Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur

AG links-netz (Oliver Brüchert, Sonja Buckel, Joachim Hirsch, Eva-Maria Krampe, Alexandra Manzei, Christine Resch, Christa Sonnenfeld, Heinz Steinert. Textfassung: Joachim Hirsch und Heinz Steinert)

In Deutschland wurde Neoliberalismus in der Sozialpolitik von der rot-grünen Koalitionsregierung 1998–2005 durchgesetzt. Die Marke „Hartz IV“ erinnert an den Manager-Freund des damaligen Bundeskanzlers Schröder. Die nachfolgenden Bundesregierungen aller Couleur und die Unternehmer blieben daran, das fordistische Reglement der sozialen Sicherung in seinen Kernelementen zu schleifen. Trotz allgemeiner Unzufriedenheit hat sich dagegen bisher kein schlagkräftiger politischer Widerstand entwickelt. Darin drücken sich die mit dem Siegeszug des Neoliberalismus veränderten politischen Kräfteverhältnisse aus. Angesichts dessen, dass sich die Gewerkschaften weitgehend in das neoliberale Projekt haben einbinden lassen und die SPD selbst noch in der Opposition zu dessen entschiedensten Verfechtern gehört, wären dazu ganz neue politische Organisations- und Artikulationsformen notwendig.

Dies auch deshalb, weil es offenbar schwer fällt, den Sozialstaat in seiner herkömmlichen Form zu verteidigen. Sein disziplinierender, ausgrenzender und diskriminierender Charakter ist durchaus bewusst. Schon historisch, in Deutschland also seit Bismarck, war er keineswegs nur eine soziale „Errungenschaft“, sondern zugleich auch ein Mittel, gesellschaftliche Kämpfe stillzustellen und politische Selbstorganisation zu verhindern. Aktuell wächst das Bewusstsein, dass seine Grundlagen infolge der rasanten ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen nachhaltig zerbröseln. Die weltweite Finanzkrise, die seit 2008 anhält, hat die Staatsschulden erhöht, was weiteren Anlass zu Sozial-Kürzungen geben wird. Die Finanzwirtschaft wurde auf Kosten der zukünftigen Sozialleistungen saniert. Neoliberale Gesellschaftsvorstellungen und Weltbilder herrschen vor, in denen gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen mit ihren krisenhaften Folgen zu einer Angelegenheit der einzelnen „selbstverantwortlichen“ Individuen erklärt und ihre anpassungswillige Opferbereitschaft eingefordert wird.

Das „links-netz” versteht sich als Teil eines Diskussionszusammenhangs, der darauf abzielt, die Denkschablonen des traditionellen Staatsreformismus zu überschreiten. Es wäre einiges gewonnen, wenn es gelänge, die Ideen und Überlegungen einiger versprengt agierender WissenschaftlerInnen, von Intellektuellen, die dazu in der Lage sind, der vielfältigen Gruppen von „Betroffenen“ und auch die der Dissidenten innerhalb der bestehenden Apparate miteinander in Beziehung zu bringen. Dass eine andere Welt, oder besser gesagt: eine andere Gesellschaft möglich ist, bedarf der Konkretion für spezifische Politikfelder. Der hier vorgelegte Entwurf für eine „Sozialpolitik als Bereitstellen von gesellschaftlicher Infrastruktur” ist ein Vorschlag, Sozialpolitik von ganz anderen Grundvoraussetzungen her zu denken.

Inwieweit und wie die nachfolgend vorgestellten Überlegungen realisierbar sind, lassen wir deshalb erst einmal offen. Das ist eine Frage der politischen Praxis. Emanzipative Gesellschaftsveränderung, und sei sie auch nur schrittweise, ist ohne das Denken in radikalen Alternativen nicht möglich. Ob und inwieweit sie sinnvoll sind, ergänzt oder verändert werden sollten, bleibt eine Frage der Diskussion und der praktischen Erfahrung. Es geht erst einmal darum, die möglichen Dimensionen einer anderen, demokratischeren und vernünftigeren Form des gesellschaftlichen Lebens konkreter auszuleuchten.

Unsere Absicht ist es, einen realistischen, insofern auch realpolitischen Entwurf vorzulegen, an dem sich sozialpolitische Überlegungen und Maßnahmen messen lassen müssten. Es geht dabei um eine sowohl soziale als auch demokratische, also sozusagen um eine tatsächlich „sozial-demokratische“ Sozialpolitik, ohne den in der traditionellen Arbeiterbewegung und deren Parteien bis heute verbreiteten Arbeitsfetischismus zu teilen.

Die nachfolgenden Überlegungen sind als eine ausbuchstabierte Provokation gedacht. Es handelt sich um Vorschläge, die im Prinzip durchaus im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse realisierbar wären. Sie zielen aber zugleich darüber hinaus auf neue Formen der Vergesellschaftung. Diese könnten sich allerdings erst im Zuge der Kämpfe, Auseinandersetzungen, Debatten, konkreter Versuche und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der dabei gemachten Erfahrungen allmählich entwickeln. Soziale Verbesserungen müssen unter kapitalistischen Bedingungen immer wieder gegen mächtige Kapitalgruppen und die mit ihnen kooperierenden Ständeorganisationen erkämpft und verteidigt werden. Es geht uns darum, eine kritische Position in der Debatte zu formulieren und in diesem Sinne dem üblichen Dilemma von „Reform“ und „Revolution“, von „Realpolitik“ und abstrakter „Utopie“ zu entgehen.

In einer Situation, in der angesichts immer unhaltbarer werdender gesellschaftlicher Zustände Realismus als Utopie erscheint und in der das Bestehende zur Ideologie wird, ist es notwendig, konkrete Alternativen als Basis von Diskussions-, Auseinandersetzungs- und Lernprozessen auszubuchstabieren. Es geht um einen „radikalen Reformismus“ als Orientierungsrahmen für politisch-soziale Kämpfe, deren Dauer, Verlauf und Ausgang nicht vorhergesagt werden kann.

I. Zur Kritik der herrschenden Politik des Sozialstaats-Abbaus

Krise – welche Krise?

Die – nicht eben besonders goldene – Blütezeit des neoliberal gewendeten Kapitalismus ist längst vorbei. Es ist deutlich geworden, dass ökonomisches Wachstum, soweit es überhaupt stattfindet, weniger denn je allgemeinen Wohlstand, sondern eine verschärfte Polarisierung von Armut und Reichtum mit sich bringt. Unter den Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus beruht ökonomisches Wachstum geradezu darauf, diese Spaltungen immer weiter voran zu treiben. Der kapitalistische Traum immerwährender Prosperität währte auch diesmal ziemlich kurz. Nach dem Finanzcrash im Herbst 2008 lässt sich nicht mehr leugnen, dass sich die Weltwirtschaft in einer Krise von bisher kaum gekannten Ausmaß befindet, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Die von den USA ausgehende internationale Schuldenblase, die in der Art eines globalen deficit spending eine Zeit lang die Nachfrage stimuliert und einen allgemeinen Zusammenbruch verhindert hat, ist geplatzt. Mit der Krise werden wieder verstärkt zu hohe Lohn- und Sozialstaatskosten sowie „unflexible“ Arbeitsmärkte, „soziale Hängematten“ und „Leistungsverweigerung“ als Ursachen der Misere gehandelt. Zwar wird jetzt immerhin über die horrenden Managementfehler geredet, aber kaum von einer verfehlten Steuerpolitik und den Folgen der Art und Weise, wie hierzulande die Einverleibung der DDR vollzogen wurde. Die prekäre Finanzsituation des Staates, mit der demnächst weitere Einschnitte ins Sozialsystem begründet werden, ist jedoch nicht zuletzt das Resultat neoliberaler Steuerpolitik und somit Ergebnis einer politischen Entscheidung. Die sogenannte Finanzkrise hat das Problem noch verschärft. Die an die Lohneinkommen gebundenen sozialen Sicherungssysteme werden über die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse sowie die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, vor allem auch von der Einnahmeseite her, untergraben. All dies trägt entscheidend zur Destabilisierung der Sicherungssysteme bei. Private Lösungen bleiben nicht zuletzt wegen mangelnder privater Mittel auf der Strecke. Das neoliberalen Vorstellungen entsprungene Projekt einer auf Aktiensparen gegründeten privaten Altersvorsorge ist angesichts abstürzender Börsenkurse schlicht unsinnig. Insgesamt besteht die herrschende Politik in einem entschlossenen „weiter so“.

Einkommensreduktion als Lösung?

Die „Agenda 2010“ der Regierung Schröder-Fischer und all das, was in diesem Zusammenhang seither unternommen wurde, bedeutet eine konsequente Realisierung des neoliberalen Paradigmas von Deregulierung und Privatisierung. Die breit angelegte Senkung von Sozialleistungen und die Deregulierung des Arbeitsmarkts gelten als Königsweg aus der Krise. Die Senkung der „Arbeitskosten“, der Löhne ebenso wie der Sozialleistungen, ist zum bevorzugten Instrument einer kapitalkonformen „Standort-“ und neuerdings auch Krisenpolitik geworden. Deren inzwischen erreichtes Ziel ist eine drastische Erhöhung der Unternehmensgewinne, die wiederum einen Investitionsboom und damit Wachstum und Beschäftigung schaffen soll. Das Scheitern dieser Politik ist gerade eben durch die Krise des neoliberalen Kapitalismus offensichtlich geworden.

