von Joachim Hirsch
Beide der früher so genannten Volksparteien, SPD und CDU/CSU, haben nach ihrem letzten Wahldebakel ihre Erneuerung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. In der Tat haben sie gute Gründe für eine grundsätzliche Reform, bringen sie es doch nach herben Wahlverlusten als große Koalition inzwischen auf nicht viel mehr als die Hälfte der Parlamentssitze. Im neuen Koalitionsvertrag ist von Erneuerung allerdings wenig zu erkennen., Allenfalls gibt es einige neue Gesichter in der Ministerriege. Sozusagen im Zuge des natürlichen Generationswechsels. Bei CDU und CSU ist von Erneuerung inzwischen überhaupt nichts mehr zu hören. Die CSU, vertreten durch den neuen „Heimat“-Minister Seehofer und den unsäglichen Lautsprecher Dobrint, sucht ihr Heil weiterhin in einer Anbiederung an AfD-Wähler. Oder man ruft, wie Letzterer mit dem gleichen Ziel eben mal eine „konservative Revolution“ aus. Insbesondere die SPD hätte in dieser Hinsicht einigen Bedarf, ist sie doch in Umfragen mittlerweile auf unter 20% gerutscht. Ob sie es schaffen kann, inhaltlich und programmatisch wieder auf die Beine zu kommen? Einige Zweifel sind angebracht.
Die SPD teilt das Schicksal anderer europäischer Sozialdemokratien, die ihrem Untergang entgegen zu sehen scheinen, wie etwa bei den jüngsten Wahlen in Italien wieder deutlich geworden ist. In Frankreich sieht es nicht viel anders aus. Ihre Zeit scheint abgelaufen. Im Deutschland der Nachkriegszeit hatte die SPD, obwohl zunächst noch nicht als Regierungspartei, eine wichtige Funktion. Der damals herrschende „fordistische“ Kapitalismus war lange Zeit durch ein stabiles und relativ krisenfreies ökonomisches Wachstum gekennzeichnet, von dem breitere Schichten profitieren konnten, von relativ gegeneinander abgeschotteten nationalen Ökonomien, was Wirtschaftspolitik auf einzelstaatlicher Ebene möglich machte, durch verhältnismäßig starke Gewerkschaften und damit die Etablierung korporativer Regulierungsmechanismen. Die SPD war deren wesentlicher Stützpfeiler und die industrielle, vor allem männliche Facharbeiterschaft ihre wichtigste Basis.
Der Fordismus geriet in den siebziger Jahren in eine schwere Krise, weil die ihn kennzeichnenden gesellschaftlichen Strukturen sich zunehmend als Schranke des Kapitalprofits erwiesen. In ihrer Folge kam es zur neoliberalen Offensive, deren Ziel es war, eben diese Kräfteverhältnisse umzuwälzen. Damit wurde auch die Krise der sozialdemokratischen Parteien eingeleitet. Mit der Etablierung neoliberal-konservativer Regierungen – Reagan in den USA, Thatcher in Großbritannien, später Kohl in Deutschland – gerieten sie in die Defensive, der sie dadurch zu entgehen suchten, dass sie die neoliberale Programmatik in etwas abgemilderter Form übernahmen – Neoliberalismus light, auch „Dritter Weg“ genannt. Bei der 1998 mit Kanzler Schröder dann wieder in die Regierung gekommenen SPD hieß das unter anderem eine drastische Senkung der Einkommens- und Unternehmenssteuern, Durchsetzung der „Agenda 2010“ mit den Hartz IV-“Reformen“ – ein Sozialstaatsabbau, der viele in die Armut trieb. Zugleich wurde die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse vorangetrieben. Getreu neoliberaler Lehre wurde ein Niedriglohnsektor geschaffen, der dem Kapital günstigere Verwertungsbedingungen bieten sollte. Wenn die SPD nun Gesellschaftsspaltung und soziale Ungleichheit beklagt, sogar „Gerechtigkeit“ in ihr Programm schreibt, handelt sie sich schon deshalb ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem ein. Die Wahlergebnisse zeigen das.
Ursprünglich war die SPD als „Arbeiterpartei“ mit dem Ziel einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung angetreten, zwar nicht durch Revolution, aber mittels demokratischer Reformpolitik. Kapitalismuskritik, einstmals noch die programmatische Grundlage, ist inzwischen passé. Eher geht es darum, diesen irgendwie etwas erträglicher zu machen und ansonsten alles zu seiner Erhaltung zu tun. So lässt sich bei etwas gutem Willen auch ihre Positionierung im neuen Koalitionsvertrag interpretieren, der im Übrigen ein entschlossenes „weiter so“ signalisiert.
