Spanien: Woran Podemos scheitert

Von Armando Fernández Steinko

[Die spanische Protestpartei Podemos, entstanden im Gefolge der Bewegung 15-Mai auch ‚Indignados‘ (Empörte) genannt, die im Jahr 2011 in einer einzigartigen basisdemokratischen Massenbewegung monatelang die zentralen Plätze aller spanischen Städte besetzt hielt, weckte weltweit Hoffnungen auf einen alternativen Typ politischer Partei und basisdemokratischer Organisation. In nur wenigen Jahren wurde sie aus dem Nichts zur drittstärksten Partei mit 20% der Wählerstimmen (2016), doch droht sie inzwischen genauso schnell wieder zu verschwinden. Eine Analyse des Scheiterns dieses politischen Experiments hat daher weit über Spanien hinaus für linke Politik herausragende Bedeutung und der hier übersetzte Artikel möchte dazu einen Beitrag leisten.]

Die zentralen und regionalen Wahlen in Spanien im Jahr 2019 haben das Ende der politischen Erneuerung markiert. Diese wurde angetrieben von den Runden Tischen (Mesas de Convergencia) im Jahr 2010 und von der Bewegung 15-M im Jahr 2011, die schließlich zu den Wahlerfolgen von Podemos im folgenden Jahr führten.  Wie schon beim Verfall der Vereinten Linken (Izquierda Unida) in den 1990er Jahren scheint die Organisation nicht in der Lage zu sein, eine grundlegende Debatte über die Ursachen ihres rapiden Niedergangs zu führen. Doch ihre Fähigkeit, in den Anfangsjahren mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen und in Katalonien und im Baskenland, zwei pluralistischen Regionen, die den Schlüssel zur Lösung des Identitätsproblems und der Nationalitätenfrage  in ganz Spanien in der Hand halten, zur bedeutendsten politischen Kraft zu werden, war viel zu wichtig, um dieses politische Experiment jetzt zu banalisieren oder sich mit personenbezogenen Erklärungen und Anekdoten zufriedenzugeben. Was also ist geschehen mit Podemos?

Kommunikation und Realität

Der Aufstieg von Podemos stellt einen unglaublichen Erfolg politischer Kommunikation dar, die auf der Verwendung einer neuen Sprache und einer neuen Symbolik beruhte. Bei beiden handelt es sich um entscheidende politische Phänomene, über die allerdings nicht vergessen werden darf, wie notwendig das Anerkennen der gesellschaftlichen Realität ist. Sie stellt das primäre Material für ein jegliches Transformationsprojekt dar. Wie nützlich diese neue Art der Kommunikation für eine Transformation auch sein kann, so handelt es sich dabei nicht um mehr als ein Mittel, nicht aber um ein Ziel als solches. Verwechselt man Mittel und Ziele, führt das zu Widersprüchen zwischen dem, was man sagt und vorschlägt und dem, was tatsächlich in einer Gesellschaft geschieht. Solche Widersprüche führen letztlich zur Erodierung der gesellschaftlichen Unterstützung mit dem Ergebnis, dass sich die  Wirksamkeit der kommunikativen Strategien abschwächt und man sozusagen an den Ausgangsort zurückkommt. Diese Verwechslung zwischen Botschaft und Realität wird im postmodernen Denken sehr positiv bewertet und hat seinen Höhepunkt in der Erscheinung der „fake news“ und der neuen Formen digitaler Kommunikation gefunden. Die Art und Weise, wie die führenden Personen von Podemos den Begriff Populismus verwenden, macht ihre  Absicht deutlich, mit der Aufspaltung von Realität und Kommunikation zu spielen. Unterdessen lässt sich der Begriff im lateinamerikanischen Kontext durchaus als progressiv verstehen, doch wenn man ihn in Europa anwendet, wie es Podemos getan hat, spielt man damit den Feinden der Veränderung in die Hände.

Aber es geht nicht nur darum, die soziale und institutionelle Realität als Grundlage jeden politischen Projekts zu erkennen. Vielmehr muss man versuchen, die besagte Realität als Potential dafür zu sehen, sie real zu verändern. Sie zu sehen und zu erkennen bedeutet zumindest eine halbwegs realistische Vorstellung von den Gruppen und sozialen Klassen zu haben, die eine Gesellschaft wie die spanische ausmachen. Um ihre Veränderungsdynamik und die Dimensionen und Grenzen der ökonomischen Strukturen im internationalen Zusammenhang zu erkennen, so wie sie tatsächlich sind und nicht wie man sie sich wünscht, muss man die sozialen Hintergründe ebenso wie die normative Entwicklung der Wählerschaft, zumindest der eigenen kennen, um nicht den Kontakt zu ihr zu verlieren. Diejenigen in Podemos, die die Entscheidungen treffen, waren erfolgreich in der politischen Kommunikation, aber sie haben sich nicht ausreichend damit beschäftigt, die spanische Realität wahrzunehmen, die sie verändern wollten.