Die zu „global players“ mutierten Unternehmer und ihre politischen Gefolgsleute haben eine Gesellschaft im Visier, in der die Spaltung zwischen Arm und Reich vorangetrieben wird und in der Ausgrenzungs- und Marginalisierungsprozesse die politisch-sozialen Kräfteverhältnisse weiter verschieben. In ihren Augen war das Realisierungsproblem, d.h. die Frage, wer eine immer weiter steigende Produktion letztlich abnimmt, durchaus lösbar. Einmal durch die Unternehmer selbst, die ihre Produktionsanlagen immer weiter ausbauen und so selbst Nachfrage schaffen, auf der anderen Seite durch einen wachsenden Luxuskonsum der privilegierten Minderheit der Gesellschaft und schließlich durch eine Rüstungsproduktion, deren Bedeutung in einer durch Kriege und Militärinterventionen gekennzeichneten Weltordnung dramatisch zugenommen hat. Dies hat sich allerdings als enormer Irrtum erwiesen.

Dass mit den herkömmlichen wirtschaftspolitischen Mitteln irgendwann wieder Vollbeschäftigung erreicht werden wird, kann niemand mehr ernsthaft glauben, nicht einmal die Politiker, die das versprechen. Vielleicht sollte man zur „Vollbeschäftigung“ auch einmal daran erinnern, dass es diesen mythischen Zustand in Deutschland ohnehin als Ausnahme-Erscheinung nur etwa ein Jahrzehnt lang in der 1950/60er Jahren gab. Seither wird nicht mehr erweitert, sondern intensiviert: Je mehr das Produktionsvolumen wächst, desto weniger Arbeit wird dafür benötigt. Die durch die verschärfte internationale Konkurrenz vorangetriebene Rationalisierung und damit Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit äußert sich unter kapitalistischen Bedingungen in Form von Arbeitslosigkeit, Lohnsenkung und Prekarisierung eines wachsenden Teils der Beschäftigten. Aber auch für die Behebung dieses Problems gibt es Rezepte, braucht der wohlhabende Teil der Bevölkerung doch sein billiges Dienstpersonal. Es muss eben eine Situation geschaffen werden, in der die Löhne am unteren Ende der Einkommensskala so gering sind, dass sich die „Besserverdienenden“ ihre DienerInnen leisten können. Die systematische Produktion von Ungleichheit wird – ganz im Gegensatz zur Zeit des fordistischen Nachkriegskapitalismus – zur wirtschafts- und sozialpolitischen Leitlinie.

Alternative: Neo-Keynesianismus?

Traditionell sozialdemokratisch orientierte Gegenvorstellungen, so wie sie von linkeren Sozialdemokraten, der Linkspartei und Gewerkschaften vorgetragen werden, beziehen sich im Wesentlichen auf die bekannten keynesianisch-fordistischen Rezepte. Ein durch staatliches Schuldenmachen forciertes Wachstum soll die Grundlagen dafür schaffen, dass die bestehenden sozialstaatlichen Strukturen weiter finanzierbar bleiben. Diese Rezepte sind in mehrfachem Sinne wenig realitätstauglich. Zunächst einmal deshalb, weil die globalen Kräfteverhältnisse, die den Fordismus möglich gemacht haben – nicht zuletzt die russische Revolution und der daraus erwachsende Systemkonflikt – nicht mehr existieren und zum anderen weil die neoliberale Globalisierung Fakten geschaffen hat, die wirtschafts- und sozialpolitischen Strategien auf einzelstaatlicher Ebene Grenzen setzen. Dem traditionellen Staatsreformismus ist damit – und das war ja auch das zentrale Ziel der neoliberalen Globalisierungsoffensive – die Grundlage entzogen worden.

Das Problem reicht aber tiefer: Soziale Sicherungssysteme, die auf Transfers aus Lohneinkommen beruhen, sind angesichts der Veränderung der Arbeitsmärkte, der Arbeitsverhältnisse und der demographischen Entwicklungen kaum mehr haltbar, ganz abgesehen von den (nicht zuletzt geschlechtlichen) Diskriminierungen, die sie strukturell enthalten. Dazu kommt, dass „Vollbeschäftigung“ als Ausnutzung aller vorhandenen Arbeitskapazitäten in der Form von Lohnarbeit an sich kein vernünftiges Ziel darstellt. Ein expansives Wachstum der kapitalistischen Warenproduktion erscheint nicht nur angesichts gravierender Umwelt- und Naturzerstörungen, sondern auch wegen der abnehmenden Nützlichkeit eines in Warenform erzeugten gesellschaftlichen Reichtums als eher destruktiv. Vielmehr könnte und müsste sich die Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivität auch in mehr Zeit für andere als in Lohnarbeit verrichtete Tätigkeiten und in der erweiterten Bereitstellung öffentlicher Güter niederschlagen. In einer (potentiell) reichen Gesellschaft muss die Priorität vom privaten auf den öffentlichen Konsum verlagert werden, wenn eine wachsende Warenmasse kaum mehr Zusatznutzen schafft, die soziale Infrastruktur aber vernachlässigt wird.

Eine entscheidende Frage richtet sich auf die sinnvolle Verteilung gesellschaftlich notwendiger und wünschbarer Arbeit und, grundlegender, auf ein endlich angemessenes Verständnis davon, was „Arbeit“ ist. Lohnarbeit ist nur ein kleiner Teil dessen, was gesellschaftlich gearbeitet wird. Die Vorstellung, ein auf Vollbeschäftigung gegründetes Wachstum durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung wieder erreichen zu können, wird – ganz abgesehen davon, wie dies gegen die herrschenden Machtverhältmisse durchgesetzt werden sollte – dieser Problematik in keiner Weise gerecht. Arbeitszeitverkürzungen wären sicherlich sinnvoll. Anzunehmen, dass dadurch irgendwann wieder einmal Vollbeschäftigung im klassischen Sinne – also in Form des Normallohnarbeitsverhältnisses – erreicht werden könnte, ist aber ein Irrtum. Vor allem aber kann dies eine den herrschenden Bedingungen und Möglichkeiten gerecht werdende und völlig neu positionierte Politik des Sozialen nicht ersetzen.

Eine andere Sozialpolitik

Es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft grundlegend umgebaut werden muss und völlig neue wirtschafts- und sozialpolitische Strategien gefunden werden müssen. Die herkömmlichen Modelle haben ausgedient. Die Frage ist nur, ob dies unter dem schlichten Diktat des Kapitals geschieht oder ob es möglich ist, eine andere Form von Vergesellschaftung zu entwickeln, die zukunftsweisend und sozial tragfähig ist. Es lassen sich einige Grundsätze festhalten, an denen nicht vorbeizukommen sein wird.

Zentral ist die Notwendigkeit, sich endgültig von den traditionellen Vorstellungen von Arbeitsgesellschaft zu verabschieden, die unter ganz anderen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind. Zwar ist es nicht so, dass der Gesellschaft die Arbeit ausginge – viele notwendige Arbeiten werden unter den herrschenden Bedingungen nicht getan –, aber die Arbeitsverhältnisse transformieren sich grundlegend. Das resultiert nicht nur aus der durchgesetzten Entformalisierung und Prekarisierung der Lohnarbeit, sondern auch aus einem verstärkten Bedarf an flexibleren Arbeitsformen durch die Arbeitenden selbst. Schon deshalb gehört die fordistische Normal-Arbeitsbiographie immer mehr der Vergangenheit an.

Das herkömmliche System der sozialen (Ver-)Sicherung, das an das lebenslange Lohnarbeits-Verhältnis gekoppelt war, verliert damit seine Grundlagen. Diejenigen, die aus dem Normalarbeitsverhältnis herausfallen, prekär beschäftigt sind, kein existenzsichernden Löhne erhalten oder überhaupt keine Lohnarbeit mehr finden, werden zum Objekt einer kontrollierenden Bürokratie, deren Strategien vor allem auf einen weiter verstärkten Arbeitszwang abzielen. Der Irrsinn der bestehenden Verhältnisse zeigt sich daran, dass die Leute zu einer Lohnarbeit gezwungen werden sollen, die es gar nicht gibt. Der „welfare state“ macht einem „workfare state“ Platz, der den Zwang zur Lohnarbeit umso mehr verallgemeinert, je größer die Zahl der für das Kapital Überflüssigen wird. Das traditionelle System der sozialen Sicherung hat deshalb keine Zukunft mehr, weil es durch den Wandel der gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse überholt wird. Die Koppelung an Lohnarbeit entspricht weniger denn je den Prinzipien einer umfassend solidarischen Gesellschaft, die von den gegebenen materiellen Bedingungen her und unter dem Postulat der „Würde des Menschen“ möglich und notwendig wäre.

Im folgenden Abschnitt werden die Grundsätze zusammengefasst, auf denen eine andere Form der Vergesellschaftung beruhen müsste. Sozialpolitik wird dabei als Bereitstellung einer umfassenden sozialen Infrastruktur verstanden.

