Stirbt die Demokratie im Internet?

Joachim Hirsch

Es gab Zeiten, da wurden große Hoffnungen auf eine demokratisierende Wirkung des Internet gesetzt, so etwa das Entstehen einer freien, nicht mehr von Staat und Medienmonopolen kontrollierten Öffentlichkeit, umfassende Recherchemöglichkeiten, ein breiter Austausch von Informationen und Meinungen, Chancen für eine Bürger*innenbeteiligung in allen wichtigen politischen Fragen, also mehr unmittelbare Demokratie und einiges andere. Von den technischen Möglichkeiten her gesehen waren diese Erwartungen durchaus nicht unrealistisch. Was also ist passiert, dass von alledem heute kaum mehr die Rede ist? Im Gegenteil, dass immer stärker die Gefahren thematisiert werden, die von diesem Medium ausgehen.

Dabei haben die neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten in demokratischer Hinsicht durchaus wichtige Fortschritte gebracht. Das Wirken von Whistleblowern, die Missstände und Skandale aufdecken, wurde dadurch erst ermöglicht. Man kann sich bedeutend besser informieren und über viele Wege kommunizieren. Die Möglichkeiten für politische Mobilisierungen und Demonstrationen sind erheblich größer geworden, wenn auch die entsprechenden politischen Zusammenhänge damit lockerer und unverbindlicher wurden. Was dies bedeutet wird deutlich, wenn Staaten, um dies alles zu verhindern das Internet zensieren oder ganz abschalten. Ob die diversen Petitions- und Aufrufplattformen tatsächlich eine Wirkung haben, wäre noch zu untersuchen. Auch die linke Öffentlichkeit hat erheblich profitiert, was sich an der Vielzahl einschlägiger Internetplattformen ablesen lässt. Das haben wir uns ebenfalls zunutze gemacht: Nachdem die auf Papier gedruckte „links“ aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden musste, erscheint das „links-netz“ online.

Die Wirkung einer Technologie hängt bekanntermaßen von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen sie eingesetzt wird. Und diese sind so gestaltet, dass inzwischen in vieler Hinsicht eher das Gegenteil von dem eingetreten ist, was einst erhofft wurde. Nach wie vor sind die Gesellschaft und ihre Entwicklung nämlich sehr wesentlich von ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnissen und Machtungleichheiten geprägt und weit davon entfernt, ihren Mitgliedern gleiche Chancen einzuräumen sowie ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, ihre Interessen zu erkennen. Und diese Verhältnisse prägen auch die Wirkungsweise des Internet. Medien- und Kommunikationsmonopole wurden keineswegs beseitigt, sondern neue und noch mächtigere, weil weltumfassende sind entstanden, siehe Facebook, Google, Twitter, Amazon & Co. Deren kommerziell motivierte Datensammlung hat eine Vielzahl persönlicher, bis in den Intimbereich reichende Informationen über große Teile der Bevölkerung verfügbar gemacht, wozu die Nutzer*innen fleißig beitragen, indem sie die scheinbar kostenlosen Dienste in Anspruch nehmen. Früher konnten staatliche Geheimdienste von einem derartigen Informationsmaterial nur träumen. Und natürlich machen sich die Sicherheitsapparate diese durchaus zunutze – ob mit oder ohne Einwilligung der Konzerne. Staatliche und private Überwachung wurden also perfektioniert. Selbst- und Fremdüberwachung verschränken sich zu einem Komplex, der fast totalitäre Züge annimmt. Nicht zuletzt infolge des Wirkens mehr oder weniger professioneller Hacker wird der vielzitierte Schutz der Privatsphäre immer mehr zur Floskel.

Um ihre kommerziellen Zwecke zu verfolgen, unter anderem um ihre datenliefernden Klienten bei sich zu halten, gestalten die sogenannten sozialen Medien ihre Algorithmen so, dass Informationen passend zum Profil der jeweiligen Nutzer*innen gefiltert werden. Die Suchmaschine Google hat ihre Funktion inzwischen so eingerichtet, dass die Nutzer im Wesentlichen Informationen nur noch aus dem Datenbestand des Konzerns bekommen. Auf diese Weise entstehen Blasen, die nicht in ihren Horizont Passendes gar nicht zu ihnen gelangen lassen. Statt umfassender Information und Austausch, bei denen unterschiedliche Standpunkte und Meinungen gegeneinandergestellt werden, entstehen voneinander abgeschottete virtuelle Gemeinschaften. Das „world wide web“ wird in dieser Hinsicht also sozusagen zu einer Ansammlung von Dörfern. Diese werden zugleich von den neuen und global agierenden Akteuren der Kulturindustrie mit den überall gleichen Unterhaltungsprogrammen versorgt.  

