Ludwig Erhard war nicht der Vater der Sozialen Marktwirtschaft, aber vielleicht die Streikbewegung deren Mutter

von Rudolf Walther

Um die Fragen: „Wann wurde die soziale Marktwirtschaft eingeführt?“ und „Wer hat sie erfunden?“ ranken sich seit 70 Jahren jede Menge Legenden und Mythen. Die plumpste stammt von ihren vermeintlichen Ahnherrn und Erfinder. Schon im Wahlkampf  1957 bezeichnete sich nämlich Ludwig Erhard als „Initiator der sozialen Marktwirtschaft“. Nichts ist verfehlter als das, auch wenn Propagandafirmen wie die „Initiative Soziale Marktwirtschaft“ das bis heute bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in ganzseitigen Anzeigen der großen Tageszeitungen plakatieren.

Der Historiker Uwe Fuhrmann zeichnet die Herausbildung der sozialen Marktwirtschaft in den Jahren 1948/49 akribisch nach und entdeckt dabei Neues bzw. bislang Unterschätztes. Das ist das Verdienst des über weite Strecken sehr interessanten Buches, das mit Mythen und Legenden rund um die Marktreligion gründlich aufräumt.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierten zunächst Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie, Mitbestimmung bzw. Sozialisierung und Verstaatlichung die politische Debatte – vor allem in den Gewerkschaften, die mit 4,6 Millionen Mitgliedern die mit Abstand stärkste gesellschaftliche Organisation waren. Die SPD forderte am 15.6.1945 „Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft“. Und in den „Kölner Leitsätzen“ der CDU von 1945 hieß es, Eigentumsverhältnisse seien „nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohls“ zu regeln. Der erste Satz im Ahlener Programm (3.2.1947) der CDU  lautete bekanntlich: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“. In den Artikeln 37 und 41 der Hessischen Verfassung vom 1.12.1946 sind noch Spuren dieser Frühgeschichte vorhanden. „Die tatsächlichen Auswirkungen der Sozialisierungsbestimmungen hielten sich aber (…) in engen Grenzen“, wie der Autor zu Recht festhält.

Spätestens mit der Truman-Doktrin vom 12.März 1947, also dem Beginn des Kalten Kriegs, stand die Politik der Besatzungsmächte in den westlichen Zonen unter dem Imperativ und Kampfbegriff „Freiheit“. Dazu zählte an prominenter Stelle unbeschränktes „Privateigentum“, daneben und darunter „persönliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung“. Die Doktrin propagierte „Freiheit“ als „alternative Lebensform“ zur Lebensform unter „Terror, Unterdrückung, Zensur, manipulierten Wahlen und dem Entzug persönlicher Freiheiten“, wie es im Text wörtlich heißt. Die „Freiheit der Wirtschaft“ erscheint in der Doktrin nicht explizit, ist aber ohne Zweifel mitgemeint. Die Abwehr jeder Form von sozialistischen Tendenzen und die antikommunistische Hysterie gehörten deshalb von 1947 an zur Grundausstattung nicht nur der Politik der Besatzungsmächte, sondern auch zu der der deutschen Behörden im Vereinigten Wirtschaftsgebiet (VWG, Bizone) mit ihrem am 25.6. 1947 gegründeten Wirtschaftsrat (WR), der zunächst aus 52, später aus 104 Delegierten der Länder bestand. Dieser Wirtschaftsrat verabschiedete 171 Gesetze von denen 150 in den Bestand der 1949 gegründeten BRD übergingen.

Nur einige militante linke Gewerkschafter wie Fritz Lamm („Thomas-Müntzer-Briefe“, „Der Funken“), Viktor Agartz (DGB) oder Eugen Eberle (Betriebsrat bei Bosch in Stuttgart) und die Gruppe „Arbeiterpolitik“ protestierten gegen die Gewerkschaftsführungen, die sich auf einen politischen Kurs einigten, der den Vorrang von Wohlstand und parlamentarischer Demokratie  zur Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung vor den systemsprengenden Zielen und Strategien – Demokratisierung und Sozialisierung – festschrieb. Den zahlreichen lokalen und regionalen Streiks begegneten nicht nur die Besatzungsmächte skeptisch, sondern auch die Führungen der Gewerkschaften, allen voran Hans Böckler, der den Streikenden  mit der Ermahnung entgegentrat, „die Wirtschaft vor weiteren Störungen“ zu bewahren.