II. Prinzipien einer Sozialpolitik als Ausbau der sozialen Infrastruktur

  1. Gesellschaftlich notwendige Arbeit geht keineswegs in Lohnarbeit und neuerdings verstärkt in Formen von (Schein-) Selbständigkeit auf. Ihre wichtigeren Formen sind Hausarbeit, Eigenarbeit und freiwillige Arbeit. Vollbeschäftigung mit Lohnarbeit wird es in absehbarer Zeit nicht wieder geben, und schon gar nicht in der Weise, dass damit ein ausreichender Lebensstandard für alle garantiert wird. Dazu kommt, dass ein großer Teil der im Lohnarbeitsmodus ausgeführten Produktion mehr Schaden als Nutzen anrichtet – in Form geplanten Verschleißes, massiver Umweltzerstörungen oder von Produkten, deren Gebrauchswert mehr als fragwürdig ist.
  2. Sozialpolitik besteht im Sichern der Infrastruktur für alle Arten von gesellschaftlicher Tätigkeit. Sie ist von der bestehenden Bindung an Lohnarbeit und damit vom bisherigen Versicherungsprinzip zu lösen. Damit wird der Spielraum für Tätigkeiten erweitert, die nicht in Lohnarbeitsform erbracht werden (können).
  3. Es ist überflüssig und schädlich, Sozialpolitik mit anderen Aufgaben als der Herstellung der sozialen Infrastruktur zu belasten. Vor allem sollte sie in ihren einzelnen Maßnahmen nicht gleichzeitig der selektiven Umverteilung dienen. Auch sollte sie nicht in den Dienst von Steuerungsaufgaben wie das Herstellen von Arbeitsbereitschaft (wenn nicht -zwang) oder das Verhindern (wenn nicht Erzwingen) bestimmter (Aspekte von) Lebensweisen gestellt werden. Umverteilung gehört exklusiv in die Gestaltung der Steuern und Abgaben. Für Steuerungszwecke kann über Abgaben nachgedacht werden, wirksamer wird es aber sein, positive Anreize zu setzen. Die derzeit mit Sozialleistungen oft verbundenen Arbeits- und Verdienst-Verbote sind unsinnig und schädlich und haben daher in einer Sozialpolitik als Infrastruktur-Politik nichts verloren.
  4. Der Adressat von Sozialpolitik ist nicht primär das Individuum. Soziale Infrastruktur ist gesamtstaatlich, regional und lokal, auf der Ebene der Haushalte und anderer Zusammenschlüsse und nur zu einem kleinen Teil beim Individuum angesiedelt. Daher ist ein bedingungsloses Grundeinkommen nur ein Aspekt einer Sozialpolitik als Infrastruktur-Politik und nicht der wichtigste.

III. „Soziale Infrastruktur“

Statt einer selektiven und gruppenspezifischen Sozialpolitik wäre die Entwicklung einer gesellschaftlichen Infrastruktur voranzutreiben, die ein vernünftiges gesellschaftliches Leben für alle möglich macht. Wir verstehen unter sozialer Infrastruktur die in der Regel kostenlose oder gegen geringes Entgelt dargebotene Bereitstellung öffentlicher, für alle gleichermaßen zugänglicher Güter und Dienstleistungen, die die Grundvoraussetzung dafür sind. Dies betrifft vor allem die Bereiche der Gesundheitsvorsorge, des Verkehrs, des Wohnens, der Bildung und der Kultur. Es geht also um die Mobilisierung und Bereitstellung institutioneller und materieller Ressourcen, die für die anerkannten sozialen Aktivitäten nötig sind und die von den einzelnen nicht selbst hergestellt werden können oder sollen. Zu diesen gesellschaftlichen Aktivitäten gehört in erster Linie das Betreiben des eigenen Lebens (unschön auch als einfache oder erweiterte Reproduktion der Person oder gar der Arbeitskraft bezeichnet) und die umfassende Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft. Herkömmlich wird Infrastruktur einseitig als Voraussetzung der Produktion (genauer gesagt: der Kapital-Reproduktion) verstanden und meint daher rechtliche Regelungen, materielle Produktionsvoraussetzungen wie das Verkehrsnetz oder auch das Kanonenboot, das zur Erschließung von Märkten ausgeschickt wird. Diesen Begriff gilt es grundsätzlich zu verändern.

Was zur sozialen Infrastruktur zu rechnen ist und was Betriebe, Haushalte und Personen auf eigene Kosten selbst organisieren und produzieren sollen, ist eine Frage der politischen Aushandlung. Ziemlich klar ist aber, dass die Finanzierung der Infrastruktur aus Steuern erfolgen muss und dass sich daher umgekehrt alles, was mit Steuern finanziert wird, als Infrastruktur (und nicht nur einem Einzelinteresse dienend) ausweisen muss. Allerdings ist Staatstätigkeit nicht die einzige Form, wie Infrastruktur zustande kommt. Freiwillige Arbeit spielt hier eine große Rolle. Auch warenförmige Produktion von Infrastruktur ist nicht kategorisch auszuschließen, sie hat nur den bekannten Nachteil aller Waren: Man muss sie sich leisten können, und das widerspricht dem Charakter von Infrastruktur. Im Einzelfall kann man aber durchaus prüfen, ob sich dieser Nachteil nicht doch aufheben lässt, wenn die Warenform sonst große Vorteile haben sollte. Diese werden freilich meist nur behauptet und sind bei näherem Hinsehen in der Regel nicht gegeben.

Die soziale Infrastruktur wird auf mehreren Ebenen hergestellt und garantiert:

1.Gesamtstaatliche Politik auf einem Sachgebiet (Wohnung, Ernährung, Gesundheit, Pflege, Bildung usw.);

2.Lokale oder kommunale Politik und lokale Ressourcen der Selbstorganisation;

3.Betrieb;

4.Haushalt bzw. Familie;

5.Individuum.

Zu 1:

In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass diese Politik nicht vorschnell mit den Mitteln von 4 und 5 zu betreiben versucht wird. Ein Beispiel ist das Wohngeld als Ersatz für eine Politik, die zu einer Vermehrung des Angebots an bezahlbaren Wohnungen führt und das die Stabilisierung hoher Mieten nach sich zieht. Ein anderes ist das Krankenkassensystem, das auf dem Gesundheitssektor in viel größerem und allgemeinerem Ausmaß dieselbe Stützung von hohen Kosten bewirkt. Vieles, was an Sozialpolitik individuell oder lokal ansetzt, ist nur nötig, weil die staatliche Wirtschaftspolitik misslingt. Solche individuell kompensierenden Formen von Sozialpolitik sind durchaus nötig, weil z.B. Leute hier und jetzt auf der Straße stehen und nicht lange warten können. Sie sollten aber als Bündel von Überbrückungsmaßnahmen verstanden werden, bis das Problem wirtschaftspolitisch bewältigt werden kann. Selbstorganisation hat (z.B. mit Land- und Hausbesetzungen) in solchen Fällen auch schon oft als Motor von Politik gewirkt.

Zu 2:

Umfassendere Wirtschaftspolitik kann auf lokaler Ebene unterschiedliche Auswirkungen haben und muss deshalb auch lokal – also für den Raum, in dem die Leute alltäglich leben – betrieben werden. Natürlich gibt es Unterschiede darin, wie „lokal” jemand lebt, aber man sollte die Lebensweise der wenigen jet-setter auch zahlenmäßig nicht überschätzen, nur weil sie sich besonders in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit drängt (im Übrigen viel an Infrastruktur absorbiert) und weil die schreibende Klasse ihre eigene Version davon pflegt und schätzt. Die meisten Leute leben die meiste Zeit ihres Lebens höchst lokal, in Kindheit und Alter völlig, als Haushaltsarbeiter/innen völlig, je ärmer, umso mehr. Die im Durchschnitt wenigen Wanderungen des Lebens geschehen von einer lokalen Lebensweise zur nächsten. Daher ist das Lokale ein ausgezeichneter Ort, um Infrastruktur für alle zugänglich her- und zur Verfügung zu stellen. Sozialarbeiterische Gemeinwesenarbeit weiß darüber ziemlich viel, hat auch Techniken der Intervention zur Verfügung und sollte die Standardform von Sozialarbeit sein.

Daher muss das Planen und Betreiben der sozialen Infrastruktur möglichst dezentral, auf lokaler oder regionaler Ebene erfolgen, d.h. da, wo sie bedarfsgerecht und so weit wie möglich selbstverwaltet gestaltet werden kann. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass es keine wirksamere Form von Sozialpolitik als die von unten gibt. Man muss ihr aber selbst eine materielle und organisatorische Infrastruktur zur Verfügung stellen – und sie in vor allem nicht bürokratisch behindern. Dass sie zustande kommt, hängt oft von einzelnen umtriebigen Personen ab und lässt sich also nicht erzwingen, aber erleichtern.