Rationale Diskussion, die einmal das – nie völlig verwirklichte – Grundprinzip demokratischer Öffentlichkeit war, rückt damit in noch weitere Ferne. Wenn man Zeitungen liest und – öffentlich-rechtlichen – Rundfunk sieht oder hört, muss man sich gezwungenermaßen mit Positionen und Nachrichten auseinandersetzen, die keineswegs ins eigene Weltbild passen. Das aber ist die Voraussetzung von Information und Aufklärung. Bei Facebook, Twitter, Whatsapp oder Netflix findet das jedoch kaum statt. Es ist daher wohl kein Zufall, dass immer öfter Schauspieler, Komödianten oder sonstige Entertainer bei Wahlen kandidieren – und gewinnen. Sie sind im Netz eben präsenter. Das Ergebnis ist eine Einstellungs- und Verhaltenssteuerung, die das weit übertrifft, was politische Propaganda und kommerzielle Werbung in früheren Zeiten zustande gebracht haben.

Die Vorstellung einer sich über gemeinsame Informations- und Diskussionszusammenhänge konstituierenden „Zivilgesellschaft“ gehört angesichts der gegebenenfalls mit „alternativen Fakten“ gefütterten Blasen der Vergangenheit an. Zwar gibt es immer noch Menschen, die sich umfassender informieren, auseinandersetzen und miteinander diskutieren, aber sie bestimmen immer weniger das, was „Öffentlichkeit“ heißt.  Das bedeutet auch, dass sich ein nicht-hegemonialer Zustand einstellt, bei dem die Verständigung über gemeinsame Grundsätze, gesellschaftliche Entwicklungen und Ziele nicht mehr stattfindet. Das ist im Übrigen auch einer der Gründe für die immer weiter greifende Zerfaserung der Parteienlandschaft.

Darüber hinaus gestattet es das Internet aber auch einzelnen Individuen und vor allem politischen Agenturen und Gruppen, ihnen passende und gegebenenfalls falsche Informationen nicht nur zu verbreiten, sondern gezielt einzusetzen. „Fake News“, die insbesondere dann wirken, wenn sie dauerhaft verbreitet werden, sind mittlerweile zu einem zentralen politischen Problem geworden. Die damit möglich gewordene Beeinflussung von Wahlen und Abstimmungen – siehe die Trump-Wahl in den USA oder das Brexit-Referendum in Großbritannien – gefährdet demokratische Prozesse nachhaltig. Die ominöse britische Firma Cambridge Analytica ist – auf welchem Wege auch immer – in den Besitz der Daten von sehr vielen Facebooknutzer*innen gelangt, die dann im US-Wahlkampf zugunsten von Trump eingesetzt wurden. Die, die von derlei profitieren, also neben Donald Trump und Boris Johnson noch diverse andere sind inzwischen dabei, die Demokratie in ihren Ländern zu zerstören. Orwells „Großer Bruder“ hat bemerkenswerte Realität gewonnen.

Die Folge ist ein tiefgreifender Strukturwandel der Öffentlichkeit, der weit darüber hinausgeht, was einst Jürgen Habermas zur Kritik an deren „Refeudalisierung“ veranlasst hat. An die Stelle der Kontrolle von Öffentlichkeit durch mächtige Verbände und Medien ist eine Art Anarchie des „anything goes“ getreten, wobei allerdings die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse darüber entscheiden, was wirksam wird. Damit geht die relative Rationalität der politischen Prozesse verloren, für die einstmals das Prinzip der repräsentativen Demokratie gesorgt hatte. Das parlamentarische Repräsentationsprinzip, d.h. dass politische Entscheidungen nicht unmittelbar durch das „Volk“, sondern durch gewählte Vertreter*innen getroffen werden, ist von linker Seite oft und mit guten Gründen kritisiert worden. Dies vor allem deshalb, weil damit die für den Kapitalismus charakteristische Trennung von Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie befestigt und dafür gesorgt wird, dass demokratische Prozesse dem Diktat der Ökonomie unterworfen und dem „Volk“ bestenfalls ein gewisses Mitbestimmungsrecht in Bezug auf zentrale gesellschaftliche Entscheidungen eingeräumt wird, dass also liberale Demokratie weit davon entfernt ist, „Volkssouveränität“ zu gewährleisten. Die neuere Entwicklung zeigt indessen, dass es durchaus schlimmer kommen kann. Das Repräsentationsprinzip ist im Niedergang begriffen, je mehr sich die Politiker*innen daran orientieren, was das Netz gerade beschäftigt. Und Ähnliches gilt für den seriösen Journalismus, der einiges zur Rationalisierung der öffentlichen Diskussion beigetragen hat, aber nun immer stärker unter den Druck der Konkurrenz der „neuen Medien“ bei einem gleichzeitig schrumpfenden Zeitungsmarkt gerät. Was dies bedeutet, beschreibt Rudolf Walther in seinem hier veröffentlichten Text.

