Wie sich der Qualitätsjournalismus beerdigt und beerdigt wird

Rudolf Walther

Eine Vorbemerkung ist unumgänglich. Ich bin seit über zwanzig Jahren in der Medienbranche tätig – für Printmedien und Radiosender. Trotzdem habe ich nur einen beschränkten Einblick ins journalistische Gewerbe, denn ich arbeite als „Freier“, d.h. als Subalterner ohne Vertrag. Ich habe Einblick in redaktionelle Entscheidungen und Abläufe nur so weit, als ich direkt davon betroffen bin. In die eigentliche redaktionelle Arbeit bin ich nicht eingebunden und habe darauf keinerlei Einfluss. Das hat Vorteile, aber auch Nachteile, vor allem den, dass ich nur zur Kenntnis nehmen kann, was redaktionell gewünscht und akzeptiert wird und was unerwünscht und nicht akzeptiert wird. Die Gründe für dieses wie jenes bleiben mir weitgehend verborgen. Ich habe keinen Anspruch darauf, tatsächliche Begründungen für die Annahme oder Ablehnung eines Themenvorschlags oder eines Artikels zu erfahren, sondern muss damit leben zu glauben, was mir mitgeteilt wird an Sachzwängen, Platzverhältnissen, Ausreden und Vorwänden. Im Laufe der letzten 20 Jahre bekommt man ein Gefühl dafür, was ankommen könnte und was nicht und stellt sich pragmatisch darauf ein, Frust und Ärger möglichst zu vermeiden. Wenn man sich als „Freier“, also total Abhängiger, auf Streit und Widerstand versteift, ist man sofort weg vom Fenster – also „frei“ von Aufträgen. Ich mache das deshalb aus Gründen der Selbsterhaltung nur dosiert.

Zuletzt im Fall des Machwerkes des Autorentrios Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn „Mit Rechten reden“. Im Unterschied zu fast allen Rezensenten, die das Buch nur lobten, wollte ich darlegen, dass es sich bei den Autoren um „Rechte sans phrase“ handelt, die sich „konservativ-liberal“ kostümieren, um im medialen Geschäft präsent bleiben zu können. Die Rundfunkredaktion verlangte Änderungen und Glättungen, denen ich nachkam, soweit ich sie für vertretbar hielt, aber die Substanz meiner Kritik blieb erhalten. Das reichte dann gerade noch für eine Nicht-Sendung meines Beitrags und ein Ausfallhonorar. Seither ist mir der SWR als Auftraggeber sang-, klang- und kommentarlos abhandengekommen. So viel vorweg.

Dass die Arbeits- und Produktionsbedingungen, unter denen Journalisten bei Printmedien, auf die ich mich im Folgenden beschränke, arbeiten, auf das Produkt ihrer Arbeit – die Zeitung – durchschlagen, ist plausibel und selbstverständlich. Alles andere wäre eine Überraschung.

Zu diesen Bedingungen, die die journalistische Arbeit maßgeblich beeinflussen, gehören: 1. Geldmangel, 2. Personalkürzungen, 3. Zeitdruck, 4. Platzmangel und 5. modische Trends und Marotten. Diese fünf Faktoren hängen zusammen und verstärken sich gegenseitig oder bilden nur Vor- und Rückseite einer Medaille – etwa beim Nexus von Geldmangel und Personalkürzungen. Ich beginne von hinten.