Zu 3:

Gegenüber früheren Verhältnissen hat der Betrieb als Einheit von Solidarität an Bedeutung verloren. Im Zeitalter der „global players“ hat betriebliche Solidarität über die loyalitätsbildende Konstruktion von immer stärker zusammenschrumpfenden „Stammbelegschaften“ hinaus kaum noch eine Chance. Der Betrieb konnte nur bei hoher Stabilität erstens seiner Existenz am Ort und zweitens der Betriebszugehörigkeit eine sozialpolitische Einheit sein. Beides gibt es noch in Resten, aber das ist die Ausnahme geworden, weil die Betriebe generell ihre Verpflichtung auf den Standort gekündigt haben. So haben z.B. die Banken mit Frankfurt als Kommune wenig bis nichts zu tun, jedenfalls streben sie das an. Sie benützen die kommunale Infrastruktur und gestalten sie zu ihrem Vorteil, tragen aber sonst nicht viel dazu bei. Es gibt auch noch Betriebsrenten und Abfindungen beim Verlassen des Betriebs. Aber das ist genauso wenig verallgemeinerbar wie die gesamte Lohnarbeitsbindung von Sozialleistungen. Es ist zu überlegen, was hier noch bleibt, wenn wir die Lohnarbeitsbindung (gedanklich) auflösen. Genossenschaften und andere rechtliche Formen einer „freien Assoziation der Produzenten” sind sicher auch Einheiten von Solidarität, aber vielleicht sollte man ihre Einkünfte doch nicht der Infrastruktur und ihrer Sicherung des Zugangs zu Ressourcen zuschlagen. Betriebsrenten und Abfindungen ebenso wie Auszahlungen (aller Art) aus einer genossenschaftlichen Beteiligung kann man auch als private Versicherungen verstehen, die mit Infrastruktur nichts zu tun haben.

Zu 4:

„Haushalt“ wird hier verstanden als mehr oder weniger große Gemeinschaft von Personen mit gemeinsamem Wirtschafts- und Lebenszusammenhang. Er ist also nicht unbedingt identisch mit der formellen (Klein-) Familie und kann auch Wohngemeinschaften u.ä. umfassen. Auch Singles bilden natürlich Haushalte, wenn auch nicht immer das Leben lang. Der Haushalt ist die wirtschaftliche Einheit der Reproduktion der Personen und gewöhnlich ein Kern von Solidarität – neben anderen, oft überhitzten zwischenmenschlichen Gefühlen. Er ist eingebettet in ein Netz von persönlichen, also verallgemeinerten, nicht scharf zweckorientierten Beziehungen freundschaftlicher, nachbarschaftlicher, besonders aber verwandtschaftlicher Art. Dieses Netz von Solidarität umgibt den genannten Kern – der manchmal auch als Würgegriff erlebt werden kann – und ist besonders in Notfällen mobilisierbar.

Traditionell hat sich der Staat hier ordnungspolitisch eingemischt: Er will die Versorgung mit Kindern (also traditionell mit gesunden und tüchtigen Arbeitskräften und Soldaten, heute mit zukünftigen Beitragszahlern) gewährleisten, er will die Versorgung der Kinder sichern (also die Erzeuger zum Zahlen und Arbeiten verpflichten). Er hat schon ziemlich stark nachgelassen, die personelle Stabilität des Haushalts (per Ehe) erzwingen zu wollen. Aber das gehört tatsächlich alles nicht zur Infrastruktur und könnte daher als staatliche Aktivität aufhören. Zur Infrastruktur der Haushaltsführung gehören aber alle Einrichtungen, die das Leben mit Kindern erleichtern, also öffentliche Kinderversorgung aller Art.

Zu 5:

Für die Ausstattung der Individuen mit infrastrukturellen Kapazitäten ist im Kapitalismus ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen die sinnvollste Art, weil selbst bei einem vergrößerten Angebot an öffentlichen Gütern immer noch vieles in Warenform gekauft werden muss und kann und weil das häufig auch (im Rahmen dessen, was überhaupt so angeboten wird) die am ehesten selbstbestimmte Art ist, zu den benötigten Ressourcen zu kommen. Dies ist irgendwelcher Zentralversorgung mit ihrer bürokratischen Herrschaftlichkeit weit vorzuziehen.

Man sollte aber das garantierte Grundeinkommen nicht mit allzu großen Hoffnungen auf Gesellschaftsveränderung überfrachten. Es stellt die kapitalistischen Grundstrukturen keineswegs in Frage und kann u.U. sogar zu deren Stabilisierung beitragen, z.B. indem die Nachfrage verstetigt oder ökonomisch-sozial Ausgegrenzte ruhig gestellt werden. Daher entwickeln auch Neoliberale und Konservative eine gewisse Sympathie für Grundeinkommensmodelle, die sich allerdings von den hier diskutierten gundlegend unterscheiden. Ein allgemeines und bedingungsloses Grundeinkommen mindert, wenn es ausreichend hoch ist, den Zwang, Lohnarbeit unter allen Bedingungen annehmen zu müssen, und könnte damit einiges zur „Humanisierung“ der Arbeitsverhältnisse beitragen. Vor allem aber würden damit die kleinlichen Überwachungen und Kontrollen entfallen, denen diejenigen verstärkt unterworfen werden, die keine Lohnarbeit finden oder sie nicht wollen.

Die Person und ihr Grundeinkommen sind aber nicht die wichtigste Einheit einer Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik. Das Grundeinkommen ist vielmehr eine ergänzende Maßnahme, um Personen (auch unabhängig von familiären und anderen Gruppen-Bindungen) zur gesellschaftlichen Teilhabe und damit Nutzung der Infrastruktur zu befähigen. Entscheidend bleibt die Erweiterung des Angebots von (prinzipiell) kostenlosen und für alle zugänglichen öffentlichen Gütern, also des Bereichs der materiellen, sozialen und kulturellen Reproduktion, der nicht der Warenform unterworfen ist. Je breiter dieser Teil der sozialen Infrastruktur ausgebaut ist, desto weniger Geld wird für das Grundeinkommen gebraucht. Aus Gründen der einfachen Verwaltung wird das Grundeinkommen an alle Personen ausgezahlt. Damit wird ein Großteil der Sozialbürokratie eingespart. Es versteht sich, dass es bei gut Verdienenden über eine entsprechende Gestaltung der Besteuerung zum größten Teil wieder zurückgezahlt wird.

Das bedingungslose Grundeinkommen – eine Forderung mit unterschiedlichen Zielen

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) für alle erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance – allerdings aus unterschiedenen Gründen und mit verschiedenen Intentionen. Zu Beginn der 80er Jahre waren es vor allem die Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen, die Zeitschrift „Widersprüche“ oder ein Teil der „Grünen“ (z.B. Michael Opielka), die sich dafür einsetzten. Ihnen allen war zu Beginn der Diskussion gemeinsam: ein ausreichendes Grundeinkommen für alle, ohne Arbeitszwang und ohne Bedürftigkeitsprüfung. Inzwischen sind neue Gruppierungen hinzu gekommen: so die Gruppe „Freiheit statt Vollbeschäftigung“, Teile der Partei „Die Linke“ (um Katja Kipping), die attac-AG „Genug für alle“, die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) und andere.

Einige beziehen sich mehr oder weniger dezidiert auf die Forderung, das BGE in eine freie soziale Infrastruktur einzubetten. Konzentrierte man sich also in den 80er und 90er Jahren überwiegend auf die Geldleistung, so vollzieht sich bei einigen eine Weiterentwicklung, die die gesamten Lebensverhältnisse der BürgerInnen im Blick hat.

Während die Mehrheit der „Grünen“ im Bundestag nach wie vor für eine Grundsicherung für Bedürftige plädiert, wurde die Forderung nach einem Grundeinkommen für alle inzwischen auch von einigen politischen Akteuren aus dem staatstragenden Spektrum aufgegriffen – so etwa von Dieter Althaus (der frühere Ministerpräsident von Thüringen) und Thomas Straubhaar (Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts) mit dem „Solidarischen Bürgergeld“ oder von Meinhard Miegel (Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn).

Diese Repräsentanten verfolgen mit der Forderung jedoch ganz andere Ziele als die oben genannten Befürworter des BGE. Es geht ihnen darum, die Geldleistung noch unter die bislang gezahlten Sozialleistungen abzusenken. Damit soll existentieller Druck erzeugt werden, jede Arbeit anzunehmen. Schließlich geht es noch darum, die Unternehmen aus der Sozialversicherungspflicht zu lösen. Die Reste der überkommenen sozialstaatlichen Sicherungen wären damit eliminiert. Das Sozialstaatsprinzip, wonach der Staat Lebens- und Arbeitsrisiken absichert, würde abgelöst durch den Zwang der Verhältnisse; den staatlich organisierten Arbeitszwang bräuchte es dann nicht mehr.

Interessant ist, dass der Unternehmer Götz Werner (und generell die Anthroposophen) von derartigen Intentionen insofern abweicht, als er mit dem BGE mehr Freiräume für Selbstbestimmung sieht und das Gemeinwohl im Blick hat.

Auch wenn es zwischen deren Modellen einige Variationen gibt, was die Frage des Arbeitszwangs und der Bedürftigkeitsprüfung betrifft, ist in ihnen eines zentral: die kapitalistische Form der Organisation sozialer Dienstleistungen bleibt unangetastet. Es gibt aber inzwischen viele Konzepte, die diese in Frage stellen. Eine kostenfreie soziale Infrastruktur (Gesundheit, Alterssicherung, Mobilität und Bil-dung) wird zumindest teilweise angedacht.