Die Internetöffentlichkeit ist heute in bemerkenswertem Umfang durch Denunziation, Hetze, Vorurteile, Verschwörungstheorien, Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus, durch gezielte Irreführungen und Falschmeldungen geprägt. Diese hat es, als Kennzeichen einer nicht emanzipierten Gesellschaft, natürlich immer schon gegeben. Aber es war schwieriger, sie massenhaft zu verbreiten und die entsprechenden Einstellungen und Bewusstseinsinhalte blieben weitgehend im privaten Bereich – eben dem sprichwörtlichen Stammtisch. Jetzt bestimmen sie immer stärker die politische Öffentlichkeit. So haben vor allem Rechtsradikale die Möglichkeit, nicht nur ihre Ansichten weltweit zu verbreiten, sondern können sich auch im Netz gegenseitig verständigen und bestätigen, damit aktive Netzwerke bilden und sich organisieren. Das „Darknet“ bietet ihnen darüber hinaus die Möglichkeit, relativ leicht an Waffen zu kommen. Das staatliche „Gewaltmonopol“, auch eines er Merkmale der liberal-kapitalistischen Demokratie, das immerhin eine gewisse zivilisierende Wirkung gehabt hat, steht damit ebenfalls zur Disposition.

Diese Netzwerke erfreuen sich inzwischen einer erstaunlichen Verbreitung. Wenn die Polizei- und Staatsschutzbehörden bei rechtsradikalen Anschlägen regelmäßig von „Einzeltätern“ sprechen, so geht dies an der Realität völlig vorbei. So darf als gesichert gelten, dass der Aufstieg rechtsradikaler Strömungen und Gruppierungen ebenso wie die Erfolge rechtspopulistischer Parteien wie der AfD ohne diese Entwicklung so nicht möglich gewesen wäre. Das Internet ist sozusagen deren technischer Nährboden geworden. Antidemokratischer Populismus erhält dadurch einen neuen Charakter und eine neue Qualität.

Durch diese Entwicklung wurde das Parteiensystem radikal verändert. Das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien hat dazu geführt, dass die parlamentarischen Koalitionsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt wurden. In Deutschland bestehen inzwischen faktisch sowohl im Bund als auch in vielen Ländern große Koalitionen, in der Regel unter Beteiligung von CDU/CSU, SPD und den GRÜNEN. Hat einst die Parteienkonkurrenz den Wähler*innen immerhin noch gewisse Einflussmöglichkeiten eröffnet, so scheint auch dies der Geschichte anzugehören. Johannes Agnolis Begriff der „virtuellen Einheitspartei“ wird damit noch realitätsgerechter als zu Zeiten des traditionellen Volksparteiensystems. Dazu kommt, dass die Parteien dazu neigen, sich in ihren Diskussionen und politischen Prioritätensetzungen daran zu orientieren, was sich in der neuen Internetöffentlichkeit abspielt, also wenn Trump twittert oder das Bild einer alles überschwemmenden Flüchtlingslawine an die Wand gemalt wird. Als gäbe es nichts Wichtigeres wie z.B. die deutsche Haushalts- und Finanzpolitik mit ihrem Mantra der„schwarzen Null“, die erheblich zum Zerfall der EU beträgt und die sichbereits wieder andeutende schwere kapitalistische Krise weiter verschärft. Im Internet ist das bestenfalls am Rande ein Thema.

Es wäre einiges gewonnen, wenn Politiker*innen ihre Repräsentationsaufgaben wieder etwas ernster nähmen, statt darauf zu reagieren, was sich aktuell im Netz abspielt. Und versuchten, Popularität durch das Formulieren überzeugende Programmatiken zu gewinnen. Nützlich wäre auch eine verstärkte politische und rechtliche Kontrolle – wenn schon nicht die eigentlich anstehende Zerschlagung – der Internetmonopole. Die Frage ist nur, wer mit welchen Mitteln dies unter den Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus leisten sollte. Dass „Freiheit“ mittlerweile vor allem die Freiheit von Unternehmen bedeutet, ohne Rücksicht auf politische und gesellschaftliche Verluste ihren Geschäftsinteressen nachzugehen, ist mehr als jemals zu einem entscheidenden demokratischen Risiko geworden.

Das links-netz beschäftigt sich mit der Frage, ob und in welcher Weise das Internet als soziale Infrastruktur zu behandeln wäre, die nicht privaten Kommerzinteressen überlassen, sondern öffentlich zu organisieren und zu finanzieren wäre, etwa nach dem Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Angesichts der bestehenden globalen Machtverhältnisse erscheinen derartige Überlegungen recht utopisch. Das sollte aber nicht daran hindern, sich damit zu beschäftigen.