Trends und Marotten

Modische Trends und Marotten sind – im Unterschied zu den anderen vier Bedingungen – von Redaktionen und Journalisten selbst erzeugt worden. Die Verantwortung für modische Trends und Marotten, die den Qualitätsjournalismus gefährden und die damit verbundenen Ansprüche lächerlich machen, kann nicht auf Geschäftsleitungen, Aktionäre oder die Wirtschaftslage abgewälzt werden. Zur Illustration dieser modischen Trends und Marotten, die ernsthaften politischen Journalismus desavouieren, zwei Zitate:

„Schwarzer Anzug, dunkle Krawatte, der Körper drahtig, kein Gramm Fett: Manuel Valls (53) wirkt wie ein Fußballtrainer, der seiner Mannschaft Mut machen will. Alkohol rührt er nicht an, und auf Gluten verzichtet er inzwischen auch. Frankreichs Premier sitzt in einem goldverzierten Salon im Palais Matignon und empfängt eine Handvoll Vertreter der ausländischen Presse. Unter der Stuckdecke, über den immensen Türen, erinnern Schäferszenen in Blau an Zeiten, als Frankreich noch idyllisch schien.“

Martina Meister, DIE WELT und Tages-Anzeiger (5.6.2016), begann so ihren Bericht über eine Pressekonferenz des französischen Premierministers Manuel Valls.

Auch ihre Kollegin Michaela Wiegel von der FAZ (3.6.2016) schrieb über denselben Anlass:

„Ist Frankreich reformunfähig? Es ist der französische Premierminister Manuel Valls, der diese Frage stellt, kaum dass er sich gesetzt hat. Die soziale Unruhe im Land kann der ehernen Feudalroutine in seinem Amtspalast an der Rue Varenne nichts anhaben. Ein Diener in makellos weiß-schwarzem Livree serviert auf Silbertabletts Erfrischungen, auf kleinen Louis-XV-Tischen wartet feines Gebäck auf die Korrespondenten europäischer Medien, und über allem schweben die leicht bläulich schimmernden, in Holzstuck gefassten Chinoiserie-Malereien, denen der Empfangssaal den Namen Salon bleu verdankt. Valls zieht das Sakko aus und gibt den Blick auf ein eng geschnittenes Hemd frei. Es wirkt fast wie ein Statement, nach gut zwei Jahren als Regierungschef hat er kein Gramm Kummerspeck vorzuweisen, sein reformerischer Kampfgeist scheint ungebrochen.“

Was wollen uns solche Texte in im Prinzip anspruchsvollen Zeitungen, also nicht in Illustrierten, bunten Blättern oder Boulevardzeitungen, anderes mitteilen, als dass wir völlig irren, wenn wir noch naiv annehmen, der Bericht im politischen Teil einer Zeitung über ein politisches Ereignis sei etwas Anderes als eine Homestory in einer Frauenzeitschrift oder in einer Boulevardzeitung? Beide Berichte dokumentieren, dass der politische Journalismus in Qualitätszeitungen dabei ist, sich zu verabschieden.

Es sind zwei Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen, um den Trend stichhaltig zu belegen. Und wie kommt es zu diesem Trend? Ich vermute durch ein subtiles Zusammenspiel: Redakteure stehen unter dem Druck von Geschäftsleitungen angesichts der wirtschaftlichen Lage der Printmedien. „Durch gefälligere Texte mehr Auflage machen“, lautet das Küchenrezept, das Redaktionen mit der Aufforderung an Journalisten weiterreichen, die ersten Sätze müssten – jeder kennt das Wort, das jetzt kommen muss – „den Leser in die Geschichte hineinziehen“ – ungefähr so, wie man Kinder auf dem Jahrmarkt mit einem Bonbon an den Stand lockt, um ihnen das Öffnen des Portemonnaies zu erleichtern. Die simple, aber in ihrer Durchschlagskraft im Alltag gar nicht zu überschätzende Aufforderung, den Leser „hineinzuziehen“, trifft bei Journalisten, insbesondere jener großen Zahl, die durch Schreibkurse und Journalistenschulen gegangen sind, auf weit geöffnete Ohren. Die Lektion 1 vom wichtigen „ersten Satz“ und das Rezept vom „Hineinziehen“ haben sie an jenen Institutionen gelernt, in Praktika verinnerlicht und im Beruf zum Standard gemacht. Anders ist kaum erklärbar, dass die Berichte von zwei in mancher Hinsicht (Alter, beruflicher Werdegang etc.) unterschiedlichen Autorinnen wie Frau Meister und Frau Wiegel fast wörtlich übereinstimmende Passagen enthalten. Und falls sie das Patentrezept vom „Hineinziehen“ nicht auf Journalistenschulen eingetrichtert bekommen haben, lernten sie es spätestens in Praktika und im Berufsalltag von den Redakteuren kennen.