Extrapolation unterschiedlicher Realitäten

Den zweiten Fehler von Podemos muss man in Zusammenhang mit dem ersten betrachten. Man ging davon aus, dass die spanische Gesellschaft und das politische System, das sich seit 2010 in einer schweren Legitimationskrise befand, ebenso wie der gegenwärtige spanische Staat selbst mit der Situation in verschiedenen Ländern Lateinamerikas vergleichbar seien. Spanien aber ist ein Land der südlichen Peripherie Europas, das nicht Bestandteil des Funktionszentrums der EU ist. Der Handlungsspielraum Spaniens zur Bewältigung der Finanzkrise von 2008 war so stark eingeschränkt wie es der von Portugal und Griechenland war und weiter ist. Die Krise von 2008 traf insbesondere die spanischen Mittelschichten und führte außerdem zu einer immensen Ausweitung der Korruption. Darüber hinaus stürzte das spanische Zweiparteiensystem, das politische und institutionelle System insgesamt, in eine noch nie dagewesene Krise. Jedoch zu glauben, dass dieses System, seine Mittelschicht, sein Parteiensystem und sogar seine staatliche Realität in ihrer Prekarität denen lateinamerikanischer Länder vergleichbar wäre, ist völlig abwegig. Das Links-Rechts Schema durch ein „Oben-Unten“ zu ersetzen, von „dem Volk“, den „99 Prozent“ oder dem „linken Populismus“ zu sprechen, war vielleicht eine gute Kommunikationsstrategie. Doch lassen sich damit weder die reale Gesellschaft beschreiben noch ihre Ausdifferenzierungen, ihre Veränderungen oder ihre Widersprüche fassen. Diese zu identifizieren wäre aber notwendig, um politische Positionen, die in Wahlen errungen werden, zu konsolidieren und zu erweitern. Der Annahme, dass ein Wandel in einer modernen Gesellschaft wie der spanischen dadurch herbeigeführt werden könnte, dass das politische System quasi überflutet wird durch die einfachen Leute in Form einer spontanen, nicht aufzuhaltenden Bürger- oder Volksbewegung, gelenkt von den überqualifizierten Söhnen deklassierter urbaner Mittelschichten mit Verbindungen zu den populären Sektoren, wie in einigen lateinamerikanischen Ländern geschehen, fehlt jeder Bezug zur Realität, auch wenn es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen den jeweiligen Gesellschaften gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich diese Experimente nicht einmal in den lateinamerikanischen Ländern konsolidieren konnten, sobald sich die Dynamik der Weltwirtschaft veränderte, so erscheint die Realitätstauglichkeit von solchen importierten Strategien noch weitaus zweifelhafter. In komplexen und relativ strukturierten Gesellschaften wie der spanischen ist Gramscis Kampf um die Hegemonie eine wesentlich angemessenere Strategie, selbst wenn diese vielleicht wesentlich langwieriger sein kann. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Kumulation von Hegemonien nur in einem eher langen und komplexen Prozess erreicht werden kann, der sich auf das Wissen um und den direkten Bezug auf die sich verändernden sozialen, ökonomischen und institutionellen Strukturen stützt, die transformiert werden sollen. Um das zu illustrieren fällt mir kein geeigneteres Beispiel ein als das von Jordi Puyol (von 1980-2003 Ministerpräsident von Katalonien und Vorsitzender der konservativen Partei Convergència i Unió) ausgearbeitete Projekt zur Konstruktion einer modernen Nation in Katalonien mit dem letztendlichen Ziel, einen unabhängigen Staat zu schaffen, der von den konservativen katalonischen Kräften regiert wird. Demgegenüber hat die wahlarithmetische Strategie des „Überholens“ (das erklärte Ziel von Podemos war, die sozialistische PSOE zu überholen) noch nie Vorteile für diejenigen gebracht, die sie angewendet haben, und passt schlicht nicht zu einer Strategie, die den Anspruch erhebt, eine Gesellschaft wie die spanische zu transformieren.

