Kunst im post- katastrophischen Zeitalter

Zur Düsseldorfer Ausstellung der Werke von Ai Weiwei

Christoph Görg

Sozialismus oder Barbarei – dass diese Alternative nicht mehr handlungsleitend sein kann, dass der Rückfall längst stattgefunden hat, das ist schon lange evident. Auch gegen den neuen kategorischen Imperativ, den Adorno zufolge Hitler der Welt aufgezwungen habe – dass Auschwitz sich nicht wiederhole – ist angesichts der Verbrechen der Nachkriegszeit nur zu oft verstoßen worden. Und doch mehren sich die Anzeichen, dass alles noch schlimmer kommen könnte: dass eine globale sozial-ökologische Katastrophe, von der die Klimakrise nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellt, in Verbindung mit der neoliberalen Ausplünderung der Welt und autoritären bzw. mehr oder weniger offen faschistischen Regierungen weltweit eine neue Zivilisationskrise oder gar einen neuen Zivilisationsbruch heraufbeschwören könnten. Längst hat es sich herumgesprochen, dass die globale Erderwärmung ja nicht nur Meeresspiegel und Durchschnittstemperaturen betrifft, sondern – in Verbindung mit dem Verlust der biologischen Vielfalt, der Degradierung der Ökosysteme, der ungebremsten Ausplünderung der natürlichen Ressourcen, der Vermüllung der Welt und den damit einhergehenden Zerstörungen von Lebensräumen – auf völlig neue Lebensbedingungen weltweit zusteuert: auf ein Ende des Holozäns. Wenn die wissenschaftlichen Diagnosen nicht völlig falsch sind – und das glauben nur noch von kurzfristigen Interessen geleitete Geschäftemacher und in Wahnvisionen verstrickte Verschwörungstheoretiker oder die beliebigen Kombinationen beider – dann werden sich die relativ günstigen klimatischen Bedingungen, die das Aufkommen der Hochkulturen in den letzten 10.000 Jahren ermöglicht und begleitet haben, drastisch verschlechtern. Keiner kann sagen wie genau – aber dass dies mit gewaltsamen Verteilungskonflikten einhergehen wird, bei der die Jagd nach Reichtum immer mehr durch die Jagd nach vermeintlicher oder tatsächlicher Sicherheit in einer globalen Krisensituation ergänzt wird, das scheint kaum noch zu leugnen zu sein.

Und trotzdem ist angesichts dieser Gefahren nichts verhängnisvoller als ein Fatalismus, der diese Projektionen als vermeintlich unabweisbare Zukunftsvisionen affirmiert. Nicht nur sind die gesellschaftlichen Bedingungen der sozial-ökologischen Bedrohungslage, die ökonomischen und politischen Krisendimensionen und ihre sozialen und kulturellen Implikationen abhängig vom Ausgang der sozialen Konflikte weltweit, genauer: ob es gelingt, dem autoritären Populismus, dem steigenden Nationalismus wir dem neoliberalen Krisenprogramm etwas entgegenzusetzen. Auch die vermeintlich „natürlichen“ Dimensionen, der Ausgang der Klimakrise und anderer Aspekte wie die Plünderung der Weltmeere oder der Zerstörung der Regenwälder, ist abhängig davon, ob sich die Trumps, Bolsonaros, Putins und Xis dieser Welt ungebremst durchsetzen können oder nicht. Ob wir auf eine plus-2o-Welt oder auf eine plus-6o-Welt zusteuern macht einen Unterschied – und dieser Unterschied hängt mit dem Verlauf und dem Ausgang vielfältiger sozialer Konflikte zusammen. Es ist alles andere als banal, diesen Ausgang analysieren oder ihren Verlauf durch kritische Analyse begleiten zu wollen. Aber zwei Lehren scheinen sich aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ziemlich klar herleiten zu lassen: es war fatal, dass die gegensätzlichen Interessenlagen und Kräfteverhältnisse in der umweltbezogenen Governanceliteratur stark vernachlässigt wurden. Da damit auch die Blockaden und Hindernisse, die einer anderen Politik entgegenstehen, ignoriert wurden, liefen viele Strategien auf ein Wishful Thinking hinaus, das sich immer mehr von der Realität entfernte.