Und damit kommt der Storytelling-Journalismus ins Spiel und mit ihm der Fall „Relotius“, der natürlich kein „Fall Relotius“ ist, sondern der Ernstfall für den sogenannten „Qualitätsjournalismus“. Der Fall ist auch deshalb instruktiv, weil durch „Spiegel“-Aufklärungskommission Tatsachen aus dem Redaktionsalltag öffentlich zugänglich wurden, die man sonst allenfalls gerüchteweise erfährt. Durch den Bericht der Kommission hat man jetzt Schwarz-auf-Weiß und ohne Bilder, wie Storytelling-Journalismus funktioniert.

Mit einem Paukenschlag machte „Der Spiegel“ am 19.12.2018 publik, dass der seit 2017 festangestellte Starreporter Claas Relotius in seine rund 60 Texte eine damals noch nicht genau bestimmbare Zahl von Fälschungen, Erfindungen und Dramatisierungen eingeflochten hatte. Es war absehbar, dass sich für den „Spiegel“, der sich auf die Devise, „sagen, was ist“, verpflichtet fühlt, ein immenser Imageschaden einstellen musste, und für die Jurys, die Relotius rund 40mal auszeichneten, wird der Skandal zur untilgbaren Blamage.

Die Hamburger handelten schnell: ein Dokumentar, der Chefredakteur und ein Ressortleiter mussten den Hut nehmen. Darüber hinaus setzte man eine dreiköpfige Aufklärungskommission ein, die Zugang zu allen Akten, Mails und Personen hatte. Der Kommission gehörten Brigitte Fehrle, ehemalige Chefredakteurin der “Berliner Zeitung“, Clemens Höges und Stefan Weigel an –kommissarischer Blattmacher und Nachrichtenchef beim „Spiegel“. nde Mai veröffentlichte die Kommission ihren Bericht im Netz und im „Spiegel“ – auf vollen 16 Seiten, ohne Fotos. Diese vorzügliche und umfassende Aufarbeitung des „Falles Relotius“ ist beispielhaft und widerlegt den Verdacht, man wolle aus dem „Fall“ herauskommen wie aus einem Bagatellunfall mit Karosserieschaden.

Die strikte Konzentration der Kommission auf die Aufklärung des „Falles“, vergleichbar dem Vorgehen von Kriminalisten bei der Aufklärung von Straftaten, erweist sich jedoch bei der Lektüre des Berichts schnell als Achillesferse. So kommt die sonst verdienstvolle Aufklärungskommission zu dem vollkommen realitätsfernen Schluss: „Claas Relotius war ein Einzeltäter“. Das mag im engen juristisch-kriminalistischen Sinne halbwegs zutreffen, was die Textmanipulation und die geschickt kalkulierende Vorgehensweise des Autors angeht. Aber tatsächlich war Relotius natürlich kein Einzeltäter, sondern Mitglied in einer großen und einflussreichen journalistischen Sekte, die Lehrlinge, Lehrende und Absolventen von Journalistenschulen ebenso umfasst wie Redakteure, Ressortchefs und Chefredakteure von Zeitungen und Magazinen sowie die Journalistenpreise verleihende Jurys landauf und landab.