Die fehlgeleitete Kritik an der Verfassung von 1978

Der dritte strategische Fehler von Podemos ergibt sich aus der Positionierung der Partei zur Verfassung von 1978. Diese war das Ergebnis einer Kräftekonstellation, und zwar innerhalb und außerhalb Spaniens, die wesentlich positiver für die Linke war als es heute der Fall ist. Das heißt, dass die Entwicklung einer neuen Verfassung heute dazu führen würde, eine „magna carta“ zu entwickeln, die weitaus regressiver wäre als die gegenwärtige. Die aktuelle Verfassung ist weit fortschrittlicher als der elaborierte Schund zur Begründung der sogenannten Republik Katalonien. Die Liste der progressiven Artikel in der heutigen Verfassung ist wesentlich umfangreicher als das, was Podemos in den letzten Jahren vorgeschlagen hat. Dieser Fehler wurde erst vor kurzem bemerkt, als es schon zu spät war. Die Verfassung von 1978 garantiert eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Rechten und Verpflichtungen für den Staat, das Wohlergehen der Bürger*innen zu schützen und zu fördern, wie wir sie auch aus dem deutschen Grundgesetz kennen.

Die Kritik, die man aussprechen kann und muss, entspricht der, die in Frankreich, Deutschland oder Italien an der jeweiligen Verfassung geäußert wird, nämlich die Nichterfüllung vieler Postulate infolge der jeweiligen Wirtschaftspolitik der Länder. Dazu gehört z. B. die Express-Verfassungsreform des Art. 135 (Schuldendeckel). Das wirkliche Problem der Verfassung von 1978 verbirgt sich in der Spannung zwischen dem Zivilgesetz, das das Privateigentum regelt, und den konstitutionell verbrieften Rechten, die allen Bürger*innen unabhängig von ihrem Besitz gewährt werden. Auch das ist ein Problem der Verfassungen aller kapitalistischen Staaten und kein spezifisch spanisches.

Als Podemos und ihr nahestehende Gruppen begannen, von der Krise der 78er Ordnung zu sprechen, um damit einen Ansatz für einen politischen Umbruch zugunsten der Linken zu öffnen, entwickelten sie eine mehrdeutige Kritik. Sie gingen mit der Verfassung um als sei sie ein Produkt des politischen Rückfalls – ohne dies jedoch deutlich auszusprechen – und interpretierten sie um in eine Art Initiative der Regierung Arias Navarros (1973 – 1976 Ministerpräsident Spaniens) mit dem Ziel, einen Bruch mit dem Franco-Regime zu umgehen. In der Tat war der demokratische Übergang ein Kompromiss mit der frankistischen Vergangenheit, doch das ändert nichts am deutlich fortschrittlichen Gehalt der zentralen Artikel, insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtigen Zeitläufe. Diese Mehrdeutigkeit in der Kritik an der Verfassung ist keineswegs zufällig. Vielmehr beruht sie auf einer ungenauen Betrachtung dessen, was den modernen Staat ausmacht bzw. dessen Identifikation fast ausschließlich mit dem des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese ahistorische Interpretation des Kapitalismus und der Moderne im Allgemeinen brachte Podemos zu ultralinken Positionen bzw. zu einem unreifen, infantilen Antikapitalismus, der dazu führte, dass Podemos das Vertrauen bei vielen verlor, die sie 2016 gewählt hatten. Doch die Dinge verschlechterten sich noch weiter. Denn die konfuse und letztlich widersprüchliche Reaktion auf die übereilte Reform des Artikels 135 bestärkte die Argumentation der katalonischen Unabhängigkeitsbefürworter, die, wenn auch aus anderen Gründen, eine offensive Kritik an der Verfassung begonnen hatten. Damit kommen wir zum vierten und entscheidenden Fehler, der dazu führen könnte, dass Podemos ähnlich wie die Vereinte Linke (Izquierda Unida) in der Bedeutungslosigkeit versinkt, es sei denn es gelänge ihr eine Wende um 180 Grad: das Nationalitätenproblem.

