von Joachim Hirsch
Nicht erst das unsägliche Gerangel zwischen CDU und CSU in der Migrations- und Flüchtlingspolitik hat deutlich gemacht, wie instabil das deutsche Parteiensystem geworden ist. Sogar die Möglichkeit einer Regierungskrise stand im Raum – eine Erscheinung, die man bisher nur von anderen Ländern kannte. Es gab noch Zeiten, als nach den Wahlen bereits fest stand, wer die Regierung bilden würde: die CDU/CSU oder – seltener – die SPD. Oft brauchte man dann noch einen Koalitionspartner, in der Regel die FDP, die sozusagen als Zünglein an der Waage diente. Damals dauerten auch Koalitionsverhandlungen nicht Monate, um dann schließlich doch noch zu scheitern.
Nach der letzten Bundestagswahl konnten die beiden großen Parteien nur noch knapp mehr als die Hälfte der Parlamentssitze für sich beanspruchen. Den Rest teilen sich weitere vier Parteien: die AfD, die Linke, die Grünen und die FDP. Die Bildung einer kleinen Koalition scheiterte an der FDP, die wohl meinte, für ihren Klientel nicht genügend herausholen zu können. Mit der Linkspartei wollten CDU/CSU und Grüne natürlich ohnehin nichts zu tun haben. Blieb also nur eine Wiederholung der großen Koalition, nachdem sich die SPD mal wieder auf ihre staatspolitische Verantwortung besonnen hatte. Eine in dieser Situation an sich anstehende Neuwahl wollten alle Parteien, nicht zuletzt aus Angst vor weiteren Wahlerfolgen der AfD, vermeiden, und Kanzlerin Merkel traute sich nicht, eine Minderheitsregierung anzuführen. Das hätte nämlich das Parlament gestärkt und die politische Debatte offener gemacht. Das eingespielte Kartell der etablierten Parteien wäre dadurch in Frage gestellt worden.
Die SPD hat inzwischen Mühe, auf zwanzig Prozent der Wahlstimmen zu kommen und drohte nach neueren Umfragen auch noch von der AfD überholt zu werden. Die Ära des Nachkriegs-Fordismus, in der die beiden großen Parteiblöcke die Politik beherrschten und als „Volksparteien“ oft bis gegen neunzig Prozent der WählerInnenschaft hinter sich versammeln konnten, ist offensichtlich zu Ende. Die Ursachen dafür sind vielfältig, haben aber viel mit den von der neoliberalen Offensive seit den 80er Jahren verbundenen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen zu tun. Deren Effekt macht sich nun mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, aber umso nachhaltiger auch im Parteiensystem bemerkbar.
Dazu gehört zunächst einmal die Krise der politischen Repräsentation, die durch die Transformation des Sozial- und Wohlfahrtsstaats zum neoliberalen „Wettbewerbsstaat“ hervorgerufen wurde. Im Gefolge der Fordismus-Krise der siebziger Jahre gingen die Regierungen daran, die Märkte, insbesondere im Finanzsektor, zu liberalisieren und damit auch der Internationalisierung des Kapitals zusätzlichen Schwung zu verleihen. Dadurch wurden sie vom Kapital noch abhängiger und begaben sich in einen Standortwettbewerb, der den Profitinteressen der Unternehmen höchste politische Priorität einräumt. Die Parteien wurden dadurch immer stärker dazu gezwungen, gegen die Interessen großer Bevölkerungsteile zu handeln. Die Folge ist, dass sich immer mehr Menschen politisch nicht mehr vertreten fühlen können. Das insgesamt sozialintegrative „Modell Deutschland“ hat der international verflochtenen „Deutschland AG“ Platz gemacht. Darauf und weniger auf diffusen Stimmungen beruht das, was gerne als „Politikverdrossenheit“ gehandelt wird. Charakteristisch für diese Entwicklung ist, dass es gerade die rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder war, die mit den Hartz-“Reformen“ eine entscheidende Demontage des Sozialstaats durchgesetzt hat. Internationale Konkurrenzfähigkeit war auch hier das treibende Motiv. Die Klientel der Grünen war davon wenig betroffen, die SPD hat sich davon nicht mehr erholt.