Ebenso fatal aber war die zweite Verkürzung des ökologischen Diskurses: die Warnung vor der drohenden Katastrophe. Dies nicht nur deshalb, weil sich diese Warnung durch ihren Gebrauch allzu schnell verschleißt und in immer größeren Dosen verwendet werden muss: Wenn es jahrzehntelang 5-vor-12 ist, führt das zu Gewöhnungseffekten. Dem kann man zwar ein Stück weit entkommen, wenn man durch die Realität immer wieder überholt wird, wenn die Erderwärmung und die damit verbundenen Extremereignisse noch schneller voranschreiten und noch schlimmer ausfallen als prognostiziert. Aber auch dann führen sie letztlich nur zu planlosem Aktivismus, wie man gegenwärtig angesichts der Irritierungen von Politik und Parteiensystem durch „Fridays for Future“ und andere Formen des Klimaprotests beobachten kann. Zwar ist die Drohung mit der Katastrophe quasi als Gegengift gegen die blockierenden politischen Bedingungen gemeint – wenn die Herrschenden nichts gegen, wohl aber sehr viel für die Erderwärmung unternehmen, soll die Warnung vor der drohenden Katastrophe die Menschen aufrütteln. Doch genau diese Hoffnung trägt nicht (mehr) weit. In Zeiten, in denen die Katastrophen zum Alltag gehören und niemand mehr in der Lage ist, auch nur die wichtigsten eines Kalenderjahres zu erinnern – seien es schwerste Menschenrechtsverletzungen, seien es menschengemachte Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen oder Hungersnöte – kann selbst die bestinszenierte Warnung kaum noch gegen den alltäglichen Überdruss ankommen.

Welche Herausforderungen eine post-katastrophische Perspektive mit sich bringt, eine Perspektive, die die Allgegenwart der Katastrophen erinnern will und dieses Erinnern als Voraussetzung einer nicht-katastrophischen Zukunft erkennt, kann man von der Kunst des Chinesischen Dissidenten Ai Weiwei lernen. Auf der umfangreichen Ausstellung seiner Werke in Düsseldorf wurde auch sein Werk „Straight“ in neuer, quasi aufs Wesentliche reduzierter Form gezeigt. Angesichts des schweren Erdbebens in der Provinz Sichuan am 12.Mai 2008, bei der mehr als 85.000 Menschen, darunter mehr als 5.000 Schulkinder das Leben verloren, prangert Ai Weiwei auf einer ersten Bedeutungsebene die Mitschuld der Behörden an, die die Naturkatastrophe in ein menschengemachtes Desaster verwandelten. Es waren Korruption und Verantwortungslosigkeit der Behörden, die dafür sorgten, dass viele Schulgebäude dem Erdbeben nicht standgehalten haben. Um dies zu erinnern, ließ Ai Weiwei verbogene Stahlbeton-Stangen, den sogenannten Armierungstahl, abtransportieren und in seiner Werkstatt von vielen Arbeitskräften in mühsamer, dreijähriger Arbeit wieder geradebiegen. In der Düsseldorfer Ausstellung sieht man nun diese Stäbe, ausgestellt in ihren Transportkisten, einen großen Saal füllen. Während die Stangen in früheren Ausstellungen so angeordnet waren, dass sie an die Risse und Spalten des Erdbebens erinnerten, ist bei dieser Variante die Assoziation mit Särgen unvermeidlich. Ein Videofilm zeigt zudem den mühsamen Prozess der Aufarbeitung der verbogenen Stäbe. Auch wenn man kritisieren kann, dass man über die ArbeiterInnen und ihre Beweggründe sowie die Art ihrer Finanzierung wenig erfährt: der Ausstellungskatalog hält zu Recht fest, dass es die Arbeit, die „menschliche Mühe“ ist, die den Stahlstäben ihre scheinbar fabrikneue Form zurückgibt (S. 60). Man könnte nun einwenden, dadurch würde die Katastrophe ungeschehen gemacht. Das Gegenteil ist der Fall: die Namen der über 5.000 Kinder unter den Opfern sind an den Wänden des Ausstellungsraums festgehalten.