Das Problem des Nationalen und das Stockholmsyndrom

All die genannten Fehler spitzen sich zu in dem besonderen Engagement von Podemos in der Territorial- und Identitätsfrage. Wie sich voraussehen lässt wird sie dieser Weg nach Waterloo führen. Oriol Junqueras (Parteiführer der stärksten katalonischen Unabhängigkeitspartei Republikanische Linke „Esquerra Republicana“) hat sein Ziel erreicht, nämlich zu verhindern, dass sich infolge der Bewegung 15-M in ganz Spanien eine gleichzeitige und synchronisierte Bewegung für eine demokratische Erneuerung und gegen die Austeritätspolitik bilden konnte, indem er die Beschleunigung der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung vorantrieb. Podemos hat es Oriol auch deshalb sehr einfach gemacht, weil die spanische Linke seit Jahrzehnten an einer Art Stockholmsyndrom leidet. Sie wurde sozusagen vom nationalistischen Diskurs als Geisel genommen, wobei sie nicht nur den Diskurs der Geiselnehmer lobte, sondern auch noch glaubte, diesen für ihre eigenen Ziele nutzen zu können. Um dieses verwegene Spiel mitmachen zu können, übernahmen sie die Annahme der Wesensgleichheit zwischen den Unterdrückungsprozessen der armen postkolonialen Völker nach dem II. Weltkrieg durch die führenden Westmächte und der aktuellen Situation der wohlhabenden Regionen Katalonien und Baskenland im spanischen Staat. Die weitverbreitete ahistorische Sicht auf die Welt in der spanischen Linken erleichterte diesen Unsinn. Das nationale Identitätsproblem wird so umgemünzt in ein Demokratiedefizit-Problem und damit mit der zwiespältigen Kritik der Verfassung verknüpft, wodurch der antispanische Diskurs der Separatisten („die Drecksverfassung von 78“) eine erhebliche Legitimitätsdosis erhält.

Am besten lässt sich diese Geiselnahme daran verdeutlichen, dass die Linken das “Recht der Völker auf Selbstbestimmung” unterstützten, ohne sich damit auseinanderzusetzen, wer oder was dieses “Volk” sein sollte, oder darüber nachzudenken, wie dieses Recht die Rechte anderer “Völker” beeinträchtigen könnte, oder wie viele Tausende von Bürger*innen zuvor vom “Hauptvolk” ausgeschlossen wurden. Genauso wenig wurde berücksichtigt, dass es die wohlhabenden Regionen sind, die das Recht einfordern, mit den anderen nicht mehr solidarisch zu sein, und dass es sich um Steuerhinterzieher handelt, die das Recht haben wollen, weniger Steuern zu bezahlen. Niemand innerhalb von Podemos scheint auch nur einen Moment darüber nachgedacht zu haben, welche Konsequenzen es für jeden progressiven, solidarischen Diskurs haben könnte, diese territoriale Selbstbestimmungsdynamik zu befördern. Nicht bedacht wurden also die Folgen für die unteren Klassen in Katalonien und dem Baskenland, für die ärmeren Gegenden in Spanien, für das Projekt der europäischen Integration, für das gesamte politische Umfeld, das sich dann innerhalb von zwei oder drei Generationen unaufhaltsam so entwickeln wird, dass Spanien zu einem gescheiterten Staat werden wird. Niemand möchte sich den unabsehbaren Folgen der Zerstörung eines Staates in der neo-liberalen Epoche stellen trotz der Beispiele auf dem Balkan, in Irak, Syrien oder Libyen. Der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt?

Erkennt man die Argumente der Geiselnehmer an, dann beinhaltet das auch, den sozialen Kampf und der nationalen Kampf in Spanien genauso wie in Kuba und in anderen ähnlichen Ländern als einen gemeinsamen zu betrachten. Die Konsequenz: Man muss die Separatisten in ihrem noblen Kampf um die nationale Emanzipation unterstützen, da es sich auch um einen Kampf für die soziale Emanzipation handelt, unter anderem auch aus dem Grund, weil der besagte Kampf zur Verbesserung der linken strategischen Position in ganz Spanien beiträgt. Da haben wir also den angeblich so listigen Trick der Geiseln, die sich in ihre Geiselnehmer verliebt haben.

Noch im Juni 2019 deklarieren einige Führungspersonen von Unidas-Podemos, dass man die Esquerra Republicana in eine progressive Staatspolitik einbinden müsse, ohne wahrnehmen zu wollen, was alle außer ihnen längst erkannt haben: Das Ziel der Esquerra ist es, eben diesen Staat zu zerstören, und zwar mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, auch mit der Ausnutzung der “als Geiseln genommenen” Linken, denen sie für das Stillhalten hin und wieder einige republikanische Bonbons geben. Unidas-Podemos glaubt, die Geiselnehmer für die eigene Sache nutzen zu können ohne zu begreifen, dass diese die Situation unter Kontrolle haben und umgekehrt Unidas-Podemas ausnutzen. Die Vieldeutigkeit des Begriffs “Volk” – er dient sowohl zur Begründung eines ‘demos democrático’(“wir sind alle gleich”) als auch der einer exklusiven ethnisch definierten Einheit (“wir sind das Volk im Gegensatz zu ihnen”) – macht die Verkehrung der Rollen von Geiselnehmern und Geiseln einfach. Aber für hunderttausende Katalanen, die ihre Stimme der En Comú-Podem (katalonische Sektion von Podemos) gegeben haben und die nicht mit dem Projekt einer ethnischen Definition von Volk gerechnet hatten, ist diese Mehrdeutigkeit des Begriffs nicht zielführend. Sie sind sich des Durcheinanders sehr wohl bewusst, so dass viele von ihnen es vorzogen, der liberalen Bürgerpartei Ciudadanos ihre Stimme zu geben, um ein bisschen mehr Klarheit in diesem existentiellen Punkt zu bekommen, eine Klarheit, die ihnen nicht einmal die PSC (Sozialistische Partei Kataloniens) geben konnte.