Weitere Informationen zu den unterschiedlichen Entwürfen finden sich unter www.grundeinkommen.de sowie in der aktuellen Publikation der: Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen und Sozialhilfe-Initiativen (Hg.), Existenzgeld Reloaded, (AG Spak Bücher), Neu-Ulm 2008.

IV. Die Finanzierung der Infrastruktur

Sozialpolitik als Infrastruktur stellt die Grundlagen dafür zur Verfügung, dass alle die Arbeiten getan werden können, die zur gesellschaftlichen Reproduktion und also zum (nach den herrschenden Standards) guten Leben aller und das heißt: zur gesellschaftlichen und politischen Teilhabe aller notwendig sind. Es geht nicht um „Armenpflege“, auch nicht darum, den Ausbeutern einen Teil dessen wieder abzunehmen, was sie durch Vernutzung der eingekauften Arbeitskraft eingenommen haben und schon gar nicht darum, die Reichen schlicht zu milden Gaben zu verpflichten. Bei der Finanzierung der Infrastruktur geht es darum, dass alle nach ihren Fähigkeiten und nach ihrem „Vermögen“ beitragen. Wer mehr hat, kann und soll mehr beitragen. (Was heute als „Umverteilung“ – ohnehin kaum noch – diskutiert wird, kann in ein solches Prinzip umdefiniert werden: Jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten.)

Da es um Infrastruktur geht, kann ihre Finanzierung nicht nach dem Versicherungsprinzip organisiert sein, bei dem die Auszahlung immer an die Bedingung der vorherigen Einzahlung geknüpft ist. Infrastruktur für alle wird über Steuern von allen finanziert. Damit ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Steuern und Beiträgen zur Sozialversicherung hinfällig. Stattdessen gibt es Beiträge zur Finanzierung der Infrastruktur, deren Höhe sich daran bemisst, was man leisten kann.

Beide Systeme, das der sozialen Sicherung wie das der Erhebung von Beiträgen durch den Staat, sind heute nicht zuletzt dadurch ineffektiv und kontraproduktiv, dass zu oft mit einer Maßnahme zu viel gleichzeitig erreicht werden soll: soziale Sicherung, sozialer Ausgleich und soziale Steuerung. Wenn man diese Aufgaben trennt, wird vieles einfacher und wirksamer. Getrennt zu organisieren sind also:

•das Bereithalten von Infrastruktur für alle;

•der soziale Ausgleich durch unterschiedliche Beiträge zur Finanzierung der Infrastruktur;

•die soziale Steuerung durch Gebühren, Abgaben und Zölle.

Für die Finanzierung der Infrastruktur über das allgemeine Steueraufkommen muss die Besteuerung auf eine breitere Grundlage gestellt werden, womit vor allem die inzwischen höchst selektiv (und vielfach überhaupt nicht mehr) eingehobene Gewinn- und Körperschaftssteuer, die Vermögens- und Erbschaftssteuer, aber auch die Mehrwertsteuer zur Debatte steht. Das Argument, die Mehrwertsteuer treffe vor allem die Ärmeren, ist nur bedingt stichhaltig. In mehreren Ländern gibt es eine gestaffelte Mehrwertsteuer, die den nicht lebensnotwendigen „Luxus“-Konsum stärker belastet. Die von der jetzigen Regierungskoalition durchgesetzte Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels und Gaststätten zielt genau in die entgegengesetzte Richtung. Die Mehrwertsteuer zu erhöhen und die Einkommens- und Gewinnsteuern zu senken, was das Prinzip der herrschenden Politik ist und war, ist allerdings ein Unsinn. Und die Tatsache, dass viele Unternehmen inzwischen vom Finanzamt oder direkt vom Staat finanziert werden oder dass in einigen Gemeinden das Hundesteueraufkommen die Gewerbesteuereinnahmen übersteigt, deutet auf eine gewisse Schieflage hin. Sicher ist, dass der Gewinnsteuersatz auf jeden Fall relativ hoch sein müsste, zumal die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung wegfielen.

Es versteht sich, dass man bei einem solchen Nachdenken über Steuern und Abgaben sehr schnell und „logisch“ auf Ökologie-Abgaben verfallen wird. Zunächst wird man dabei über Abgaben nachdenken, die den Verbrauch oder die Emission von ökologisch kostspieligen (wenn nicht in ihren Folgen unkompensierbaren) Formen des Wirtschaftens weglenken sollen, indem sie auch individuell teuer gemacht werden. Wo das nicht geht, kann wenigstens ein Beitrag zur Reparatur der Schäden erhoben werden. Es wäre nicht auszuschließen (und durchaus vernünftig), dass diese Verbrauchs- und Belastungs-Abgaben (also alle möglichen Rohstoff-Verbrauchs- und Emissions-Abgaben) einen sehr großen, vielleicht den überwiegenden Anteil der Einnahmen für die Infrastruktur-Finanzierung ausmachen.

Insgesamt sind die verschiedenen Logiken beachtlich: Steuern werden bei Gelegenheiten, die das einfach zulassen, und nach dem Prinzip „Jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten“ erhoben und dienen der Finanzierung der Infrastruktur. Alle Absichten zur Umverteilung setzen hier an. Abgaben werden zur Steuerung der Belastung von Infrastruktur eingesetzt. Subventionen müssen sich grundsätzlich durch einen Beitrag zur Infrastrukturproduktion ausweisen. Unter den Bedingungen eines Grundeinkommens kann „Schaffung von (Lohn-) Arbeitsplätzen“ nicht mehr wie jetzt als quasi Infrastrukturleistung behandelt und daher subventioniert werden, egal, was auf diesen Arbeitsplätzen produziert wird.

V. Das Grundeinkommen – der individuelle Zugang zur Infrastruktur

Die Einführung eines allgemeinen und bedingungslosen Grundeinkommens steht, wie schon erwähnt, nicht im Zentrum unserer Überlegungen. Es ist notwendig, um allen Menschen entsprechend den bestehenden gesellschaftlichen Möglichkeiten ein würdiges Leben zu ermöglichen. Gleichwohl gebührt der sozialen Infrastruktur der Vorrang, weil sie eine andere Form der Vergesellschaftung darstellt und der sich immer weiter ausdehnenden Privatisierung und damit der Warenförmigkeit der sozialen Beziehungen entgegen wirkt. Das Grundeinkommen muss daher als Ergänzung zum Ausbau der sozialen Infrastruktur gesehen werden und dient dazu, die Befriedigung der Bedürfnisse zu ermöglichen, die nach wie vor warenförmig abgedeckt werden. Es ermöglicht vor allem die unverzichtbare individuelle Wahlfreiheit beim Konsum. Je besser ausgebaut die soziale Infrastruktur ist, desto geringer kann das garantierte Grundeinkommen allerdings sein.

Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle wäre nicht mehr als eine vernünftige Methode, einige bisher getrennt verwaltete Maßnahmen der sozialen Sicherung relativ unbürokratisch zu bündeln: Kindergeld / Familienbeihilfen aller Art, Ausbildungsgelder, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Altersgrundversorgung. Zu den Vorteilen gehört, dass die unter den bestehenden Regelungen dazu notwendigen Verwaltungen weitgehend eingespart werden können.

Der entscheidende Grundsatz ist, dass dieses Geld in einer vernünftigen Höhe jeder Person zusteht. Diese Höhe ist natürlich eine Sache der politischen Aushandlung, müsste aber auf jeden Fall ein gemessen an den gesellschaftlichen Standards und Möglichkeiten würdiges Leben garantieren, also nicht nur die materielle Existenz, sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe gewährleisten. Dazu wurden in den Jahrzehnten der Diskussion um das Grundeinkommen verschiedene Vorschläge gemacht (und ihre Finanzierbarkeit vorgerechnet). Wichtig ist, dass jede Person dazuverdienen oder sonst erwerben kann, was sie will. Restriktionen sind kontraproduktiv und erzeugen nur mehr Bürokratie.

Klar ist, dass das Grundeinkommen gegenüber dem bestehenden Zustand Verluste besonders für Gutverdienende beim Arbeitslosengeld und bei der Rente bedeutet. Niemand hindert diese indessen daran, eine zusätzliche Arbeitslosen- oder Rentenversicherung abzuschließen oder sich ein Vermögenspolster anzulegen. Diese Form der „Privatisierung“ erscheint sozial tragbar. Die andere Seite ist, dass damit die bestehende Altersarmut insbesondere bei Rentnerinnen und bei Personen mit (erzwungenermaßen) unsteter Lohnarbeitsbiographie (was immer mehr der Normalzustand wird) bekämpft werden könnte.

Beim Grundeinkommen der Kinder wäre eine Regelung interessant, wie sie in den USA (von Konservativen) diskutiert wird: kein Grundeinkommen, sondern ein Grundvermögen. Jede Person bekommt bei Geburt ein Guthaben zur Verfügung gestellt, das ab einem gewissen Alter für bestimmte Zwecke (Haushalts-, Betriebsgründung, Ausbildung) verwendet werden kann. Bei uns hieße das, dass bis zu einem bestimmten Alter nur ein Teil des Grundeinkommens der Kinder (an die Versorger) ausgezahlt, der Rest aber gespart wird und später dann den Jugendlichen zur Verfügung steht.