Das bedeutet, dass auch fürderhin ein Weg beschritten wird, der sich für die Partei als verhängnisvoll erweisen wird. Den Mitgliedern war dies durchaus bewusst, was sich an den Schwierigkeiten der Führungsriege zeigt, ihnen den erneuten Gang in eine große Koalition schmackhaft zu machen. Wie aber müsste eine Alternative dazu aussehen, eine Programmatik, die die Partei nicht mehr nur als Verwalterin immer stärker als unhaltbar wahrgenommener Zustände, sondern als überzeugende Gestaltungskraft erscheinen ließe? Eine Rückkehr zur fordistisch-keynesianischen Politik wie in der Nachkriegszeit ist angesichts der inzwischen durchgesetzten ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sicher nicht mehr möglich. Dies auch deshalb nicht, weil sich der Siegeszug des Neoliberalismus auch seinen Versprechungen von mehr Freiheit und Individualität, Selbstbestimmung, weniger bürokratischer Bevormundung verdankt. Es gälte also eine Politik zu formulieren, die über den Neoliberalismus hinausweist ohne in traditionelle Muster zu verfallen, eine Politik, die veränderten Interessenkonstellationen gerecht wird, vorhandene gesellschaftliche Potentiale in Rechnung stellt, neue Formen des sozialen Zusammenlebens anvisiert, menschenwürdige Zukunftsperspektiven deutlich macht und in diesem Sinne „modern“ ist. Nur mit einer konkreten Perspektive auf andere, solidarische und weniger marktdominierte Formen der Vergesellschaftung wäre es möglich, den Kampf mit dem trotz aller gesellschaftlichen Verwerfungen und Krisenerscheinungen immer noch herrschenden Neoliberalismus aufzunehmen.
Was dies bedeuten könnte, lässt sich durchaus skizzieren. Das betrifft zum Beispiel die sozialen Sicherungssysteme, die in ihrem gegenwärtigen Zustand infolge der sozialstrukturellen Umwälzungen und der Veränderung der Arbeitsverhältnisse immer mehr ihren Boden verlieren. Wenn das Normalarbeitsverhältnis tendenziell zur Randerscheinung wird, sieht die Zukunft des – mehr oder weniger paritätisch – aus Lohnabzügen finanzierten Sozialsystems eher düster aus, ganz abgesehen davon, dass es z.B. in Bezug auf das Geschlechterverhältnis hoch selektiv ist und im Zuge von Hartz IV zur Verarmung breiter Bevölkerungsteile führt. Stattdessen stände die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens – in einer zu einer würdigen Lebensführung ausreichenden Höhe und bedingungslos – auf der Tagesordnung. Entsprechende Diskussionen deuten sich bei der SPD inzwischen zumindest an, aber kaum mehr als zaghaft. Der jetzt diskutierte Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“ ist eher eine Mogelpackung zur Beruhigung der Mitglieder, weil Hartz IV dadurch keinesfalls beseitigt würde und am Arbeitszwang überhaupt nicht gerüttelt wird. Es müsste endlich realisiert werden, dass der vorhandene Reichtum der Gesellschaft es ermöglicht, allen ihren Mitgliedern unabhängig von ihrer Arbeitsleistung ein vernünftiges Leben zu gewährleisten. Das Beharren auf den Prinzipien der Arbeitsgesellschaft ist schon deshalb nicht mehr haltbar, weil immer mehr Arbeiten von Automaten übernommen werden und ein Großteil der gesellschaftlichen Tätigkeiten dazu dient, unnütze oder gar schädliche Produkte zu erzeugen. Ganz abgesehen davon, dass ein großer Teil der notwendigen und nützlichen Arbeiten überhaupt nicht entlohnt wird.
Was den dringend notwendigen Bau bezahlbarer Wohnungen angeht, sieht die große Koalition als einzige Maßnahme eine eher bescheidene Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus vor. Dadurch werden die Mieten nur für eine gewisse Zeit verbilligt und im Übrigen geht es dabei um eine Subvention privater Bauherren. Von einer (Wieder-) Einführung des kommunalen Wohnungsbaus, der eine nachhaltige Verbesserung der Wohnungsversorgung bedeuten würde und der Tatsache Rechnung trüge, dass Wohnen ein gesellschaftliches Grundbedürfnis darstellt, ist nicht einmal die Rede. Öffentlicher Wohnungsbau in ausreichendem Umfang würde dessen Befriedigung zumindest teilweise den Marktmechanismen entziehen, die dazu geführt haben, dass Wohnen vor allem in den Ballungsgebieten für viele praktisch unerschwinglich wird.