Seien wir gerecht: Die sentimentale Allianz mit den Nationalisten, die die Geiselnahme der Linken sozusagen „geschmiert“ hat, berührt auch viele Wähler der Sozialdemokraten, die ihre Progressivität mit mehr oder weniger Enthusiasmus zum Ausdruck bringen wollten. Solche Fehler und Widersprüchlichkeiten sind politisch folgenlos, solange ihre Protagonisten nicht mehr als 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Wenn die Unterstützung jedoch mehr als 20 Prozent beträgt oder eine Dynamik in Gang setzt wie in diesem Unabhängigkeitsprozess, werden sie zu einem systemischen Problem, das viele dazu zwingt, aus ihrer Naivität zu erwachen. Mit 20 Prozent Stimmenanteil hören solche Fehler auf, ein diskursiver Fauxpas zu sein, mit dem man sich in einen Elefanten im Porzellanladen verwandelt hat, genauer, in einen Elefanten, der fähig ist, alle anderen Analysen, wie die von dem Erscheinen einer ultrarechten Organisation in Spanien (VOX), komplett zu kontaminieren. Einige Führungspersonen von Unidas-Podemos haben es sogar fertig gebracht, bis vor kurzem zu behaupten, dass das Problem mit den Ultrarechten in Europa wesentlich ernster sei als das Problem der Unabhängigkeitsbewegung in Spanien. Dabei haben sie nicht einmal wahrgenommen, dass der Boom von VOX zu einem großen Teil das logische und vorhersehbare Ergebnis der Verschlimmerung des nationalistischen Problems ist, das Podemos weder erkannt noch gebremst hat. Das Auftauchen von VOX ist ein weiterer Beweis dafür, dass die nationale Dynamik eben nicht dazu beiträgt, das Thema der sozialen Gerechtigkeit voranzutreiben. Vielmehr handelt es sich um eine ambivalente Dynamik, die in gewissem Sinne genau das Gegenteil befördert. Während das Führungspersonal von Podemos seine irrealen Diskurse pflegt, haben sie die ehemaligen Wähler im Jahr 2019 in großer Anzahl verlassen, genauso wie sie es bereits in den Jahren davor in Katalonien und im Baskenland getan haben.

Auf dem Weg zur Konstruktion eines neuen Demos (Staatsvolkes)

Was also tun? Eine nationale Agenda in wohlhabenden Regionen bringt von sich aus niemals Themen wie Solidarität oder soziale Emanzipation auf die Tagesordnung und ganz bestimmt nicht in neoliberalen Zeiten der Hyperkonkurrenz wie heute. Die Probleme des Staates zeigen sich heute in völlig anderen Kontexten als in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Heute stellt der Staat den einzigen institutionellen Ort dar, von dem aus die großen sozialen, ökologischen und politischen Herausforderungen angegangen werden können, als deren Anwälte sich die Bürger*innen auch für die zukünftigen Generationen fühlen. Die europäische Integration erlaubt es bereits heute – zumindest theoretisch – Probleme gemeinsam anzugehen, z.B. Druck auf die Finanzmärkte auszuüben oder sich der Umweltpolitik anzunehmen. Allerdings gibt es viele andere Fragen, bei denen die EU die Einzelstaaten nur ergänzen, nicht aber ersetzen kann. Das Anwachsen des Nationalismus ist paradoxerweise ein Symptom für genau diese Realität. Die Tatsache, dass die nationalistische Agenda den progressiven Kräften aufgezwungen wurde, rechtfertigt aber noch lange nicht, dass diese den Kopf in den Sand stecken und sich weigern, sich den Herausforderungen zu stellen. In der politischen Sphäre wählen sich die Akteure nicht aus, welchen Problemen und Situationen sie sich zu stellen haben. Wenn es also die Nationalisten nach vier Jahrzehnten Demokratie geschafft haben, ihre Agenda durchzusetzen, so hilft es nichts zu behaupten, dass nationale Identitäten keine Bedeutung hätten oder dass die Nation nicht länger wichtig sei. Vielmehr muss der Fehdehandschuh aufgenommen, die faktische Entwicklung anerkannt und der Versuch unternommen werden, eine Gegenagenda zu entwerfen, mit der die Hegemonie zurückzugewonnen werden kann.