Das Grundeinkommen vermindert zweifellos den Zwang zur Lohnarbeit und kann als gesellschaftliche Finanzierung von Arbeiten verstanden werden, die nicht als Lohnarbeit organisiert werden oder werden können, darunter nicht zuletzt Hausarbeit. Das Argument, damit werde die herrschende geschlechtliche „Arbeitsteilung“ festgeschrieben, ist nicht besonders zugkräftig, denn deren Wurzeln liegen woanders. Die Gesellschaft ist reich genug, dass sie nicht lohnarbeitsförmige Tätigkeiten, die darüber hinaus oft besonders nützlich sind, einigermaßen anständig bezahlen kann. Die Sonntagsreden über den Nutzen bürgerschaftlichen Engagements wären dann weniger verlogen. Der oft vorgebrachte Einwand, es würde dann gar nicht mehr oder zu wenig gegen Lohn gearbeitet, ist spekulativ. Er geht davon aus, dass der Lohn das einzige Arbeitsmotiv ist und übersieht, dass es durchaus Bedürfnisse gibt, die über die Grundversorgung hinausgehen und zu deren Befriedigung nach wie vor Geld verdient werden muss. Ein Effekt dürfte allerdings sein, dass die Unternehmer dann interessantere und sinnvollere Arbeiten anbieten müssen und nicht mehr einfach Arbeitsleid mit Geld abkaufen können. Eingewendet wird auch, dass das Grundeinkommen als Lohnsubventionierung wirkt und dadurch ein Druck auf die Löhne insgesamt ausgeht. Das erscheint jedoch hinnehmbar, wenn zugleich der Arbeitszwang gemildert wird. Gut entgegenwirken könnte man dem im Übrigen mit flächendeckenden Mindestlöhnen.

Das garantierte Grundeinkommen hätte schließlich den Effekt, den herrschenden Zirkel von immer mehr Arbeit für immer mehr Warenkonsum wenigstens für diejenigen (zumindest in bestimmten Phasen des Lebens) durchbrechbar zu machen, denen das nicht der vorrangige Zweck des Lebens ist. Dennoch bräuchte man sich über eine mangelnde „Nachfrage“ keine Sorgen zu machen, würde sich doch die Kaufkraft der Ärmeren massiv vergrößern. Viel wichtiger ist freilich, dass damit alle Formen von gesellschaftlicher Arbeit zur Kenntnis genommen und ermöglicht werden. Die einseitige Fixierung auf Lohnarbeit als privilegierte und einzig anerkannte Form von Arbeit hätte damit ein Ende.

Eine Sozialpolitik als Infrastruktur-Politik ist nicht zuletzt nötig wegen der gestiegenen und weiter steigenden internationalen Mobilität und als Form, in der eine EU-Sozialpolitik denkbar wäre. Daher kann auch das Grundeinkommen als Teil einer solchen europäischen Infrastrukturpolitik nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden werden. (Jede Person, die zuzieht, hat für die soziale Sicherung denselben Stellenwert wie ein Kind, das in den Verband hineingeboren wird – und ist bekanntlich wirtschaftlich viel günstiger, weil die Ausbildungskosten geringer und die Steuer-Beiträge höher sind.) Die Einführung von Sozialpolitik als Infrastruktur-Politik (und als Teil davon das Grundeinkommen) ist wohl nur (zunächst) EU-weit vorstellbar. Eine völlige (nicht nur EU-interne) Lösung von der Staatsbürgerschaft würde Druck erzeugen, wichtige Nachbarstaaten zur Teilnahme an dieser Form von Sozialpolitik zu veranlassen.

VI. Einzelne Bereiche der sozialen Infrastruktur

Aus dem skizzierten Konzept der sozialen Infrastruktur ergeben sich zwei Prinzipien: erstens ist sie grundsätzlich und umfassend aus Steuermitteln zu finanzieren und zweitens steht sie allen und ohne Rücksicht auf Geschlecht, sozialen Status, Erwerbstätigkeit, Einkommen und Staatsbürgerschaft zur Verfügung. Das herrschende System der grundsätzlich an das Lohneinkommen gebundenen und damit hoch selektiven, durch staatliche „Armenfürsorge“ ergänzten sozialen Sicherung wäre damit abgeschafft.

Im Einzelnen muss das freilich erst noch in seiner Bedeutung ausbuchstabiert werden. Wir haben die Umsetzung und die Auswirkungen dieses Konzepts in Bezug auf zwei wichtige Bereiche der sozialen Infrastruktur beispielhaft diskutiert: (1) Das Gesundheitssystem und (2) das Bildungssystem. Wir skizzieren hier diese Bereiche kurz. Ausführlichere Darstellungen sind auf dieser Webseite zu finden.

(1) Das Gesundheitssystem

Die Infrastruktur für Gesundheit der Bevölkerung besteht zunächst darin, dass alle Lebensbereiche so organisiert werden, dass Gesundheitsschädigungen vermeidbar sind. Historisch war dies in Friedenszeiten neben ausreichender Nahrung die Hygiene, also Wasserversorgung und Kanalisation sowie die Eindämmung von Infektionen (vom Kindbettfieber über Tuberkulose und Malaria bis Pest und Cholera). Dazu kommt die Vermeidung von Berufskrankheiten und Unfällen.

Als soziale Infrastruktur hat Gesundheitsvorsorge nicht wie heute den beschränkten Zweck, die Lohnarbeitsfähigkeit zu sichern und wiederherzustellen. Ziel ist vielmehr die Möglichkeit eines aktiven, selbständigen und schmerzarmen Lebens für alle als Teil und Voraussetzung von sozialer Teilhabe. Das Bereithalten von Infrastruktur geht weit über den Bereich der traditionellen Medizin hinaus. Friedenssicherung, ökologisch aufgeklärte Politik und Gesundheitspolitik sind eng verflochten. Dafür ist die Infrastruktur gegenwärtig wenig entwickelt.

Eher über- (und fehl-)entwickelt ist hingegen der klassische Bereich von Gesundheitspolitik: die Heilung von Krankheiten und Beschädigungen oder ihre Kompensation. Er ist bestimmt dadurch, dass die „Nachfrage“ nach Gesundheitsleistungen in starkem Maße durch medizinisches Wissen gesteuert wird, was heute praktisch dazu führt, dass die „Anbieter“, also Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, zugleich weitgehend darüber entscheiden, was nachgefragt wird. Dies ist die Basis der das Gesundheitssystem heute bestimmenden, aus Kassen, Ärzteverbänden und Industrielobbys bestehenden und in erheblichem Maße Ressourcen verschlingenden Monopolstruktur.

Als dritter Bereich ist die Pflege und der Umgang mit länger dauernden Beeinträchtigungen zu nennen. Pflege ist einerseits ein entscheidender Teil der kurativen Medizin. Andererseits geht sie weit über Medizinisches hinaus und meint im weitesten Sinn eine Einrichtung der Welt so, dass sie auch von anderen als jungen Männern unter Einsatz aller Kraft, Erfahrung, Geistesgegenwart und Rücksichtslosigkeit benutzt werden kann.

Als wesentlicher Teil von sozialer Infrastruktur ist die Gesundheitsvorsorge in dem umschriebenen weiten Sinn grundsätzlich steuerfinanziert. (Die derzeit diskutierten Formen von „Bürgerversicherung” nähern sich Steuern an, auch wenn sie eine – weite – Zweckbindung haben und sollen hauptsächlich die bestehenden Gutverdienerprivilegien bei den Krankenversicherungsbeiträgen abschaffen. Es könnte durchaus Vorteile haben, die Finanzierung der Gesundheits-Infrastruktur durch eine solche steueranaloge Abgabe mit Zweckbindung sicherzustellen.) Private Zusatzversicherungen können auf eher dem Wellness- als dem Gesundheitsbereich zuzurechnende Leistungen und auf Medikamente beschränkt werden für die es gleichwertige und billigere Ersatzpräparate gibt. Die kollektive Gesundheitsversorgung – Prävention, kurative Medizin, Pflege – muss allen, entsprechend den bestehenden medizinischen, technischen und wissenschaftlichen Standards zur Verfügung stehen.

