Auf dem Weg in die postmoderne Stadt? Das Beispiel Vancouver

von Holm-Detlev Köhler

Vancouver ist im Ranking der Immobilienpreise die viertteuerste Stadt der Welt, direkt nach den Ausnahme-Stadtstaaten Hongkong und Singapur, sowie Shanghai, deutlich vor anderen nordamerikanischen (Los Angeles, New York) und europäischen (London, Paris) Metropolen. Bei den Durchschnittseinkommen dagegen liegt Vancouver in Nordamerika ungefähr an fünfzigster Stelle, da die meiste Beschäftigung hier im Baugewerbe, Hotel- und Gaststätten, Hafen und Handel mit eher bescheidenen Löhnen konzentriert ist, wozu sich etwas besser bezahlte öffentliche Dienstleistungen (Erziehung, Gesundheit) gesellen. Aber niemand verdient mit geregelter Arbeit genug, um sich eine Stadtwohnung leisten zu können. An der Universität finden regelmäßig Verkaufsveranstaltungen der Luxusauto-Händler statt, bei denen potentielle Käufer von MacLarens, Ferraris oder Lamborghinis unter den Studenten (!) geworben werden sollen und Rolls Royce Motor Cars Vancouver ist einer der profitabelsten Autohändler der Welt. Die UBC (University of British Columbia) wird im Volksmund auch University of Beautiful Cars genannt, wo viele Studenten im Besitz eines Aston Martin, Porsche oder Tesla sind. Allein im letzten Jahr wurden in dieser 600.000 Einwohner Stadt mehr als 4.000 Luxuskarossen zu Preisen jenseits der 100.000 $ Grenze abgesetzt. Daneben wimmelt es von Schuh- und Kleidungsgeschäften, in denen man sich die Füße ab 300€ bis 3.000€ einkleiden kann, angeblich Handarbeit aus Italien (wahrscheinlich aus China). Die Liste von Beispielen, die einem europäischen Soziologen wie mir – in Stadtsoziologie zudem seit langem nicht mehr update – völlig unerklärlich erschienen, ließe sich endlos fortsetzen. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, etwas Licht in dieses postmoderne Stadtdunkel zu bringen.

Stadt und Urbanität erfreuen sich wachsender Bedeutung in einer Welt, in der erstmals die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen lebt. Stadtpolitik, Stadtplanung, nachhaltige Stadt, Stadttourismus, urbane Mobilität, etc. bestimmen die aktuellen politischen und akademischen Debatten. Ähnlich wie einst Max Weber in den freien mittelalterlichen, nicht in das Feudalsystem eingezwängten, Städten die Brutstätten der modernen bürgerlichen Gesellschaft sah („Stadtluft macht frei“), so sehen heute einige in den modernen multikulturellen und weltoffenen Städten die Brutstätten der „postkapitalistischen Gesellschaft“ (Paul Mason).

Die moderne fordistische Stadt war gekennzeichnet durch eine funktionale Raumaufteilung in Gewerbegebiete, Wohngebiete, Erholungs- und Konsumzonen etc., mit sich gegenseitig bedingenden Entwicklungslogiken. Diese relative Stabilität begann sich im Globalisierungsprozess aufzulösen, als sich in den „global cities“ (Saskia Sassen) international vernetzte urbane Zentren und Klassen bildeten, die sich aus der territorialen Einbettung herauslösten und neue, oft kaum sichtbare Grenzen gegenüber den lokalen Bevölkerungen und Institutionen aufbauten.

Seither spiegeln die Städte einige Kerntendenzen des globalisierten, aus der Kontrolle nationaler Institutionen herausgewachsenen Kapitalismus wider, in dem ein wachsender Teil des zirkulierenden Kapitals nicht mehr in die sogenannte Realwirtschaft, sondern in spekulative Finanztransaktionen fließt, eine Tendenz die Susan Strange (1986) mit Bezug auf Keynes als „Kasino-Kapitalismus“ bezeichnete. Die Debatte um diese neue Variante eines extrem instabilen Finanzmarkt-Kapitalismus, in dem auf wenigen Börsen täglich höhere Summen in Finanzpapiere und Derivate fließen als den Währungsreserven aller Zentralbanken der Welt entspricht, ließ jedoch lange soziale und räumliche Wirkungen außer Betracht. In den modernen globalen Städten zeigt sich aber, dass nicht nur Finanzpapiere sondern zunehmend auch Immobilien und Luxusgüter in die spekulativen Geschäftskreisläufe einbezogen werden, mit nachhaltigen Auswirkungen auf das Sozialgefüge und die Raumordnung dieser global vernetzten urbanen Zentren.