Nichtsdestotrotz hat der katalonische Unabhängigkeitsprozess auch etwas Positives gehabt. Als erstes hat er dazu gezwungen, die nationale Frage und das sogenannte Recht auf „Selbstbestimmung“ endlich zu entbanalisieren. Als zweites wurde die Notwendigkeit auf die Tagesordnung gesetzt, sich der Aufgabe zu stellen, die 1978 aus heute nicht mehr gültigen Gründen verschoben wurde, nämlich die Grundpfeiler der gemeinsamen Identität des verfassungsmäßigen Volkes zu schaffen und zu verfeinern. Als drittes hat er alle dazu gezwungen, Position in der Frage zu beziehen, ob es sich lohnt, ein geeintes und solidarisches Land zu erhalten, und die Gründe für die eigene Entscheidung zu erläutern.

Die Aufgabe, der man sich jetzt stellen muss, ist eine, die die Linke seit Jahrzehnten immer wieder versucht hat, zu umgehen: In entwickelten kapitalistischen Gesellschaften bedarf die Konstruktion eines Staatsvolkes eines umfassenden politischen Konsenses, und zwar von der Linken bis hin zu den relevanten Kräften der Liberalen und der Konservativen, ein Konsens also, der offensichtlich eine progressive Agenda unterlaufen könnte. Das könnte sicherlich so sein, denn die nationalistische Agenda kann, wie wir gesehen haben, die soziale Agenda als Geisel nehmen. Das allerdings mit einer Ausnahme: wenn die Konstruktion eines Volkes die Schaffung eines Raums für Solidarität anstelle des Raums für Wettbewerb beinhalten würde – und genau darum geht es hier. Die aktuellen territorialen Probleme entstehen in Spanien nicht in armen Regionen, die sich von den reicheren ihrer Ressourcen und ihrer Sprache enteignet fühlen. Das Gegenteil ist der Fall: Sie gehen von Territorien aus, oder besser von den Mittelschichten in diesen Territorien, die unter dem Gefühl von Unsicherheit und Verarmung infolge der Krise von 2008 leiden und dabei versuchen, die Situation dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie Solidarität auf sich selbst beschränken. Damit folgen sie dem Muster der ultrarechten Parteien in Europa, die den Wohlfahrtsstaat verteidigen, allerdings nur für diejenigen, die sie als die „unseren“ betrachten.

Die Ursache dafür, dass die Partido Popular (PP) in Katalonien und dem Baskenland bei Wahlen fast gänzlich verschwunden ist, findet sich in der Identitätspolitik, d.h. darin, unter dem Schutzschirm des autonomen Staates in diesen Regionen ein Volk zu konstruieren, indem man eine Identität durch eine andere ersetzt. Darüber hinaus hat es auch einiges mit der ultraliberalen Wirtschaftspolitik der PP zu tun, die in verschärfter Form von VOX vertreten wird. Dieser Ultraliberalismus ist faktisch nicht vereinbar mit der Konstruktion jedweder Art von politischer Gemeinschaft, die bestrebt ist, nicht den metaphysischen Ideen verhaftet zu bleiben. Der genannte Ultraliberalismus passt sich den ausgrenzenden Identitätskonzepten an, die heute nicht nur im Norden, sondern in ganz Spanien verbreitet werden. Diese unterstützen zudem eine Wettbewerbsordnung, die ein Teil der Eliten der westlichen Staaten der ganzen Welt aufzwingen möchte. Wenn Teile der PP vorgeben, das verlorene Terrain bei Wahlen zurückgewinnen zu wollen, indem sie partikularrechtliche Positionen mit einer bestimmten Vorstellung von Solidarität verbinden, schafft dies eine große Nähe zu ethnischen Ideen ähnlich der der Nationalisten.

Vergleichbares geschieht auch bei den Liberalen, bspw. denen von Ciudadanos. Auch wenn sie ohne Einschränkung die Prinzipien von „Freiheit“ und „Gleichheit“ unterstützen, so schließen sie darin nicht das Konzept der „Brüderlichkeit“ ein. Damit verfallen sie in einen archaischen Republikanismus, der eigentlich eher den liberalen Pseudodemokratien des 19. Jahrhunderts eigen ist als den sozialen Demokratien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. der in Spanien vor 30 Jahren. Wenn die Liberalen Einfluss auf die territorialen Fragen  nehmen wollten – und in Spanien sind sie genau wie die Konservativen wesentlich für einen Konsens zur Begründung eines neuen Staatsvolkes – müssten sie sich sozialdemokratisieren. Das kann schwierig werden, wenn sie nicht dazu übergehen, Radikale wie Hayek und Friedmann durch Humanisten wie John Rawls oder Keynes zu ersetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt, in dem Ciudanos immer mehr in Richtung VOX und PP abdriftet, kann man in dieser Hinsicht nicht sehr optimistisch sein, auch wenn die Wahlergebnisse ahnen lassen, dass diese Annäherung sie mehr Verluste als erwartet kosten wird.

