Österreich nach der Wahl und von außen betrachtet: Bananenrepublik mit Operettenstaat?

von Reinhard Kreissl

Was ist los?

Zeitdiagnosen mit dem Anspruch Besonderheiten der aktuellen Lage zu erfassen erliegen leicht der Verlockung historisch blinder und global generalisierender Urteile. Sie hypostasieren Zeitenwenden, vermelden gar heraufdämmernde neue Epochen oder verweisen auf sich akut verstärkende, in aller Regel negative Entwicklungen in den zur zeitdiagnostischen Beobachtung anstehenden Gesellschaften.

Hinzu kommt, dass jede halbwegs reflexiv vorgehende Beobachtung beim Versuch der Positionsbestimmung auf die schwer entwirrbare Mischung von biografischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklungen trifft. Kritisch vorab zu fragen gilt es dann, ob Krisen, Verschärfungen oder Verfallsprozesse, also Veränderungen im Zeitverlauf, ihre Dramatik nicht durch Verschiebungen der eigenen Wahrnehmung erhalten bevor man sie zu gesellschaftlichen Entwicklungen erklärt.

Soviel vorab und als Klarstellung, dass eine solide Antwort auf die Frage „Was ist los?“ gar nicht so einfach ist. Denn möglicherweise ist das, was uns aktuell und in diesem Lande als dringend erklärungsbedürftig erscheint auch nur Kontinuität im Rahmen der normalen Schwankungsbreite von Prozessen, deren Ursaschen und Dynamik sich beim Blick auf die hiesigen Verhältnisse gar nicht erschließen. Möglicherweise haben wir also ein Maßstabsproblem und ist die Erklärung heischende Konstellation in diesem Land einfach kontingenten Umstände geschuldet, Produkt einer zufälligen Verkettung, die keine weitere analytische Aufmerksamkeit verdient. Dumm gelaufen.

Nach so vielen Bedenken, wo könnte eine Antwort ansetzen? Was wissen wir über die Welt und die dort waltenden Prozesse und ihre Dynamiken, Kräfte und Mächte die ihre Wirkung auch in Österreich entfalten? Kann ein solcher ins Globale schweifende Blick für ein Verständnis hiesiger Verhältnisse hilfreich sein? Versuchen wir es an einem Beispiel. Wie funktioniert und was treibt die auch in Österreich populäre, politisch nützliche und dementsprechend medial befeuerte Beschwörung des Nationalstaates als des bedrohten Habitats und Ort einer als selbstgenügsam gedachten Heimat?  Alle im Wahlkampf konkurrierenden Parteien griffen diese Beschwörung auf, alle wollen die politische Bedeutung des Nationalstaats erhalten und sich für den Schutz der Heimat verwenden. Bedroht und in Gefahr, so heißt es, sind beide nicht durch innere Schwäche, sondern die Ursache des vermeintlichen Übels sind äußere Feinde. Die Europäische Union (verkürzt vom politischen Volksmund auf „Brüssel“) hat es auf unsere staatliche Souveränität abgesehen. Eine in unkontrollierte Bewegung geratene Masse von fremden Menschen aus aller Herren Länder drohe das heimatliche Habitat zu infiltrieren und auf vielfältige Weise zu zersetzen. So argumentieren in mal mehr mal weniger ziviler Art die Vertreter aller Parteien vereint in einer Politik mit der Angst.

Diese Umpolung der Politik von der Verteilung von Wohltaten auf Angst vor drohenden Gefahren wie Migration oder Terrorismus, deren Abwendung angeblich von Allen Opfer (an Freiheit, Einkommen, Lebenschancen) abverlangt, fällt mit dem Erwachen aus dem kurzen Traum von der immerwährenden Prosperität gegen Ende des Fordismus zusammen. Ein in die fiskalische Krise geschlitterter Wohlfahrtsstaat kann stabile Massenloyalität nicht mehr durch Ausbau staatlicher Leistungen sichern. Postwohlfahrtstaatliche Politik sichert Gefolgschaft über das Versprechen, drohende Gefahren für das Gemeinwesen abzuwehren. Anstelle von social goods, verteilen Politiker jetzt social bads und beim Wettlauf der propagierten Sicherheitsmaßnahmen bleibt dann so manches auf der Strecke. 