Nachdem Johannes Semler (1898-1973) von der CSU als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone den von den USA gelieferten und von den Deutschen bezahlten Mais am 4.1.1948 als „Hühnerfutter“ bezeichnet hatte, setzte ihn die Militärregierung ab und berief am 2.3.1948 Ludwig Erhard als Nachfolger. Dieser organisierte die Währungsreform am 20.6.1948. Mit „salbungsvollen Worten und unkonkreten Aussagen“ (Fuhrmann) umschrieb Erhard sein politisches Ziel als „freie Marktwirtschaft“ und Mittelweg zwischen dem „Bewirtschaftungssystem“ und „liberalistischen Wirtschaftsformen“, zwischen einem „Termitenstaat“ und „Anarchie“. Die Währungsreform vernichtete Bar- und Buchgeldbestände von Privaten (aber nicht jene von Unternehmen), hob Preisbindungen weitgehend auf, schaffte Bezugsscheine und Produktionsvorgaben ab, behielt aber den Lohnstopp bei. Sachwerte und Immobilien wurden vom Geldschnitt verschont. Trotz der empörenden sozialen Asymmetrie der Reform hielt Erhard an seiner Rosskur-Devise  zunächst fest: „Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch“.

Mit dem gegen die SPD und KPD durchgesetzten „Leitsätzegesetz“, das in der  Presse und bei den Behörden bedenkenlos und ohne Anführungszeichen als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet wurde, geriet Erhard in die Position eines „Wirtschaftsdiktators“, der die „freie Marktwirtschaft“ durchdrückte. Deren erstes Resultat waren enorme Preissteigerungen. Die Reaktion darauf blieb nicht aus: Proteste und Streiks gegen die soziale Schieflage im ganzen Land, zunächst spontan in Eier- und Kartoffelschlachten auf Wochenmärkten, dann gewerkschaftlich koordiniert mit Boykottaufrufen und der Forderung nach Preiskontrollen und dem Ende des Lohnstopps. 

 Ein Schlüsseldatum in dieser monatelang dauernden Protestwelle ist eine gewerkschaftlich initiierte Aktion am 28.10.1948 in Stuttgart mit über 100 000 Teilnehmern. Die Kundgebung artete in Tumulten aus, nachdem ein mehrfach vorbestrafter Besitzer eines Luxusladens die Demonstranten verhöhnt hatte. Die US-Militärpolizei griff ein, 17 Menschen wurden verhaftet, ein Demonstrant von einem US-Militärgericht zu zehn (!) Jahren Haft verurteilt. Der Oberbefehlshaber Clay verhängte eine Ausgangssperre und ein Versammlungsverbot. Die Ereignisse von Stuttgart wirkten wie ein Fanal. Am 12.11.1948 kam es zum letzten politisch motivierten, auf Druck der Basis gewerkschaftlich organisierten Generalstreik in der Bizone, dem der DGB den Stachel zu ziehen versuchte, indem er ihn als „Manifestation gewerkschaftlichen Willens“ und „Arbeitsruhe“ herunterspielte. 

Der politische Druck nach der Währungsreform mit dem Generalstreik als Höhepunkt führte dazu, dass der Lohnstopp  aufgehoben wurde und Erhard als Prophet der „freien Marktwirtschaft“ zu Konzessionen und Korrekturen an seinem dogmatischen Korsett gezwungen wurde. Es folgten ein Gesetz gegen Preistreiberei, die Pflicht, in Geschäften Preislisten auszuhängen, ein Programm zum Recycling von ehemaligen Rüstungsgütern für den zivilen Bedarf  (Aluminium, Motoren, Stahlschrott, Textilien), eine Verordnung für Höchstpreise und das „Jedermann-Programm“, mit dem der Staat den Firmen Rohstoffe zuteilte und die Preise für die Endprodukte  („Jedermann-Ware“) festlegte. Diese Korrekturen markieren das offensichtliche Scheitern des doktrinären Konzepts „freie Marktwirtschaft“ sowie den schleichenden Übergang zur jetzt erst „soziale Marktwirtschaft“ genannten Wirtschaftsform.