Während in der Ära des Fordismus die soziale Struktur noch von der Dominanz der – männlichen – Industriearbeiterschaft bestimmt war, haben sich die Arbeitsbeziehungen grundlegend verändert. Das Normalarbeitsverhältnis droht zu einem Auslaufmodell zu werden, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und damit die gesellschaftliche Ungleichheit haben zugenommen. Durch die mit dem neoliberalen Gesellschaftsmodell verbundene Konkurrenzmobilisierung – auch „Individualisierung“ genannt – und im Zuge der kulturellen Veränderungen im Gefolge der sozialen Bewegungen seit den siebziger Jahren haben sich die sozio-kulturellen Milieus ausdifferenziert. Die allseits gepredigten neoliberalen Bewusstseinsinhalte wurden beherrschend, Solidarität geriet zu einer Angelegenheit von Sonntagsreden und individuelles Sich-durch-Schlagen wurde dominierend. Übergreifende soziale Interessenzusammenhänge lösen sich scheinbar auf und den Parteien fällt es schwerer, eine soziale Basis für sich auszumachen. „Stammwählerschaften“, mit denen einst sicher gerechnet werden konnte, gibt es nur noch beschränkt.
Die Parteien operieren daher eher mit einer situativen, an Stimmungen und Meinungsumfragen orientierten Klientelpolitik und sind deshalb noch unfähiger, übergreifende und nachhaltige gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln. Da sie sich im Wesentlichen auf die Verwaltung des gesellschaftlichen Status Quo beschränken und nicht mehr in der Lage sind, Alternativen dazu auch nur zu formulieren, verschwimmen die Unterschiede zwischen ihnen. Dies nicht zuletzt nachdem die SPD den „dritten Weg“ eines etwas gemäßigten Neoliberalismus eingeschlagen und damit auf weiter gehende gesellschaftliche Veränderungen verzichtet hat. Dass Frau Nahles nun auch die Historische Kommission der SPD abschaffen will, passt in dieses Bild. Dadurch wird Realität, was Johannes Agnoli bereits 1967 als „virtuelle Einheitspartei“ diagnostiziert hatte. Man kann sich schon fragen, was bei Wahlen eigentlich noch gewählt werden kann.
Damit und angesichts der Tatsache, dass angesichts einer wachsenden Internationalisierung der staatlichen Strukturen und der Kapitalabhängigkeit der Regierungen grundsätzlichere politische Entscheidungen außerhalb des Parlaments, wenn nicht überhaupt in internationalen Organisationen und Gremien getroffen werden, wird Parteimitgliedschaft – sofern sie nicht als Karrierevehikel dient – uninteressant. Dies ist sicher auch ein Grund für den starken Mitgliederschwund, den vor allem die großen Parteien zu verzeichnen haben. Wenn auf die damit verbundenen Einnahmeverluste – wie jetzt eben wieder – mit einer Erhöhung der staatlichen Finanzierung reagiert wird, verstärkt dies ihren Charakter als Quasi-Staatsapparate. Wer heute politisch etwas bewegen will, wird jedenfalls an anderen Orten, in zivilgesellschaftlichen Initiativen oder Nichtregierungsorganisationen aktiv.
Nicht zuletzt die Migration hat quer zu den Parteigrenzen verlaufende soziale Konfliktfronten entstehen lassen, wovon der aktuelle Streit zwischen der CDU und der CSU nur ein herausragendes Beispiel ist. Bei der SPD und der Linkspartei bestehen ähnliche Gegensätze. Und seit 2015 regiert Kanzlerin Merkel in Fragen der Flüchtlingspolitik genau genommen gegen ihre eigene Fraktion und Partei – nicht nur gegen die CSU. Die Unterstützung der Unternehmen hat sie allerdings dabei, was deutlich macht, dass Migration auch eine Klassenfrage ist, die aber als solche nicht thematisiert wird. Erst allmählich wird deutlich, wie sehr die Migration die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse umwälzt, und damit auch das Parteiensystem.