Angst und Unsicherheit in Verbindung mit einer Reihe bekannter und wohl dokumentierter Entwicklungen der globalen Arbeitsteilung und Veränderungen ökonomischer Prozesse haben einen Klassenkampf von oben befördert. Dessen Anliegen sind Umverteilung von den Armen zu den Reichen, Entstaatlichung und Privatisierung öffentlicher Güter sowie Abbau sozialer Sicherungen, die vormals unter anderen politisch-ökonomischen Bedingungen ausgehandelt worden waren. Nennenswerter Widerstand der betroffenen Mehrheiten gegen dieses Programm ist nicht zu erwarten und das organisierte Drohpotential des Faktors Arbeit schwindet in der Folge ökonomischer Veränderungen. Nationale Variationen in der Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse voranschreiten, gilt es zu berücksichtigen. Für Österreich wäre auf Karl Kraus zu verweisen, der im Fall des Weltuntergangs nach Wien gehen wollte, denn dort geschehe alles zehn Jahre später.

Was vor Ort geschieht verweist auf weitgehend ungezähmte globale ökomische Prozesse. Doch alles was jenseits des nationalen Horizonts sich abspielt und der nationalen Politik den Takt vorgibt, wird dort weder zutreffend benannt noch richtig begriffen.

Aus dieser Konstellation von erfahrbaren aber nicht wirklich verstandenen Wirkungen speist sich das politische Narrativ des Nationalstaats. Dessen Beschwörung gleicht einem Flug in der Dämmerung. Die Idee eines territorial begrenzten, zentral regierten, souveränen und ethnisch homogenen Nationalstaats diente seit dem Westfälischen Frieden als lokal bedeutsame europäische Fiktion. Als fraglos akzeptierte Hintergrundannahme staatlicher Politik scheint sie an ihr Ende zu kommen und bäumt sich dabei nochmals hell lodernd auf. Neue politische Ideen wachsen heran, doch fehlt es ihnen bisher an Gestalt und Anerkennung. Europa repräsentiert die Gestalt einer solchen Idee post-nationaler multi-level governance, aber die nationalen politischen Eliten wollen sich dem nicht anschließen und der hegemoniale Diskurs ruft zur Versammlung des Staatsvolks hinter der Nationalflagge gegen Übergriffe aus „Brüssel“. Dabei zieht das globalisierte Kapital schon längst die Fäden über nationale Grenzen hinweg. Nationale Politik hängt an diesen Fäden. Politiker jeglicher Coleur sind die Marionetten im Spiel globaler ökonomischer Konkurrenz. Mit ihren lautstark propagierten Ankündigungen von Abschottung, Schließung und Sicherung eines national definierten Bestands welcher Art auch immer inszenieren sie Schlachten, die längst entschieden sind. In dieser Situation wäre es vernünftig sich zusammenzutun, um gemeinsam den Anspruch auf politische Gestaltung neu zu definieren und Politik im Angesicht der real existierenden globalen Macht- und Drohverhältnisse zu positionieren. Europa ist ein solcher Versuch. China oder die USA gehen andere Wege. Das europäische Modell wäre mir lieber.

Globalisierung ist kein abstraktes Phänomen, seine Spuren sind im Alltag nachweisbar, in allen österreichischen Kleider- und Kühlschränken, in den Präferenzen und Praktiken des Konsums. Ein Mobiltelefon Made in Austria zu produzieren, nur mit lokal verfügbaren Ressourcen, ist unmöglich. Kein Krankenhaus, kein Pflegeheim ließe sich betreiben, der gesamte Dienstleistungssektor bräche zusammen, würde man nur auf einheimisches Personal setzen. Und elektronische Medien deren Angebot sich exklusiv aus dem speist, was die heimische Produktion hervorbringt, mag man sich gar nicht erst vorstellen. Die Idee eines selbstgenügsamen, autonomen politisch-kulturell-ökonomisch eigenständigen Staates Österreich ist so unrealistisch und lächerlich wie politisch wirkmächtig und prägend.

Was also ist los in Österreich? Die derzeitigen politischen Mehrheiten sind wie sie sind. Es hätte auch anders kommen können, wären die Splitterparteien am rechten Rand nicht eingegangen, hätten sich die Grünen nicht gespalten und politisch klüger agiert. Lokale Zufälle und der übliche Elitenwechsel im Spiel der parlamentarischen Demokratie. Jenseits dessen erscheinen mir das Auseinanderklaffen von Problemen und Problemwahrnehmung, das konsequente Verleugnen der Aufgaben, denen sich die Politik jenseits des nationalen Rahmens stellen müsste und der weit verbreitete Rückzug auf ein realitätsblindes, defensiv-regressives kollektives Selbstbild, das jeglicher Evidenz im trivialen Alltag widerspricht für die hiesige Situation kennzeichnend zu sein. Die Welt ist in Bewegung geraten und hat uns nicht nur elektronisches Spielzeug aus amerikanischen Designstudios, produziert in Asien mit Rohstoffen aus Afrika beschert, sondern Europa und Österreich unerbittlich in globale Konflikte eingebunden, gegen die sich kein Nationalstaat abschotten kann. An vielen Beispielen, auch an den provinziell ängstlichen Reaktionen auf globale Migrations-  und Fluchtbewegungen, die Europa zwar nur marginal tangieren, die aber, als zeitverzögerte Folge europäischer Politik und Lebensweise nicht nur aus moralischen Gründen eine Strategie erforderten, lässt sich demonstrieren, wie es um die Politik und den politischen Diskurs in diesem Land bestellt ist. 

