C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Frankfurt 2017, Suhrkamp
[3] David Graber, David Wengrow, Anfänge, Stuttgart 2021, Klett Cotta
[4] Hier sei auf die Monographie des Rezensenten verwiesen: Kai Lindemann, Die Politik der Rackets, Zur Praxis der herrschenden Klassen, Münster 2024
[5] Manchmal erinnern wir uns an dieses Moment und das nicht nur an Karneval.
[6] Die englische Gesellschaft im 14. Jahrhundert nach der Pest ist eines der berühmtesten Beispiele hierfür.
[7] Für Barrington Moore ist die menschliche Geschichte der Neuzeit eine ewige Abfolge von „Gewalt und Betrug“: Barrington Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt 1982 Suhrkamp