Die Chiffre „Relotius“ im Singular steht für ein großes Kollektiv, das insgesamt den „Storytelling-Journalismus“ repräsentiert und fördert, wie er seit geraumer Zeit an Journalistenschulen gelehrt, in Zeitungen und Magazinen praktiziert und in Redaktionen geschätzt wird. Der Kern dieser Art von Journalismus stand in der Aufklärungskommission nicht zur Debatte, wurde allenfalls gestreift, aber nicht seriös untersucht und mitangeklagt. Wenn man den Vergleich mit einem kriminalistischen Ermittlungsverfahren wagen will, so hat die Kommission die Taten des Täters offengelegt, aber die Mitverantwortung seiner Gehilfen, Förderer und Lehrer – von drei Bauernopfern abgesehen – im Dunkeln gelassen.

„Storytelling“ betrügt, lügt und erfindet nicht im landläufigen Sinne, sondern verpasst journalistischen Reportagen durch den Einbau sprachlich dramatisierender Momente und Szenen eine Form à la mode. So werden aus Reportagen süffige Texte – „Storys“ eben –, wie man sie nicht nur beim „Spiegel“ schätzt und mit denen man Journalistenpreise gewinnt (nicht zuletzt deshalb, weil Journalistenpreisjurys von den tonangebenden Lehren des Storytellings überzeugt sind).

Reporter, Ressortleiter und ganze Redaktionen sind befangen in den problematischen Praktiken und Standards des „Storytellings“. Der für Relotius zuständige Ressortchef Dirk Kurbjuweit brachte das Problem in dieser Hinsicht auf den Punkt: „Da war ich enttäuscht“ – über einen Text von Relotius –, „weil das Storyhafte fehlte, kein echter Relotius.“ Der verstand das wahrscheinlich genauso, wie es gemeint war – als Aufforderung zum dekorativen Aufhübschen und Nachfrisieren des Textes. Der Autor Relotius selbst gierte nach solchen Aufforderungen. Bei der Ablieferung eines unfertigen Textes an den Redakteur bemerkte er: „Die Nacherzählung ist im Grund komplett kalt geschrieben. Vielleicht müssen noch mehr Gedanken rein?“ Mit „Gedanken“ sind die Ingredienzien des Storytelling-Journalismus gemeint: der scharfe metaphorische Pfeffer, die adjektivische Pomade, der kernig-würzige Vergleich, die gefühlig-dramatisierende Unmittelbarkeit des Präsens, grelle Tönung und Farbigkeit des Stils. Relotius beherrschte in seiner Text-Küche den Umgang mit diesen Zutaten virtuos, vor allem aber wusste er genau Bescheid über die Erwartungen in der Redaktion: „Ich weiß gar nicht, wann mich ein Text zuletzt so mitgenommen hat. Unerträglich starker Text“, schrieb ein Redakteur an seinen Kollegen nach der Lektüre einer Reportage.

Der „Storytelling-Journalismus“ entsteht nicht im Kopf einzelner Reporter, sondern wird kollektiv geplant von Chefredakteuren, Ressortleitern und Redakteuren in Kooperation mit Reportern, Fotografen und Informanten vor Ort. Im Mail-Verkehr der Story-Planer hört sich die Vor- und Aufbereitung einer Flüchtlings-Story so an: „Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land. (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA. (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten (Fluchthelfers RW) über die Grenze will. (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (Relotius RW). (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut. (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.“ Und wenn man nicht ganz die „richtigen“ Leute findet, muss man sie halt erfinden, um daraus „die Geschichte des Jahres“ zu basteln. Die Aufklärungskommission zitiert diese Passage, zieht aber daraus wie aus vielen anderen Indizien keine adäquaten Folgerungen.

Gedeckt sind „Storytelling“-Praktiken durch das Urteil des umtriebigen Journalistikprofessors Michael Haller über die „Montagetechnik, bei der der Reporter „mehrere Gesprächspartner zu einer Person zusammenführen darf“. Zwischen „alternativen Fakten“, gemeinen „Lügen“ und Hallers Gerede vom „zusammenführen von Fakten“ zu einem „etwas anderen Realitätsverständnis“ bestehen bestenfalls noch kleine graduelle Unterschiede, aber keine substantielle Differenz. Das gilt auch für das Dogma der Anfänge von Storys, wonach der Leser oder die Leserin mit dem ersten Satz einer Reportage in die Geschichte „hineingenommen und -gezogen“ werden soll. Mit diesen Phrasen wird oft nur kaschiert, dass die Anfänge auf der Fiktion beruhen, der Reporter habe sich nicht nur in die Protagonisten der Geschichte „hineinversetzt und -gefühlt“, sondern diesen buchstäblich unter die Hirnhaut geschaut.