Zum Verständnis des Wachstums dieser spekulativen Kapitalkreisläufe gegenüber den traditionellen industriellen und Dienstleistungsgeschäften muss zumindest ein weiterer Faktor hinzugezogen werden: die enorme Zunahme von Schwarzgeld, gewonnen aus illegalem Waffen-, Menschen-, Drogen- und ähnlichem „Handel“, das lukrative Anlagemöglichkeiten und effiziente Geldwaschanlagen sucht. Der moderne globale Kapitalismus ist nicht nur dereguliert, entbettet, international vernetzt, finanzialisiert und flexibel, er ist auch zunehmend kriminell.

Der Altmeister der klassischen Kapitalanalyse – Karl Marx – hatte den Großteil seines Hauptwerkes darauf verwandt, zu zeigen, dass das Kapital gegen seinen Willen gezwungen ist, sich in produktive Faktoren (lebendiges und totes Kapital) zu verwandeln, um sein Hauptziel zu erreichen: die Produktion von Mehrwert. Erst im Schlussteil des dritten Bandes kommt er beinahe widerwillig dazu, sich mit der Trennung von Profit und Zins, mit dem zinstragenden Kapital, dem Kredit und dem „fiktiven Kapital“ zu beschäftigen.  Eingangs des 25. Kapitels betont er nochmals, dass die eingehende Analyse des Kreditwesens und seiner spekulativen Instrumente außerhalb seines Planes liegt. Das Kapital, so hoffte er, entwickelt im Kern die Produktivkräfte und nur gelegentlich am Rande die Spekulationsblasen. Immerhin zitiert er dann ausführlich J.W. Gilbarts „The History and Principles of Banking“ (1834): „Der Zweck der Banken ist die Erleichterung des Geschäfts. Alles was das Geschäft erleichtert, erleichtert auch die Spekulation. Geschäft und Spekulation sind in vielen Fällen so eng verknüpft, dass es schwer ist zu sagen, wo das Geschäft aufhört und wo die Spekulation anfängt. Die Wohlfeilheit des Kapitals gibt der Spekulation Vorschub, ganz wie die Wohlfeilheit von Fleisch und Bier der Gefräßigkeit und Trunksucht Vorschub leistet.“ Darauf folgt eine Analyse der englischen Handelskrise von 1847 mit dem spekulativen „Eisenbahnschwindel“ und dem „Schwindel im ostindisch-chinesischen Markt“, die in vieler Hinsicht der Finanzkrise von 2007/08 ähnelt. Die Idee aber, dass dieser spekulative Schwindel einmal die produktiven Grundlagen des Kapitalismus aushöhlen könnte, war Marx genauso wie den klassischen Ökonomen noch fremd und kam erst mit Keynes in die bis heute marginalisierten heterodoxen Gefilde der politischen Ökonomie.

Vancouver (British Columbia) an der kanadischen Westküste ist in vieler Hinsicht ein Paradebeispiel für die Stadtentwicklung unter dem neuen Kapitalismus. Bis in die 1980er Jahre war Vancouver eine eher heruntergekommene, deindustrialisierte etwas verschlafene Hafenstadt weitab von den nordamerikanischen Metropolen. Inmitten einer rauen, aber wunderschönen Landschaft lebten hier die Nachfahren der um die Jahrhundertwende mit der Eisenbahn eingewanderten europäischen und chinesischen Arbeiter. Dazu eine große Hippiekolonie, die sich in den 1960er und 70er Jahren in den alten Holzhäuschen einnistete. Das Stadtbild war geprägt von schmutzigen Hafenanlagen, leeren Lagerhallen und verfallenen Industrieanlagen, wesentlich von Grundstoffindustrien wie Holz-, Papier-, Fell- und Lederverarbeitung sowie Zuckerraffinerien und Bierbrauereien. Nichts deutete auf einen Boom und eine zukünftige Metropole hin und vor allem junge Menschen wanderten ab.