Die politische Pointe dieses Übergangs liegt darin, dass er nicht als Sieg von Gewerkschaften und linken Parteien über den liberalen Dogmatismus erkannt wurde. Vielmehr kassierten puristischen Markt-Doktrinäre den Sieg im Namen der „Freiheit“, im Windschatten des Kalten Krieges und dank der semantischen Annexion des Wortes „sozial“ für ihre Politik. Erhard kaschierte den schleichenden Übergang und sprach weiterhin von „freier Marktwirtschaft“, obwohl er in der Praxis längst davon abgerückt war und insbesondere mit dem populären „Jedermann-Programm“ eine ausgesprochen bürokratische, staatlich dirigierte Form von Produktion und Distribution eingeführt hatte. Nach der Schulmeinung bescherte Erhard der im Entstehen begriffenen Bundesrepublik mit der Währungsreform zugleich die „soziale Marktwirtschaft“. Davon kann überhaupt kann Rede sein. Ein einziges Mal sprach er nach der Reform – mehr en passant als programmatisch – am 17.8.1949 von „sozialer Marktwirtschaft“ und blieb sonst bei der alten Terminologie: „freie Marktwirtschaft“. Das Datum der Vereinnahmung des Begriffs „soziale Marktwirtschaft“ durch Erhard und die CDU lässt sich genau feststellen. Erst nach den Protesten und dem Generalstreik sprach er am 25.2.1949  von „sozialer Marktwirtschaft“ zur Überwindung der „noch bestehenden sozialen Spannungen“ durch eine „organische  und gerechte Ordnung“. Er  schuf damit die programmatische Grundlage für die „Düsseldorfer Leitsätze“ vom 15.7.1949, die den Begriff übernahmen und mit diesem Slogan für die CDU den ersten Bundestagswahlkampf bestritten. „Leitsätze“ nannte man die Wahlkampfplattform, um zu vertuschen, dass mit den „Leitsätzen“ das Ahlener  Parteiprogramm von 1945 begraben wurde und mit diesem der antikapitalistische Kern. Jetzt beschwor die CDU die These, Wettbewerb sei per se sozial: „Wer frei sein will, muss sich dem Wettbewerb stellen“. Adenauer musste man die neue Sprachregelung „soziale Marktwirtschaft“ regelrecht nachtragen, denn er bevorzugte die im Kalten Krieg beliebte, demagogische Scheinalternative „bürokratische Planwirtschaft“ oder „Markwirtschaft“. Mit dem Erfolg: bei den ersten Bundestagswahlen am 14.8.1949,  bei denen „soziale Marktwirtschaft“ als CDU-Slogan fungierte, verbreitete sich der Begriff in den Medien, wurde zum Markenzeichen der CDU und zur Gründungslegende des neuen Staates. Hinter dem Slogan stand kein ausformuliertes wissenschaftliches oder auch nur politisches Konzept und schon gar keine bewährte Praxis, sondern einzig und allein eine Improvisation im politischen Handgemenge des Wahlkampfs. Mit dieser Improvisation verschaffte sich der Markt-Dogmatismus, der mit seinem Konzept einer „freien Marktwirtschaft“ auf hartnäckigen politischen Widerstand von linken Parteien und Gewerkschaften gestoßen war, mehr politischen Bewegungsspielraum und Wählerstimmen.

Uwe Fuhrmann präsentiert dieses Resultat mit dem Satz: „Erhard (als Akteur) hat Erhard (als Element des Dispositivs) erfolgreich readjustiert“. Das versteht zwar kein Mensch, macht aber vielleicht in ausgewählt-eingeweihten Kreisen Eindruck. Der Satz beruht auf der dekorativen Überwölbung einer beeindruckenden Fakten- und Quellenkenntnis mit einer glitzernden methodischen Apparatur aus allerlei Foucault-, Agamben-, Gramsci- und Žižek-Versatzstücken sowie Leihgaben einiger sekundärer Diskurstheoretiker. Das brachte dem Autor wohl akademische Initiationsweihen ein, aber der Überbau trübt die Sache mehr, als er sie erhellt. Um zu dem Ergebnis zu gelangen, das im Kern bereits 1982  im Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ stand, ist der barocke Firlefanz aus „Dispositivanalyse“, „Äquivalenzketten“, „Readjustierungen“ und „Sinn-Erbe“ weder nötig noch sinnvoll.

Rudolf Walther

Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine Historische Dispositivanalyse, UVK Verlag, Konstanz 2017, 359 S., € 39.–

(Anm. der Redaktion: Die Rezension von R. Walther erschien zuerst in „express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, Nr.4, 2019)