Die Eigenheiten des Gesundheitssystems bringen es mit sich, dass in diesem Sektor ein relativ hohes Maß von zentraler Regulierung und Verwaltung notwendig ist. Ob die dafür zuständigen Gremien unmittelbar staatlich/öffentlich oder wie jetzt die Kassen selbstverwaltet organisiert sein sollten, muss hier nicht entschieden werden. Eine Dezentralisierung der Verwaltung würde auf jeden Fall dazu beitragen, das System durchschaubarer, bedarfsnäher und auch demokratischer zu machen. Da hier über die Leistungen entschieden wird, die im kurativen und im Pflegebereich übernommen werden, müssen neben (potentiellen) Patienten und ihren Angehörigen, Ärzten und Pflegern auch die Wissenschaft und die Finanzaufsicht, nicht aber die Industrie und die Betreiber von medizinischen Einrichtungen vertreten sein. Dazu kommt die Infrastruktur für Prävention, die lokale / kommunale Initiativen organisieren und zusammenfassen müsste und die auf gesamtstaatlicher Ebene vor allem Einfluss auf Planungen und Gesetze im Sinn einer „Gesundheits-Verträglichkeits-Prüfung” haben soll. Als Steuerungs-Instrument sind weniger Verbote als vielmehr Abgaben interessant, die die Folgekosten umfassend einbeziehen. (Langstrecken-Warentransporte mit dem LKW wären längst unbezahlbar, der private PKW mit Benzin/Diesel-Motor ein selten benützter Luxus, würden die ökologischen und gesundheitlichen Kosten dieser Transportweise und dieser Motoren angerechnet.) Riskante Produktionseinrichtungen (von Atomkraftwerken zu Chemie-Fabriken) dürften ohne seriöse Versicherung des GAU nicht zugelassen werden – bekanntlich gäbe es bei dieser Auflage keine AKWs.

Was das vieldiskutierte Problem der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen angeht, so ist zunächst einmal festzustellen, dass diese – soweit überhaupt vorhanden – in hohem Maße einer falschen Finanzierung, hohen Monopolgewinnen und einer hochgradig ineffizienten Organisationsstruktur anzulasten ist. Auf der Ebene der allgemeinen Wirtschaftspolitik ist also eine durchgängige Rationalisierung des gesamten Gesundheitssystems mit dem Ziel einer Verbesserung des aktuell desolaten Kosten-Nutzen-Verhältnisses angesagt. Dazu müssen als Erstes die bestehenden Monopole gebrochen und das Gesundheitssystem organisatorisch völlig neu strukturiert werden. In den Bereich Rationalisierung und Effizienzsteigerung gehört schließlich die von den einschlägigen Sachverständigen schon lange geforderte Veränderung der Medizinerausbildung, die vor allem eine Förderung psychosozialer Kompetenzen einschließt, sowie die systematische Einführung von Evaluationsverfahren (evidence based medicine), die nicht zuletzt der Transparenz und der öffentlichen Kontrollierbarkeit des Gesundheitswesens zu dienen hätten.

Ein entscheidender Punkt bei der Reorganisation des Gesundheitssystems lässt sich als Kombination von Bündelung und Dezentralisierung beschreiben. Notwendig ist die Errichtung von komplexen Diagnose- und Therapieeinheiten (Gesundheitszentren, Praxisgemeinschaften, ambulante Polykliniken u.ä.), durch die unsinnige oder mehrfach ausgeführte Diagnosen und Behandlungen vermieden werden können und durch die eine bessere Auslastung des Geräteparks möglich wäre. So wäre es immerhin vermeidbar, dass teure Geräte nur deshalb eingesetzt werden, um ihre Kosten zu amortisieren. Sinnvoll wäre vor allem die Einrichtung eines regional/kommunal dezentralisierten Systems von Gesundheitszentren, die nicht nur die Aufgabe der medizinischen Versorgung und Pflege, sondern auch von Sozialstationen übernehmen. Diese wären sowohl von ihrer Ausstattung als auch von ihren Kompetenzen und Finanzen besser auf die jeweiligen Bedingungen und Bedürfnisse eingestellt und böten vor allem die Möglichkeit, Ansätze für eine demokratische Selbstverwaltung unter Beteiligung aller, auch der aktuellen und potentiellen Patienten zu realisieren.

Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Umstrukturierung die Festlegung der Leistungsentgelte oder besser Budgets, die den unterschiedlichen, nach Leistungsangebot gestaffelten Zentren zur Verfügung stehen müssten. Ein neues Abrechnungs- und Vergütungssystem muss vor allem folgende Punkte berücksichtigen: Es sollte die lokalen sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen (Sozialstruktur, epidemiologische Daten usw.) vorrangig einbeziehen und nicht wie jetzt das Verschreibungsverhalten der ÄrztInnen. Die für die Beratung aufgebrachte Zeit darf nicht schlechter bewertet werden als maschinengestützte Untersuchungen. Ein derartiges Vergütungssystem dürfte weder – wie früher – eine einfache Erstattung von Leistungen sein, was immer zu einer unsinnigen Ausweitung derselben führt, noch kann es sich um pauschalisierte Entgelte handeln, die eine Begrenzung der Leistungen auf bestimmte Fälle fördern. Eine Mittelverteilung nach Pro-Kopf-Pauschalen, in die die oben genannten Faktoren einbezogen werden, wäre eine mögliche Alternative, wenn die Gesundheitseinrichtungen alle PatientInnen ihres Einzugsbereichs behandeln müssten, also keine Risikoselektion durchführen können. Dennoch hätten die Einrichtungen auf diese Weise ein Budget, das ihnen eigene Handlungsmöglichkeiten gibt.

In der Pflege haben die Haushalte eine besondere Bedeutung. Ein nicht geringer Anteil von Hausarbeit besteht in Pflege. Haushalte und Personen sind auf eine gute lokale Infrastruktur angewiesen, die aktive und selbständige Teilnahme auch unter schwierigen Bedingungen fördert. In schweren Fällen sind Haushalte oft mit Pflegeaufgaben überfordert und müssen professionell unterstützt werden. In der Kinderpflege ist das in Form von Krippen, Kindergärten, Schulen, Erziehungsberatung relativ selbstverständlich als lokale Infrastruktur etabliert. Dieser Typus von Infrastruktur (inklusive der Infrastruktur für ihre Selbstorganisation, wenn Leute das tun möchten) wäre auszubauen und auf andere Pflege-Situationen analog auszuweiten.

Mehr dazu: Soziale Infrastruktur im Gesundheitsbereich

(2) Bildung als Infrastruktur

Was das bestehende Bildungs- und Ausbildungssystem alles tut und was davon wirklich zur Infrastruktur gehört, bedarf einer Diskussion, um deutlich zu machen, worauf sich die Infrastrukturleistungen auf den verschiedenen Ebenen überhaupt beziehen. Neben seiner Hauptaufgabe, die grundlegenden Kulturtechniken den jeweils „Neuen“ zugänglich zu machen, erfüllt das bei uns real existierende Bildungssystem eine Reihe von Funktionen:

  • Das (Aus-)Bildungssystem vergibt Zertifikate und Zugangsberechtigungen und ist damit ein Apparat zur Festlegung – und Vererbung – von sozialer Ungleichheit, aber zugleich auch von sozialem Aufstieg im Einzelfall. Diese Funktion der Elitenbildung wird in Deutschland noch nicht allgemein bewusst angestrebt (in üblicherweise privaten „Elite“schulen), ist aber als Auslesefunktion des gesamten Schulsystems nach wie vor (und nicht zuletzt im internationalen Vergleich) stark vorhanden.
  • Das (Aus-)Bildungssystem vergibt Tätigkeits-Berechtigungen und Berufs-Lizenzen. Das gehört in den Rahmen der allgemeinen Gewerbe- und Berufsaufsicht und der dort nötigen Qualitätskontrolle. Es ist für die Ausbildung wie für die Qualitätskontrolle günstig, wenn diese beiden Bereiche voneinander getrennt und unabhängig gehalten werden. Zulassungs- und Qualitätskontrolle ist eine Infrastruktur-Leistung, die Ausbildung zum Erwerb der Lizenz für bestimmte Tätigkeiten und Berufe ist das nicht. Sie kann den Berufsverbänden, der Personal nachfragenden Wirtschaft und dem Markt überlassen werden. Das gilt besonders auch für die universitären Berufsausbildungen, bei denen die in Deutschland gefundene Trennung in Fachhochschulen (für die wissenschaftliche Berufsausbildung) und Universitäten (für die Pflege der Wissenschaft) genauer berücksichtigt werden könnte.
  • Schule hält Kinder und Jugendliche von (anderer) Arbeit ab. Schulung und Ausbildung werden (vom Polytechnischen Jahr über Umschulungskurse für Arbeitslose bis zum Universitätsbesuch) ganz offen als „Arbeitsmarkt-Puffer“ diskutiert und eingesetzt. Diese Funktion entfällt mit einem garantierten Grundeinkommen und damit der Aufhebung des Phantoms der „Vollbeschäftigung“ mit Lohnarbeit von selbst.
  • Schule beschäftigt und diszipliniert Kinder und Jugendliche und ist damit eine Einrichtung der „Pflege“ im oben genannten Sinn (damit auch Entlastung anderer Pflegepersonen). Dieser Effekt von Bildungseinrichtungen wird zwar kaum thematisiert, ist aber tatsächlich eine schwer ersetzbare Infrastruktur-Leistung. Würde sie bewusst zur Kenntnis genommen, wäre der Streit um die Ganztags-Schule auch in Deutschland und Österreich längst so erledigt wie in fast allen anderen europäischen Ländern. Würde sie bewusst zur Kenntnis genommen, müssten sich allerdings auch Tätigkeitsbeschreibung und Ausbildung der Lehrpersonen ändern: einerseits in Richtung Jugendarbeit, andererseits in Richtung Sozialarbeit. Die Schule könnte dann Funktionen eines Gemeindezentrums haben.
  • Aber vor allem: Schule vermittelt grundlegende Kulturtechniken. Die Beherrschung der üblichen Kulturtechniken und der Fähigkeiten, die zur Teilnahme an Gesellschaft und Politik nötig sind, muss gelernt und geübt werden. Das zu ermöglichen, gehört daher zweifellos zu den Infrastrukturleistungen des Staates.