Der „Fall Relotius“ hat noch etwas aufgedeckt – das Gefälle zwischen festangestellten Reporterstars und sogenannten freien Mitarbeitern. Die Stars genießen in den Redaktionen nicht nur allerlei materielle Vorteile, sondern auch mehr Vertrauen und Beinfreiheit. Ohne den Verdacht des freien Mitarbeiters Juan Moreno, der den Fälschungen von Relotius mit eigenen Recherchen und auf eigene Kosten auf die Schliche kam (und darüber jetzt ein Buch geschrieben hat), ohne den „Freien“ Moreno also, wäre der Skandal sicher nicht aufgedeckt worden. Als Moreno seine Bedenken gegen die Reportagen in der Redaktion vortrug, wurde er jedoch wie ein Denunziant, Verräter, eifersüchtiger Konkurrent des Stars behandelt. Nur mit Hartnäckigkeit konnte Moreno seinen jederzeit fristlos kündbaren Job retten und seine Reputation als faktentreuer Reporter gegen Widerstände aus der Redaktion („Ich habe erst mal keinen Grund, an der Integrität von Claas zu zweifeln.“) wiederherzustellen. Solche Zustände haben mit dem Genre des „Storytelling-Journalismus“ zwar zunächst nichts zu tun, gehören aber zu den materiellen und finanziellen Bedingungen, unter denen diese Art Journalismus gedeiht und weniger begünstigte „Freie“ kleinhält mit der existenzbedrohenden Warnung, „Maul halten oder gehen.“

Die Aufklärungskommission des „Spiegel“ macht sehr kluge und umfangreiche Vorschläge zur „Verbesserung der Fehlerkultur“, zur Kontrolle der Texte und zum Umgang der Redaktion mit Leserbriefen. Kein einziger der Vorschläge tangiert allerdings die Achillesferse des Blattes direkt – den „Storytelling-Journalismus“. Aber mit Pflästerchen aus der Hausapotheke ist die blutende Wunde „Storytelling“ nicht zu stillen. Das Skalpell und die Nähtechnik eines guten Chirurgen sind gefragt und dann eine sachkundige Rehabilitationsklinik – medizinisch gesprochen.

Notorischer Platzmangel

Eine zweite Produktionsbedingung, die auf die journalistische Qualität durchschlägt, ist der notorische Platzmangel. Wer so schwelgerisch personenbezogene und atmosphärische Banalitäten ins Blatt drückt, kann ja theoretisch gar nicht über Platzmangel klagen. Irrtum! Platzmangel entsteht auch und gerade durch den ausgreifend „hereinziehenden“ Firlefanz, das People-Tam-Tam und den Emo-Atmo-Journalismus von der Stange bzw. aus der Journalistenklippschule.

Aber wichtiger für die Entstehung von Platzmangel in den Printmedien ist – außer der wirtschaftlichen Notlage der Verlage – die Herrschaft der Layouter und Bildredakteure, die für fast jeden Artikel ein großes Foto, eine Grafik, mindestens ein Info-Kästchen und ein Autorenfoto empfehlen – neben großkalibrigen Titeln und Untertiteln. Dem Aussehen von Zeitungen nach zu schließen, rechnen Redaktionen nicht mehr mit Lesern, sondern mit Bilderfreaks und Überblickern. Zeitungen gleichen immer mehr Fernsehspot-Nachrichten. Anita Zielina, die bei der NZZ zuständige Redakteurin für die Digitalisierung, charakterisiert ihre Arbeit als „nicht inhaltlich“ und verbucht es als Fortschritt, dass „immer mehr Redakteure Artikel selbständig durch Grafiken, Landkarten oder Quizfragen“  (SZ 28.9.2016) ergänzen. Im Horizont der inhaltsfreien, digitalen Plattwalzerei wartet neben dem „Fernseher“ also schon der „Zeitungsseher“.