Was wird geschehen?

Prognosen sind bekanntlich schwierig und ein Glückspiel, bei dem derjenige, der in der Vielfalt der Vorhersagen einmal das Richtige getroffen hat, im Nachhinein als besonders kompetent erscheint. Gesellschaften verändern sich auch nicht im Takt von Legislaturperioden und bleibt man in deren Horizont, so spricht allein schon die massive Trägheit der staatlichen Verwaltungsapparate und die gut funktionierende Selbstblockade politischer Handlungsfähigkeit in Österreich gegen großartige Veränderungen. Föderalismus und Neokorporatismus sorgen für stabile Verhältnisse und bremsen jeden Versuch aus, ans Eingemachte zu gehen. Die Regierung wird in diesem eng gesteckten Rahmen in kleinen Schritten ein Pflichtenheft abarbeiten, das sie nicht selbst verfasst hat. Auf der Vorderbühne des Spektakels werden parallel dazu für das Publikum Debatten über Rauchverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Geheimdienste und islamische Messerstecher geführt. Dabei wird darauf geachtet, öffentliche Erregung und Angstlust auf genügend hohem Niveau zu halten. Das Drehbuch des Populismus liefert dazu die Anleitungen: fokussiere dich auf eine diffuse, nicht greifbare Mehrheit in der Mitte, zu der sich alle hingezogen fühlen (die Fleißigen und Anständigen) und dramatisiere deren Bedrohung von oben (die Eliten) und  unten (die Marginalisierten), halte alles zusammen mit Verweis auf die Bedrohungen von außen (die Fremden).

Hinsichtlich prognostischer Empfindsamkeit und Klarsicht bezüglich gesellschaftlicher Entwicklungen sind Künstler übrigens meist besser als die staatlich lizensierten akademischen Auguren und Modellplatoniker der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Aus Filmen wie Fahrenheit 451, Clockwork Orange oder Bladerunner lässt sich mehr über Gesellschaften lernen, die in vielen kleinen Schritten tiefgreifende Veränderungen durchlaufen als durch Berechnungen und Kalkulationen auf der Basis von Daten, die letztlich nur eine in bürokratischen Kategorien verstümmelte Wirklichkeit abbilden.

Ansonsten gibt hier vor Ort die regierungsamtlich verkündete Programmatik die Richtung vor und die variiert die bekannte Leier der Deregulierung und des Abbaus staatlich garantierter sozialer Infrastrukturen, die vor den Unwägbarkeiten der Lohnarbeitsexistenz schützen sollten. Wie weit das gelingt wird weniger vom Protest der Betroffenen abhängen, als vom Geschick bei der Befriedigung mächtiger Fraktionen und organisierter Verbandsinteressen. Aufkeimendes Unbehagen wird durch eine symbolische Politik mit Menschenopfern geschickt umgeleitet auf die suitable enemies (s. oben Populismus). Spektakuläre Vorkommnisse sind natürlich nicht auszuschließen, aber die hätten ihren Ursprung nicht im Inland und damit wären wir wieder bei den globalen Verwicklungen.

Was tun?

All politics is local. Die Erosion des Politischen, der neuerliche Strukturwandel der Öffentlichkeit legen eine mühselige gegenhegemoniale Strategie nahe, die auf lokal begrenzte Wiedergewinnung von Autonomie und wie auch immer beschränkter Handlungsfähigkeit und Deutungshoheit zielt. Die Aufgabe der organischen Intellektuellen ist schnell beschrieben: Aufklärung im Kontakt auf Augenhöhe in der Auseinandersetzung vor Ort und immer daran denken, dass das Volk nicht dumm ist, sondern sehr erfolgreich für dumm verkauft wird.

Bauman, Z. (2007). Leben in der flüchtigen Moderne. Suhrkamp.

Lash, S., & Urry, J. (2004). Die globale Kulturindustrie: zur politischen Ökonomie von Zeit und Raum. Suhrkamp.

Marx, K., & Engels, F. (1980). Gesamtausgabe:(MEGA). Abt. 2,“ Das Kapital“ und Vorarbeiten, Bd 2, Ökonomische Manuskripte und Schriften 1858-1861. Dietz.

Mueller, J. E., & Stewart, M. G. (2016). Chasing ghosts: The policing of terrorism. Oxford University Press.