Eine weitere wichtige Rolle spielt der Strukturwandel der Öffentlichkeit, der durch das Internet und vor allem die „sozialen Medien“ wie Facebook und Twitter hervorgerufen wird. Nicht zuletzt angesichts der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit gab es hierzulande zunächst einen gewissen, die etablierten Parteien und auch die wichtigen Medien umgreifenden Konsens, sich gegen den Rechtsradikalismus abzugrenzen. Rassismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit verblieben dadurch weitgehend auf der Ebene der Stammtische und des sich für gesund haltenden „Volksempfindens“. Mit dem Aufkommen der Internetöffentlichkeit war es damit vorbei – eine Entwicklung, die wesentlich zum Aufstieg der AfD beigetragen hat. Der Stammtisch ist zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor geworden, einschließlich des dort herrschenden Sprachgebarens. Es ist charakteristisch, dass die AfD von allen Parteien bei Facebook am stärksten präsent ist. Verstärkt wurde dies durch den Versuch der anderen Parteien, nicht nur der CSU, sich deren Diskursen anzunähern, um ein Abwandern der WählerInnen zu verhindern. Einige von Seehofer oder Dobrindt gemachte Äußerungen hätte man jedenfalls eher von AfD-Funktionären erwartet. Viel hat das offensichtlich nicht gebracht, prägt aber die öffentliche Debatte immer stärker. Diese wird heute im Wesentlichen von der „Flüchtlingsfrage“ bestimmt, als gäbe es nicht ein immer wackliger werdendes Sozialsystem, den Pflegenotstand, die Altersarmut und eine gravierende Wohnungsnot. Migration und Flucht haben den Charakter einer allseits praktizierten populistischen Anrufung, die dazu dient, reale Interessengegensätze zu verschleiern. Die kommerzialisierten und quotengeleiteten Medien tragen – weil auf Events und Aufregerthemen fixiert – dazu bei. Dies selbst dann, wenn die unsäglichen Äußerungen eines AfD-Funktionärs kritisiert werden. Eben das verschafft ihm eine breitere Öffentlichkeit. Der AfD und dem Stammtisch hilft das, ungemein.
Nichts deutet darauf hin, dass diese Entwicklung rückgängig gemacht werden könnte. Eher wird sie sich noch verstärken. Die politischen Strukturen und damit auch die demokratischen Prozesse unterliegen daher einem grundlegenden Wandel. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr das, was sie einmal war. Es ist anzunehmen, dass der sich im Parteiensystem abzeichnende und die Gesellschaft durchziehende Rechtsruck Bestand haben wird, jedenfalls solange Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottung auch von dieser Ebene aus propagiert werden und eine Politik, die gravierende gesellschaftliche Missstände grundsätzlich angeht, nicht zu erkennen ist. Regierungsbildungen werden damit schwieriger und die Politik unkalkulierbarer.
An sich bedeutet eine größere Parteienvielfalt auf parlamentarischer Ebene eine Erweiterung der demokratischen Wahlmöglichkeiten. Dies allerdings nur dann, wenn die Parteien unterscheidbare und überzeugende Politikangebote machen. Dafür spricht wenig. Ihnen mangelt es inzwischen an dem intellektuellen Potential, das für die Entwicklung einer zukunftsträchtigen, demokratischen und humanen Programmatik notwendig wäre. Eingezwängt in die vom internationalisierten Kapital gesetzten Bedingungen, von deren Berücksichtigung „Regierungsfähigkeit“ abhängt und bürokratischen Mechanismen unterworfen, besteht in den Parteien kaum noch Raum für unabhängige und über den Status Quo hinausweisende intellektuelle Debatten. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die auf Populismus bauende Strategie taktischer Wahlmobilisierung weiter beherrschend bleiben wird. Schlechte Aussichten also nicht nur für die demokratischen Verhältnisse hierzulande, sondern auch für eine Politik, die den zukünftigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen gerecht wird.