Dasselbe gilt für ein weiteres Feld der sozialen Infrastruktur, den öffentlichen Personennahverkehr. Um drohende Fahrverbote für Dieselfahrzeuge abzuwenden und die Autoindustrie nicht zu Nachrüstungen verpflichten zu müssen, hat die Regierung die Überlegung ins Spiel gebracht, diesen im Prinzip kostenlos zu machen. Wie dies aber finanziert werden soll und wie die gewaltigen Investitionssummen für den dann notwendigen Ausbau der Verkehrseinrichtungen aufgebacht werden sollen, darüber herrscht Schweigen. Also auch ein Ablenkungsmanöver. Ganz abgesehen davon gibt es wenig brauchbare Überlegungen, wie der fortschreitenden Entleerung ländlicher Räume begegnet werden soll, die deren infrastruktureller Unterversorgung geschuldet ist und die zu den ernsten Problemen in den Ballungsgebieten führt. Dazu bedürfte es einer mit ausreichenden Instrumenten ausgestatteten Raumordnungspolitik. Ebenfalls Fehlanzeige, wenn man von der Absicht absieht, den ländlichen Raum mit digitalen Breitbandanschlüssen zu versorgen – sofern die Konzerne mitspielen, in deren Hand das liegt.
Das deutsche Gesundheitssystem ist extrem teuer, aber im internationalen Vergleich nur von recht mittelmäßiger Qualität. In diesem Zusammenhang hat die SPD das Modell der anderswo erfolgreichen Bürgerversicherung ins Spiel gebracht, konnte sich damit aber bei den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen. Das wäre allerdings nur ein Teil der notwendigen Reformen. Notwendig wäre eine radikale Umgestaltung des Systems. Auch hier handelt es sich wieder um ein zentrales Feld der sozialen Infrastruktur, weil eine kostenlose Bereitstellung der Gesundheitsversorgung für alle ein Grundbedürfnis ist, das aus Steuermitteln zu finanzieren wäre. Dazu käme eine Reorganisation des gesamten Systems mit dem Ziel der Einrichtung integrierter regionaler Gesundheitszentren. Das aber würde die Bereitschaft voraussetzen, sich nicht nur mit den privaten Krankenversicherungen, sondern auch mit der Ärzte- und Pharmalobby anzulegen.
Insgesamt ist festzustellen, dass es kaum ernsthafte Ansätze gibt, die neoliberale Privatisierungspolitik zu revidieren und dem herrschenden Marktradikalismus Einhalt zu gebieten. Was einer fortschrittlichen und zukunftweisenden Partei anstünde, wäre ein Programm für eine tiefgreifende Gesellschaftsveränderung: Ausbau der öffentlich finanzierten Grundversorgung der gesamten Bevölkerung auf einem den vorhandenen Möglichkeiten entsprechenden Niveau. Das würde „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ bedeuten, wovon in Sonntagsreden so gerne gesprochen wird.
Natürlich würde das enorme staatliche Finanzmittel erfordern. Man könnte allerdings auch ausrechnen, was unter anderem die weit verbreitete Steuervermeidung der Unternehmen und Großverdiener, die mehr als niedrigen Unternehmens- und Einkommensteuersätze, der Verzicht auf eine Vermögenssteuer und die Ausnahmen von der Erbschaftssteuer den Staat kosten. Wenn inzwischen gelegentlich die Einführung einer Maschinensteuer in die Diskussion gebracht wird, so trägt das der immer weiter fortschreitenden Automatisierung der Produktion und dem tendenziellen Überflüssigmachen menschlicher Arbeit Rechnung. Mit dem gleichzeitigen Festhalten an der paritätisch aus dem Lohn finanzierten Renten- und Gesundheitssystem ist das freilich kaum vereinbar. Und schließlich geht es um die als Mantra gehandelte und gerade wieder vom neuen SPD-Finanzminister Scholz beschworene „schwarze Null“ in den öffentlichen Haushalten, deren ökonomischer Unsinn selbst von der etablierten Wirtschaftswissenschaft inzwischen erkannt wird. Mittlerweile geht es nicht einmal mehr um diese. Die Haushalte weisen erhebliche Überschüsse auf, die nicht dazu verwandt werden, dringend notwendige Investitionen zu finanzieren. Wenn die Zinssätze angesichts horrender privater Kapitalüberschüsse gegen Null gehen, spricht überhaupt nichts gegen kreditfinanzierte öffentliche Investitionen in die soziale Infrastruktur. Dies alles berücksichtigt, würde sich die Finanzierungsfrage ganz anders stellen. (Vgl. dazu: Sozialpolitik als Infrastruktur, auf www.links-netz.de).