Das moderne Vancouver begann mit den Verhandlungen zwischen den Regierungen Großbritanniens (Margaret Thatcher) und Chinas (Deng Xiaoping) über die Rückgabe Hongkongs an China, die 1984 in dem Abkommen mündeten, den Stadtstaat 1997 an die Volksrepublik zu übergeben. In den folgenden Jahren verließen zigtausende Menschen aus Furcht vor den zukünftigen Machthabern die Stadt in Richtung Nordamerika mit Vancouver, Kanadas Tor zum asiatischen Westen, als Hauptzielort. Die Expo 1986 brachte Vancouver endlich wichtige Infrastrukturinvestitionen (Brücken, Skytrain) und Besucher aus aller Welt. Im selben Jahr übernahm die Hongkong Bank of Canada die Bank von British Columbia. Die Geburtsstunde des neuen Vancouver mit der Skyscraper Downtown fand 1988 statt, als der reiche Hongkong-Chinese Li Ka-shing das gesamte zentrale Expo-Gelände für 320 Millionen kanadische Dollar aufkaufte und begann, darauf sowohl kommerzielle als auch Wohnhochhäuser im Hongkong-Stil bauen zu lassen. Die meisten alten Gebäude der Innenstadt wurden abgerissen, ihre Bevölkerung in periphere Stadtviertel verdrängt und die große, bis heute andauernde Immobilienblase wurde aufgepumpt. Das Tiananmen Massaker in Beijing 1989 brachte dann noch mehr Chinesen nach Vancouver.

Seit den 1990er Jahren erlebt Vancouver einen ununterbrochenen Boom. Die Immobilienpreise steigen im Jahresdurchschnitt um 3 – 4 Prozent, die Bevölkerung wächst kontinuierlich und wird immer asiatischer (inzwischen ist die Hälfte der Einwohner Vancouvers asiatischer Herkunft), der Handel mit China blüht und der Hafen ist der größte Kanadas und zweitgrößte der amerikanischen Pazifikküste. Neue Industrien (IT Software, Film und Fernsehen, Finanzdienstleistungen, Biotechnologie) haben sich angesiedelt, große Kongresszentren sind ausgebucht und der Tourismus blüht im Winter (Olympische Spiele 2010) wie im Sommer. Im Jahr 2000 eroberte Vancouver den ersten Platz in einem internationalen Städteranking als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität der Welt (vor Zürich, Wien und Bern). Doch weder die Gehälter der neuen noch die Löhne der traditionellen Sektoren können die Wohnungspreise und den Luxusgüterkonsum erklären.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends häuften sich die Streiks vor allem der öffentlich Bediensteten (Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Busfahrer, Müllabfuhr), da ihre Gehälter die steigenden Lebenshaltungs- und insbesondere Wohnkosten immer weniger abdeckten. Immer häufiger kommt es auch zu Personalengpässen, da man in diesen Berufen anderswo genau so viel verdient, aber viel besser leben kann. Vancouver wird einerseits immer schöner, mit viel Grün und Natur, schmucken Häusern, Kulturzentren, Parkanlagen, Fahrradwegen, Sportanlagen, etc., aber immer weniger Menschen können es sich leisten, in der Stadt zu leben.

Die aktuelle Bevölkerung Vancouvers setzt sich grob aus vier Schichten zusammen, die räumlich klar getrennt leben und zwischen denen es praktisch keine soziale Mobilität gibt.

Erstens eine breite Schicht von Superreichen, viele asiatischer Herkunft, die sich an dem Immobilienboom eine goldene Nase verdient oder ihren Reichtum anderswo in internationalen Kapitalgeschäften erworben haben, in videoüberwachten Luxusvillen residieren und jeden Morgen vor der schwierigen Entscheidung stehen, ob sie im Audi SUV oder im Ferrari ausfahren.

Zweitens eine gehobene Schicht von älteren Menschen, die hier schon vor dem Boom lebten und deren Eigentumswert sich in den letzten drei Jahrzehnten vervielfachte. Dazu gehören beispielsweise die vielen Althippies, die in den 1970er Jahren die runtergekommenen strand- und naturnahen Holzhäuser bevölkerten und nun die neue Gentry bilden, die die vielen Yoga-, Massage-, Tanz-, Therapie- und Pilates-Salons besuchen. Auch Cafés, Kneipen und Cannabis-Stores (in Kanada seit kurzem legalisiert) sind immer gut gefüllt.

Drittens viele junge Menschen aus aller Welt, darunter die ca. 80.000 Studierenden, die für einige Jahre nach Vancouver kommen, von Stipendien und/oder Servicejobs leben, in low-cost Unterkünften  wohnen, billiges und leckeres Food-Truck-Essen konsumieren, Ski fahren, Wassersport betreiben, die Natur- und Lebensqualität und breiten Kulturangebote genießen, um später im Familiengründungsalter in erschwinglichere Gegenden abzuwandern.