Die großartige ZEIT-Seite, die früher „Zeitläufte“ hieß, hatte noch vor 15 Jahren locker Platz für einen Essay von 25 000 Zeichen. Da konnte ein Thema gründlich durchgearbeitet werden. Die Seite heißt jetzt anders, bietet aber nach mehreren Layout-„Reformen“ nur noch Platz für einen Text von 14 bis 15 000 Zeichen. Umfang und Qualitätsverlust verhalten sich nicht direkt proportional, aber hängen natürlich zusammen. Die Wochenzeitung FREITAG widmet eine Doppelseite einem Wochenthema – ein gutes Konzept. Aber man vergibt mindestens 40 Prozent dieses Platzes für ein ebenso „luftiges“ wie kinderbuch- und fernsehgerechtes, bilderreiches Layout.

Zeitdruck

Die dritte Produktionsbedingung heißt Zeitdruck. Zeitungen sehen nicht nur aus wie Nachrichtenspots am Fernsehen – sie wollen auch so schnell produziert und gedruckt werden wie Radio und Fernsehen senden. Das ist zwar technisch nicht möglich, aber man kann das Tempo, wie alle Rand- und Rahmenbedingungen, schon mal etwas verschärfen. Die weltbekannte Fotografin Barbara Klemm quittierte ihren Job bei der FAZ mit dem Hinweis, die Instant-Lieferung von Digital-Fotos direkt vom Ort des Geschehens in die Redaktion lasse sich nicht vereinbaren mit ihren Qualitätsansprüchen an Fotos.

Geradezu grotesk wird der Zeitdruck, wenn Journalisten genötigt werden, Berichte für die „Online“-Ausgabe „sofort“ und für die Print-Ausgabe „möglichst bald“ zu liefern. Seriös zu arbeiten, wird unter solchen Zumutungen unmöglich.

Sachbuchredakteure gingen in den letzten Jahren dazu über, Buchbesprechungen möglichst am Erscheinungstag der Bücher zu drucken bzw. zu senden. Wenn man die Druckfahnen von den Verlagen nicht vorweg bekommt, wird das Rezensieren ein Wettlauf mit der Lesezeit, in dem die Qualität der Besprechungen zwangsweise auf der Strecke bleibt. Dazu drei Beispiele.

Der Feuilletonchef einer Wochenzeitung charakterisierte sein Rezept für Sachbuchbesprechungen so: „Rhapsodische, kursorische Lektüre. Bei Sachbüchern befriedigt eine solche Lektüre immer dann, wenn das Buch ein Personenregister enthält“. Im Klartext: Für Sachbücher genügt das name-droping, Inhalt und Niveau des Buches sind irrelevant und richtig lesen muss man es schon gar nicht. Er ließ dem Modell dankenswerterweise auch gleich ein Muster folgen. Sein Sachbuchrezensent gab den Buffo vom Dienst und arbeitete fünf Sachbücher auf einen Streich auf ganzen 150 Zeilen ab – für insgesamt fast 1400 Buchseiten. Die zweilängste Besprechung galt einem Buch, das mit einem seriösen Sachbuch etwa so viel gemein hat wie eine Vorabend-Schnulze mit einem Shakespeare-Stück. Die kürzeste Besprechung „kritisierte“ auf ganzen 29 Zeilen eine gehaltvolle historisch-biografische Monografie.

Im Zürcher „Tages-Anzeiger“ (16.8.2016) rezensierte ein Autor in einem Aufwasch acht Bücher von rund 4000 Seiten Gesamtumfang mit 8000 Zeichen, also etwa zwei Buchstaben pro Buchseite.  „Schwarze Utopien“ so das Thema der Sammelbesprechung.