Es ist eine politische Entscheidung, was als Kulturtechniken und Fähigkeiten zur Teilnahme als Infrastruktur allen zu erwerben möglich sein muss. Dieser Kanon wird immer strittig sein, wäre aber einfacher zu bestimmen, wenn man ihn nicht nach Bildungsidealen, sondern an Teilnahmemöglichkeiten bemisst. Die Bestimmung des Kanons kann auch leichter werden, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass zwar Fähigkeiten vorweg geübt, Wissensbestände aber nur sehr begrenzt vorweg gespeichert werden können, da ihre Relevanz nicht von vornherein einsichtig ist und sie schnell verloren gehen). Hinzu kommt, dass Wissen breiter als das jeder Schule möglich ist in der populären Kultur (von TV bis Internet) vermittelt wird. Die Nutzung und skeptische Analyse dieser Angebote ist zur wichtigsten Kulturtechnik in Bezug auf Wissen geworden. Dazu kommt das Erkennen und Kritisieren des stillschweigend und selbstverständlich gesetzten Wissens in Kulturprodukten – Fähigkeiten also, die traditionell im Umgang mit Kunst geübt wurden. Unter den Kulturtechniken sind (nach den Computer-Fähigkeiten) die interkulturellen Kompetenzen (Fremdsprachen, Kultur-Relativismus) besonders in den Vordergrund getreten.

Teilhabe an der Gesellschaft und an der Gestaltung ihrer Zukunft setzt Kompetenzen im Umgang mit wirtschaftlichen und politischen Projekten – mit denen der Mächtigen und mit den eigenen – voraus. Die Prinzipien von Demokratie – wie sie ist und wie sie sein könnte – zu kennen ist dafür nützlich. Eine antiautoritäre Haltung ist wahrscheinlich noch nützlicher. Die Geschichte als eine des Erkämpfens und Verlierens von Volkssouveränität zu verstehen, wird mehr Orientierung geben als die Kenntnis einzelner Rechtssätze. Insgesamt sind die Kulturtechniken nur in einem Aspekt technische Fertigkeiten – vor allem sind sie soziale Kompetenzen und sollten als solche allen zugänglich gemacht werden.

Für die Feststellung des Bedarfs und damit der Ausstattung staatlicher Bildungseinrichtungen mit Personal, Räumen und Sachmitteln hat eine Nachfrageorientierung den Vorrang, die z.B. jeder/m das Studium ihrer/seiner Wahl unter vernünftigen Bedingungen ermöglicht. Man kann den Bedarf an Personal und Ausstattung nicht output-orientiert bestimmen. Das können nur die am Betrieb Beteiligten. Traditionell wurde das an den Hochschulen durch demokratische Mitbestimmung in der akademischen Selbstverwaltung berücksichtigt und diese wäre zunächst wieder zu gewinnen und dann auszubauen. An den Schulen wären ernstzunehmende Selbstverwaltungsstrukturen überhaupt erst einzuführen. Integrierte Schulen hätten neben der Herstellung von mehr Chancengleichheit den Vorzug, selbstbestimmtes Lernen von Anfang an zu fördern.

Eine wesentliche Leistung von Bildung als Infrastruktur ist es, unabhängige Forschung durch viele und damit auch die kompetente Prüfung von Großforschung zu gewährleisten.

Auf lokaler und kommunaler Ebene braucht es gut ausgestattete öffentliche Einrichtungen (Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen, Bibliotheken) mit Öffnungszeiten, die es erlauben, „Bildung“ neben anderen Arbeiten (Beruf, Haushalt usw.) wahrzunehmen.

Die Trennung zwischen öffentlicher Bildung (nicht nur im herkömmlichen Sinne von Allgemeinbildung) und privater, berufsbezogener Ausbildung macht Sinn, wenn man nicht einen Bereich gegen den anderen ausspielt, sondern für jeden die adäquaten Strukturen schafft. Für den ersten Bereich wäre die Freiheit von Bildung und Wissenschaft wieder zu bestärken, während man bei letzterem die Verwertungslogik durchaus integrieren kann: Betriebe haben ein Interesse an qualifizierten MitarbeiterInnen. Viele Formen von Praxiswissen werden ohnehin in den Betrieben selbst vermittelt, in Form von Einarbeitungsphasen und betrieblicher Weiterbildung. Wo das nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, ließe sich die Diskussion um eine Ausbildungsabgabe („Wer nicht selbst ausbildet, zahlt“) auf alle Formen von Bildung verallgemeinern.

Bildung ist hochgradig vererbbar (und damit zusammenhängend die Berufs- und Lebenschancen). In den „bildungsfernen“ Schichten stellt die Familie eher einen hemmenden Faktor da. Dem sollte in erster Linie durch mehr Integration und offenen Zugang zu Bildung entgegengewirkt werden. Das Grundeinkommen trägt auch dazu bei, dass junge Menschen nicht mehr unter dem Druck stehen, möglichst früh ins Erwerbsleben einzusteigen.

Setzt man ein allgemeines Grundeinkommen voraus, ist bei Bildungseinrichtungen als sozialer Infrastruktur in erster Linie sicherzustellen, dass sie für alle frei zugänglich sind. Das hieße, auf allen Ebenen die Selektivität zu verringern und die Durchlässigkeit zu erhöhen. Insofern Bildungszertifikate sinnvoll aufeinander aufbauen (z.B. Abitur als Voraussetzung des Hochschulzugangs), müssen sie jederzeit nachgeholt werden können. Die scharfe Trennung der Lebensabschnitte „Schule“, „Ausbildung“ und „Beruf“ ist gesellschaftlich ohnehin weitgehend überholt (weil kaum noch jemand studiert, ohne nebenher zu arbeiten, weil viele Berufe ständige Weiterbildung erfordern, weil viele, die die Möglichkeit haben, den „zweiten Bildungsweg“ nutzen etc.). Sie wird aber häufig noch durch unsinnige Anforderungen als Norm festgehalten z.B. durch Regelstudienzeiten usw. Bildung als Infrastruktur würde heißen, die Vereinbarkeit möglichst aller biographischen Verläufe mit der Partizipation an Bildungseinrichtungen sicherzustellen.

Mehr dazu: Oliver Brüchert, Warum es sich lohnen könnte, Bildung als Infrastruktur zu denken

VII. Soziale Infrastruktur und Migration

Wir leben in einer globalisierten Welt, wobei die herrschende Globalisierung vor allem eine Kapitalstrategie mit enormen sozialen Folgen ist. Angesichts sich ausbreitender Armut, wachsender internationaler Ungleichheiten, von Kriegen und Bürgerkriegen nimmt die „legale“ wie vor allem auch die „illegale“ Migration zu. Letztere nicht zuletzt deshalb, weil die „Festung Europa“ ihre Grenzen immer dichter macht. Damit stellt sich verschärft die Frage, welche Personen Rechte auf soziale Sicherungen haben. Bislang sind dies zunächst einmal die StaatsbürgerInnen, also die, die einen deutschen Pass besitzen sowie die qua offizieller Lohnarbeit sozialversicherten Migranten. „Illegale“ oder AsylbewerberberInnen bleiben ausgegrenzt. Die Unhaltbarkeit der dadurch hervorgerufenen Zustände könnten durch einen Ausbau der sozialen Infrastruktur zumindest abgemildert werden, weil diese allen hier Lebenden ungeachtet ihres rechtlichen Status zur Verfügung stehen würde.

VIII. Aufforderung zum Tanz

Die herrschende Sozialpolitik hat den Kontakt zu den Leuten verloren. Das gilt besonders für ihre Reform, die einfallslos nur als „Sparen“ und „Kürzung“ und bestenfalls kurzfristig wirksames Flickwerk daherkommt. Die Gegenwehr beschränkt sich darauf, solche Kürzungen gering und von der jeweils eigenen Klientel fern halten zu wollen. Tatsächlich ist eine Gesamtreform nach neuen Prinzipien nötig.

Indem wir eine radikale Alternative entwerfen und ein Stück weit durchkonstruieren, stellen wir die Frage, warum einige einfache Möglichkeiten nicht einmal mehr gedacht werden. Die Antwort liegt in den machtbewehrten Selbstverständlichkeiten, die von den organisiert-etablierten Interessen, von den Gewerkschaften bis zur Pharmaindustrie und den privaten Versicherungen bis zu der real existierenden Sozialbürokratie verwaltet werden. Da sie gut etablierte Herrschaftsapparate sind, beruhen ihre Denk-Selbstverständlichkeiten aber auch auf unser aller Zustimmung. Wie das mit Hegemonien so ist: sie produzieren Denkfaulheiten. Man kann sie aber zum Tanzen bringen. Mit-Tänzer/innen sind willkommen.

© links-netz Januar 2012