Offensichtlich gebührt den fortschrittlichen politischen Kräften bei der Forderung nach Brüderlichkeit und Solidarität, dem verloren gegangenen Element bei der Herausbildung des spanischen Staatsvolkes im 19. Jahrhundert, eine Führungsrolle. Aber es geht nicht um Parteipolitik. Wenn es gelingt, ein Konzept für ein Staatsvolk auf den Tisch zu legen, das Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als unteilbare Rechte vereint, dann gelingt es auch, die Hegemonie in allen Regionen zu gewinnen. Darüber hinaus könnte damit auch eine langfristige Lösung des Nationalitätenproblems gefunden werden. Die früheren spektakulären Wahlerfolge von Podemos in Katalonien und dem Baskenland, leider im Zuge der Anbiederung an die Unabhängigkeitsbewegungen wieder verloren gegangen, haben sehr viel mit dieser Hoffnung zu tun, die bei großen Teilen der Bevölkerung mit einer gemischten Identität erwacht waren und die sie unter keinen Umständen verlieren möchten. Es waren die Wähler der populären Klassen, die Podemos auf den ersten Platz in Katalonien katapultiert hatten. Diese waren und sind die hauptsächlichen Gewinner einer  Konzeption von Staatsvolk, in dem die Brüderlichkeit – genauer gesagt die Umverteilung des Reichtums – zur Realität würde. Einen solchen Demos zu begründen heisst nicht, sich frontal gegen die autonomen, partikulären Völker zu stellen, die eine Form „quasiföderalen“ Denkens und Handelns entwickelt haben, ein System, in dem alle Regionen – nicht allein die von Nationalisten regierten – bilaterale Beziehungen zum Staat etablierten nach dem Prinzip „Was kommt für mich dabei rum?“. Es geht vielmehr darum, diese fragmentierte und individualisierte Vorstellung eines Staatsvolkes durch die Vision eines „Projekts vom gemeinsamen Haus“ zu ersetzen, um Keynes zu paraphrasieren. In einer hoch entwickelten, selbständigen Gesellschaft könnten diese identitären Fragmente einen gemeinsamen Ort frei von Konkurrenz und Ausgrenzung finden, das Gegenteil einer Konföderation im Stil von Podemos. In Zeiten Pi i Margalls (Republikaner und Föderalist in der I. Spanischen Republik 1873/74) musste die föderalistische Idee scheitern, weil sie einer Gesellschaft aufoktroyiert werden sollte, die traditionalistisch und partikularistisch war, in der es kaum Kommunikation gab, die keinen integrierten Markt kannte und die von ethnischen Vorstellungen geprägt war. Diese traditionalistische Gesellschaft ist von der Moderne aufgelöst worden. Das Land hat eine neue Realität angenommen, ist sozial und kulturell geeint in einem Territorium, in dem verschiedene Geschlechter, Ethnien, Religionen und Sprachen problemlos zusammen leben, auch wenn der Staat der autonomen Regionen einen politischen Überbau geschaffen hat, der dieser realen Einigkeit entgegen steht. Das katalonische Bürgertum repräsentiert heute nicht mehr die zivilen Werte des Kapitalismus gegenüber der fortschrittsfeindlichen Grossgrundbesitzerklasse Kastiliens. Es gibt heute nichts mehr, was die Fortführung der identitären Politik, wie wir sie aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben, legitimieren könnte; nichts, was uns daran hindern könnte, einen großen politischen und kulturellen Schritt hin zur Konstruktion eines neuen Staatsvolkes auf der Höhe unserer Zeit zu tun. Schließlich sind die Identitäten genau wie die Staaten und Nationen keine natürlichen Gegebenheiten, sondern auch sie sind konstruiert worden. Durch die Vorstellung „des gemeinsamen Hauses“, verknüpft mit dem Konzept „des gemeinsamen Planeten“ und der „gemeinsamen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, entstünde eine neue Dynamik zur Abschaffung der konkurrierenden kleingeistigen Territorien. So wie das universelle Wahlrecht keineswegs die Unterschiede von Geschlechtern, Religionen, Kulturen oder Ethnien beseitigt, sondern schlicht darüber einen allumfassenden zivilen Bürgerraum etabliert, so beseitigt eine neue gemeinsame spanische, auf den drei republikanischen Grundwerten basierende, Staatsbürgerschaft keineswegs die historisch entstandene sprachliche, kulturelle, juristische oder sprachliche Vielfalt.