Als Rezensent bekommt man gelegentlich regelrecht unanständige Anfragen: „Können Sie das Buch bis Mittwoch besprechen?“, wird man am Montag gefragt. Es handelte sich um eine wissenschaftliche Monografie von 600 Seiten. Im Besprechungswesen vieler Feuilletons sind schwarze Zeiten der Alltag und die Frage nach der Qualität unbekannt. Die redaktionellen Restverwalter der „Frankfurter Rundschau“ ersetzen Rezensionen seit Jahren weitgehend durch Interviews mit dem Buchautor, also Kritik durch Selbstdarstellungspirouetten. Der Interviewer kann sich die Lektüre sparen und trotzdem eine Doppelseite füllen.

Personal- und Geldmangel

Mit dem Zeitdruck hängt natürlich der Personalmangel zusammen. Redaktionen wurden regelrecht ausgedünnt,die verbliebenen festangestellten Redakteure arbeiten wie Schreibmaschinen, denn aus Geldmangel (dazu gleich mehr) wurden die freien Mitarbeiter weggespart. Die verbliebenen „Schreibmaschinen“ schreiben und schreiben und füllen das Blatt. Das geht nur mit großen Bildern und substanzlosen Interviews.

Der Geldmangel schließlich als erste und letzte Produktionsbedingung bei den Printmedien steuert alles nach unten – von der Qualität bis zum intellektuellen Niveau. Die Steuerungsfunktion des Geldes bestimmt die Beerdigungsformen des Qualitätsjournalismus. Ein Zauberwort dabei lautet „Kooperation“. Wie sieht Qualitätserhaltung durch „Kooperation“ aus? Im Zürcher Tamedia-Konzern erscheint auch der ehedem linksliberale „Tages-Anzeiger“. Weil der Konzern über die Hälfte seines Umsatzes nicht mehr im Printgeschäft verdient, sondern mit allerhand Netzaktivitäten, musste die Zeitung „saniert“ werden, mit Stellen-, Honorar- und Etatkürzungen. Der Medienkonzern Springer folgt dem gleichen Rezept: Print-Journalismus ist zu teuer, bringt keinen Profit mehr und ist nur noch ein Auslaufmodell. Deshalb steigern die Konzerne den Anteil an Digital-Geschäften mit dem Geld, das sie dem Printsektor entziehen. Das lässt Printmedien ausbluten, ohne die Qualität des Digitaljournalismus anzuheben, denn das Netz-Engagement der Konzerne hat mit Geldverdienen viel, mit Journalismus fast nichts mehr zu tun. Bei Springer, der als Vorbild gilt, beträgt der Anteil der Netz-Geschäfte bereits 60 Prozent. Tamedia etwa investierte in den letzten Jahren eine Milliarde Franken in digitale Märkte und trocknete dafür den „Tages-Anzeiger“ förmlich aus – bis zur Schrumpfung des Chefredakteurspostens auf eine halbe Stelle. Im Unterschied zur NZZ, wo die Redaktionsmitglieder Front machten gegen die kapitalistische Rationalisierung und politische Umpolung des Betriebs verhielt sich die Redaktion des „Tages-Anzeigers“ opportunistisch gegenüber der Geschäftsleitung und schwieg zu den Entlassungen und zur finalen „Frei“stellung der ohnehin schon „freien“ Mitarbeiter. Diese wie auch Auslandkorrespondenten wurden ersetzt durch „Kooperations“verträge des Blattes mit zum Teil stockkonservativen Zeitungen wie „Le Figaro“, „Die Welt“ und „Le Soir“. Man druckt jetzt in Zürich einfach kostengünstig nach, was die rechten „Kooperations“blätter gerade so anbieten. Eine Uniformierung der Zeitungsvielfalt ist so absehbar.