Viertens das große Heer der homeless, die überall in der Innenstadt in Hauseingängen, vor allem aber in Parks in riesigen Zeltlagern überleben, morgens und mittags von karitativen Organisationen mit Kaffee und Lunchpaketen versorgt werden und nachts überall die Stadt durchsuchen. Sie sind friedlich und niemand stört sich an ihnen, die Busfahrer lassen sie kostenlos mitfahren, aber niemand käme auf die Idee, dass es sich dabei um ein sozialpolitisches Problem jenseits karitativer Fürsorge handeln könnte. In Vancouver sind es besonders viele, weil man in diesem milden Klima auch im Winter überleben kann. In Toronto oder Ottawa, wo viele im Winter erfrieren, zahlt man ihnen Flugtickets nach Vancouver, um sie vor dem Kältetod zu bewahren. Die Versorgung mit billigen synthetischen „spice-type drugs“ trägt dazu bei, das harte Obdachlosenleben besser ertragen zu können.

Die traditionellen urbanen Mittelschichten sind weitgehend in die Außenbezirke des ‚Greater Vancouver‘ abgewandert und tragen jetzt zu dem hohen Pendler- Verkehrsaufkommen bei. In der postmodernen Stadt leben so Luxus und Armut direkt und unverbunden nebeneinander, während die normale Wohnbevölkerung in die Peripherie verdrängt wird.

Die finanziellen Grundlagen dieser Stadtökonomie und die Funktionsweise des aktuellen Kasinokapitalismus werden erst verständlich, wenn man einige jüngst veröffentlichte Polizeiberichte liest. Aus diesen geht hervor, dass Vancouver eine zentrale Geldwaschanlage der Welt für die immensen kriminellen Geschäfte des globalen Kapitalismus geworden ist. Die Geldwäsche konzentriert sich auf drei Sektoren, die sich weitgehend staatlicher Kontrolle entziehen.

1) In die Kasinos gehen die Geldwäscher mit Koffern voller Banknoten, um mit „sauberem“ Geld wieder herauszukommen. Die Kasinobetreiber verdienen daran ihren Anteil und die kriminellen Kapitalisten haben nun „sauberes“ Geld, das sie überall investieren können. Die klassische Ponzi Pyramide (1920) ebenso wie die moderne Subprime Hypothekenblase (2007) zerplatzten, weil irgendwann nicht mehr genug neues Geld nachgefüttert werden konnte, um die Blase aufrechtzuerhalten. In Vancouver dagegen ist ein Nachlassen der Geldwasch- und Immobiliennachfrage nicht abzusehen, da die Zinsen für andere Kapitalanlagen niedrig gehalten werden und ein Abflauen der globalen kriminellen Geschäfte von niemandem ernsthaft angegangen wird.

2) Während offizielle Makler und Notare streng kontrolliert werden, gibt es einen grauen Markt von“ mortage brokern“, privaten Leihhäusern und Anwaltskanzleien, spezialisiert auf Immobilientransfers, die jährlich Millionen „reinwaschen“ und die Immobilienblase in utopische Höhen treiben – mit entsprechenden Folgen für den Wohnungsmarkt. Allein im vergangenen Jahr sind schätzungsweise rund 5 Mrd. $ in den Immobilienmarkt von British Columbia geflossen. Daten des Finanzministeriums zufolge stieg der Preis eines Einfamilienhauses in Vancouver von 418.991 $ (2005) auf 1.026.609 $ (2017).

3) Die Luxusautos und Yachten sind der dritte Kasinokapitalismussektor: In China kostet ein Ferrari oder Porsche das Doppelte wie in Vancouver. So gibt es inzwischen Tausende neureicher Chinesen, die ein Luxusauto in Vancouver kaufen wollen und dafür einen „straw buyer“ (Strohkäufer) engagieren, das sind die MacLaren-Studenten, die die Luxuskarosse mit deren Geld kaufen, um es dann nach China zu verschiffen. Aber wo ist der Gewinn für den Studierenden? Sie erklären dem kanadischen Fiskus, das Auto exportiert (ins Ausland verkauft) zu haben und bekommen dafür 80% der Steuern auf den Kaufpreis (bei diesen Preisen hoch lukrativ) vom Staat zurück. Der Staat ist so der beste Helfer der spekulativen Kapitalisten und der größte Feind nicht nur der Armen, sondern inzwischen auch der früheren urbanen Mittelklassen.

Vancouver zeigt so, wie sich hinter dem schönen Schein eines weltoffenen multikulturellen grünen und ökologischen Stadtbildes die harte Welt eines kriminellen Raubtierkapitalismus verbirgt, der Marx‘ Hoffnungen auf die Entwicklung der ‚zivilisatorischen und produktiven Kräfte‘ längst zugunsten des schnellen und heißen Geldes aufgegeben hat.