Neben einem grundlegenden Konsens, der in öffentlichen politischen und kulturellen Debatten in Parteien und Institutionen herzustellen sein wird, muss sich die Rolle der Zentralregierung dahingehend ändern, dass sie gleichzeitig das Gesamtinteresse repräsentiert und die Pluralität und Vielfalt bewahrt unabhängig von den Positionen der einzelnen autonomen Regierungen. Bisher hat es noch keine Zentralregierung unternommen, ein so geeintes Volk auf der Grundlage der heutigen Unterschiede zu entwickeln, und dabei die Unterschiede nicht nur nicht zu eliminieren, sondern sie zu bewahren. Zur Entwicklung eines neuen Staatsvolkes wäre es unter anderem notwendig, eine neue Erzählung der Geschichte, der Kultur, der Werte und der Sprache Spaniens zu entwerfen, die die Schüler*innen in allen Teilen des Landes erlernen und sich aneignen würden. Dazu gehört eine mehrsprachige Kultur in allen Regionen, ein gemeinsamer öffentlicher Diskurs unter Beteiligung aller unterschiedlichen „Nationen oder Nationalitäten innerhalb des Staates“. In diesem Diskurs dürfte niemand den antidemokratischen Charakter des Putsches von 1936 leugnen und auch nicht die Vormachtstellung und den Rassismus, die in bestimmten zentralen wie peripheren Identitäten eingebettet waren und sind. Es wird ein Staatsvolk sein, das sich nicht davon beeindrucken lässt, dass jemand anderes eine andere Herkunft hat als man selbst, seien es berühmte Persönlichkeiten oder unterschiedliche Völker in der Geschichte des Landes.

Eine Utopie ist eine Orientierung, die dazu dient, einen bestimmten Weg in einer bestimmten Richtung zu definieren. Sie darf aber nie als ein analytisches Instrument für konkrete Aktionen missbraucht werden. Wenn man den gegenwärtigen spanischen Staat mit dem zaristischen Reich von 1917 oder der Zeit des Staatsstreichs von 1936 oder das wohlhabende Katalonien von heute mit den kolonisierten Ländern des 19. Jahrhunderts vergleicht, so steigert man nur die allgemeine Frustration und entfernt sich nicht nur von der alltäglichen Lebenspraxis der heutigen Bürger*innen, sondern nimmt auch unnötigerweise politische Niederlagen vorweg. Ein neues Staatsvolk zu schaffen bedeutet heute auch ein neuer Realismus, nämlich sich zu lösen von nationalistischer Ontologie und Metaphysik, die ethnisches Denken zu Lasten eines Staatsvolkes fördern (Ethnos statt Demos). Wenn sich progressive Kräfte an die Spitze setzen, können sie umfassenden Teile des Landes verbinden und das politische Zentrum weiter nach links verschieben. Die spanische Lösung könnte darin liegen, einen innovativen Beitrag zur Schaffung einer demokratischen europäischen Staatsbürgerschaft zu leisten, die in der Lage wäre, ihre Vielfältigkeit zu verteidigen und zu entwickeln. In der heutigen von Konkurrenz dominierten Welt, geprägt von partikularistischen und unilateralen Vorstellungen, erscheint dieses Vorhaben ein wenig wie der Krieg Spaniens gegen den Faschismus 1936-39, der die Hoffnungen auf Humanisierung in vielen Millionen Demokrat*innen in der ganzen Welt wecken konnte.

Armando Fernández Steinko (Madrid, 1960) (https://asteinko.blogspot.com/; @asteinko) ist Historiker und Soziologe an der Universität Complutense Madrid, Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu Themen wie Linke und Nationalismus, Wirtschaftsdemokratie, Neoliberalismus und organisierte Kriminalität, u. a.

El Viejo Topo ist eine linke politische Kulturzeitschrift, die im Demokratisierungsprozess nach dem Tod des Diktators Francisco Franco 1976 gegründet wurde und bis 1982 erschien. 1993 wurde die Zeitschrift und der gleichnamige Verlag widerbelebt und bildet bis heute eine Referenz für linksintellektuelles Denken in Spanien.

Die Original-Langfassung des hier übersetzten Beitrags erschien in El Viejo Topo, Nr. 378-379, Juli-August 2019.