Eine andere Bedeutungsebene erschließt sich, wenn man sich an die Interpretation des Angelus Novus, eines Bildes von Paul Klee, durch Walter Benjamin erinnert. Dieser „Engel der Geschichte“ schaut rückwärts, und wo sonst „eine Kette von Begebenheiten“ oder gar ein Fortschritt vermeintlich zu erkennen sei, „da sieht er eine einzige Katastrophe.“ Benjamin fährt fort: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. … Das was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (S. 255; kursiv i.O.) Die Toten kann der Engel der Geschichte genauso wenig wiedererwecken wie die Kunst, weder die von Ai Weiwei noch irgendeine andere. Das ist ihre Ohnmacht – und die ist ihr als Schrecken ins Antlitz geschrieben wie auch dem Engel der Geschichte. Die Mühsal scheint daher überflüssige Arbeit zu sein, da sie „das Zerschlagene zusammenfügen will“, es aber nicht vermag. Vielmehr treibt sie der vermeintliche Fortschritt vor sich her – und die scheinbar überflüssige Arbeit dokumentiert noch ihre Unfähigkeit zu helfen. Aber gerade dadurch vermag sie die Katastrophe und ihre Opfer auch zu erinnern. Niemand kann die vergangenen Katastrophen ungeschehen machen, aber durch die Erinnerung der Opfer ist selbst in der Katastrophengeschichte eine schwache emanzipative Hoffnung verborgen. Aber sie bedarf der Arbeit der Erinnerung. Nur wenn wir die Opfer der Katastrophen, der sozialen wie der menschengemachten „natürlichen“ erinnern, wenn wir uns dieser schmerzhaften Mühe unterziehen, ist noch „eine andere Welt möglich“, ist die Hoffnung auf eine grundlegende Transformation der gegenwärtigen Krisendynamik noch einlösbar.

Ob das im heutigen Kunstbetrieb noch darstellbar ist und wie die Ausstellung von Ai Weiwei in Düsseldorf aus dieser Sicht einzuordnen wäre, ist eine ganz andere Frage, die eher skeptisch stimmt. Aber wenn wir mit Adorno Kunst als eine Form der nicht-sprachlichen Erkenntnis verstehen, dann können wir aus ihr etwas für eine Politik im post-katastrophischen Zeitalter lernen. Post-katastrophisch ist das Zeitalter ja nicht, weil es keine Katastrophen gäbe, denen unbedingt (kategorisch – das ist die Botschaft von „Fridays for Future“) entgegenzutreten wäre. Post-katastrophisch ist das Zeitalter vielmehr, weil sich unsere Politik nicht mehr daran bemessen kann, zukünftige Katastrophen zu verhindern. Schon Benjamin mahnte angesichts des Zivilisationsbruchs des zwanzigsten Jahrhunderts, dass das Staunen, dass solche Katastrophen noch möglich sind, keine Erkenntnis vermittelt: „es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“ (255) Wer sein Handeln heute darauf reduziert, zukünftige Katastrophen verhindern zu wollen, der ignoriert, dass die Katastrophen schon überall gegenwärtig sind, dass die Klima- und Zivilisationskrisen heute schon gewaltige Opfer fordern. Wir sind nicht nur ob der zukünftigen Generationen zum Handeln gezwungen, sondern auch ob der vergangenen Katstrophen und der Katastrophen, die gerade neben uns passieren. Die Arbeit der Erinnerung, schmerzlich nachvollzogen in der mühsamen Arbeit des Geradebiegens, kann uns Ansporn sein, dem vermeintlichen Fortschritt in die Parade zu fahren und, wiederum mit Benjamin gesprochen, im Zug des vermeintlich unaufhaltsamen Fortschritts nach der Notbremse zu greifen.

Literatur:

Ai Weiwei: Wo ist die Revolution? Katalog zur Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2019. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen, Frankfurt/M. 1980