Angesichts der Tatsache, dass die Macht von Internetkonzernen wie Facebook, Google oder Amazon eine zunehmende Bedrohung der liberalen Demokratie darstellt, klingt es wie Hohn, dass den herrschenden Parteien zu diesem Thema nicht mehr einfällt als der Ruf nach immer mehr Digitalisierung. Auch so ein Mantra. Die in der üblichen Rhetorik gehandelte Forderung nach einem besseren Schutz der Verbraucherrechte reicht nicht aus, zumal das recht folgenlos bleibt und entsprechende Maßnahmen den Konzernen überlassen bleiben, die an ihrem Geschäftsmodell kaum rütteln werden. Hier wären massive staatliche Eingriffe erforderlich, z.B. dahingehend, dass das Sammeln von Daten von den Unternehmen bezahlt werden muss und dass bestimmte Datensätze als öffentliches Gut behandelt werden, die nach bestimmten Zugangsregeln genutzt werden können. Dies ganz abgesehen von der Notwendigkeit, diese inzwischen fast weltbeherrschenden Unternehmen zu zerschlagen (vgl. dazu Evgeny Morozow, Noch ist es nicht zu spät, in: Süddeutsche Zeitung, 6.4.2018). Auch davon ist allerdings wenig Substanzielles zu hören.
Ein anderes Feld, auf dem grundsätzliche Veränderungen nötig wären, ist die Außen- und Europapolitik. Deutschland muss sich nicht als Möchtegerngroßmacht mit internationaler Verantwortung“ – was heißt Militärinterventionen in vielen Teilen der Welt – gerieren. „Verantwortung“ könnte auch heißen, friedliche Konfliktlösungen anzustreben und sich gegen Kriegstreiberei zu stellen. Also nicht den Expansionsdrang von EU und NATO nach Osteuropa unterstützen und keine Waffen an Staaten zu liefern, die völkerrechtswidrige Kriege führen. Dass Deutschland zu den größten Waffenexporteuren gehört, übrigens auch unter ministerieller SPD –Verantwortung, ist schon für sich genommen ein Skandal. Wenn das Projekt Europa eine Chance haben soll, so ginge dies nur mit einer Vertiefung der politischen Union. Das heißt nicht zuletzt eine stärkere finanzpolitische Integration mit einem Ausbau der entsprechenden Institutionen. Das Gehabe der deutschen Regierung als Sparkommissarin steht dem diametral entgegen. Dahingehende Vorschläge des französischen Präsidenten wurden von der SPD zwar irgendwie begrüßt, in den Koalitionsverhandlungen blieb davon aber nichts übrig.
Die SPD hat nun also ihren „Erneuerungsprozess“ eingeleitet. Nach breit angelegten Diskussionen mit den Mitgliedern soll am Ende ein neues Programm stehen. Dabei wird auch von „Visionen“ geredet, die entworfen werden sollen. Die Frage ist allerdings, wo sich in der Partei eigentlich das intellektuelle Potential findet, welches dies leisten könnte. Das heißt Leute, die über den Tellerrand des Bestehenden hinausblicken, zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten deutlich machen und ganz neue Ideen einbringen. Diese haben sich längst von den Parteien abgewandt und ihren Ort in vielfältigen außerparlamentarischen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen gefunden. Vom SPD-nahen think tank beispielweise, der so etwas eigentlich leisten sollte, dem „Institut Solidarische Moderne“ ist diesbezüglich kaum etwas zu vernehmen. Die Parteien sind Wahlmaschinen geworden, die den gesellschaftlichen Status Quo verwalten und eher als Karrierevehikel denn als gesellschaftspolitische Akteure fungieren. Daher auch der inhärente Hang zu einem Populismus, bei dem es vorrangig um kurzfristige Stimmenmaximierung geht. Wenn auf gesellschaftliche Veränderung gezielt werden soll, ist es wenig tauglich, sich nur auf existierende Bewusstseinslagen und Interessenkonstellationen zu beziehen. Neue Ideen werden in der Regel von kleinen Gruppen und Minderheiten in die Welt gesetzt. An der Partei wäre es, diese zumindest aufzunehmen und in der öffentlichen Diskussion zu versuchen, dafür Mehrheiten zu gewinnen. Das ist gewiss eine riskante Strategie, die nicht unbedingt kurzfristige Erfolge verspricht, aber nur so würde „Erneuerung“ funktionieren. Die SPD muss zwischen Risiko und sicherem Untergang wählen.