Auf dem Weg zur Post-Politik

Holm-Detlev Köhler

„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ ( Max Weber: Politik als Beruf, 1919)

Der britische Soziologe Colin Crouch (Post-Democracy, Oxford 2004) eröffnete dieses Jahrhundert mit dem Konzept der Post-Demokratie, nach dem sich die demokratischen Institutionen in formale Hülsen ohne jeden Inhalt verwandeln, eben das, was sein deutscher Kollege Ulrich Beck als Zombie-Institutionen bezeichnete. Dabei handelt es sich um formal gesehen demokratische Institutionen, die von einer ökonomisch orientierten Elite gemanagt werden, und zwar hinter dem Rücken der Bürger*innen, ganz im Stil einer neuen Aristokratie. Die letzten Wahlen zum Europaparlament ergänzten die Post-Demokratie um die Post-Politik. Die gegenwärtigen Politiker*innen wollen und können keine Politik machen, ohne einen permanenten Wahlkampf zu führen. Die Öffentlichkeit zu informieren und aufzuklären (also dicke Bretter zu bohren) ist nicht mehr populär, das bringt keine Wählerstimmen, sondern bedeutet harte Arbeit.

Die aktuelle Politik besteht nur noch aus einem permanenten Wahlkampf, in dem die Politiker*innen nach populistischen Diskursen und Botschaften suchen, die unmittelbare Wahlerfolge bringen sollen. So kommt es beispielsweise dazu, dass Regierungen vieler europäischer Länder die Augen vor der Misshandlung von Flüchtlingen verschließen, weil sie im Zusammenhang mit dem konstanten Alarmgeschrei gegen eine vorgebliche „Flüchtlingskrise“ Angst vor negativen Reaktionen der Wählerschaft haben. Die internationale Organisation SOS Rassismus in Katalonien hat zum Beispiel das Fehlen antirassistischer Positionen bei den Kandidaten beklagt, die sich um Sitze in den Kommunalwahlen und im Europäischen Parlament im Mai 2019 bewarben. „Vermisst haben wir Vorschläge der Politiker*innen, die sich auf die Menschenrechte beziehen und die aus einer antirassistischen Perspektive die Gleichbehandlung und Antidiskriminierung anstreben.“

Die einzigen Kriterien, nach denen sich die Politiker*innen richten, sind die Ergebnisse von Meinungsbefragungen und die Diskussionen in den Sozialen Netzwerken. Langfristige Strategien und die Planung mittelfristiger politischer Reformen fehlen gänzlich, denn sie passen nicht in das Kalkül der heutigen Politiker*innen und gelangen so auch nicht in ihre Marketingstrategien.

Der allgemeine Vorwurf, ein Populist zu sein, verliert in einer Welt, in der eben dieser Populismus zum einzigen Instrument der Politik aller Parteien geworden ist, jegliche Bedeutung. Spanien hat vier aufeinander folgende Regierungen der beiden Mehrheitsparteien erlitten, zwei unter dem Sozialisten Zapatero (2004-11) und zwei unter dem Konservativen Rajoy (2011-18). Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie absolut nichts getan haben und darauf verzichteten, überhaupt Politik zu machen. Sie haben die Augen vor der sich lange abzeichnenden Krise in Katalonien ebenso verschlossen wie vor der jahrelang anwachsenden Spekulationsblase und blieben handlungsunfähig angesichts eines obsolet gewordenen Produktionsmodells, angesichts der Ankunft Tausender Flüchtlinge, angesichts der alarmierenden sozialen Ungleichheit, angesichts einer ebenfalls alarmierenden Überbürokratisierung und Korruption vieler öffentlicher Verwaltungen bei gleichzeitig wachsender Ineffizienz etc. (Eine Regierung ohne funktionierende Verwaltung ist wie ein Handwerker ohne Werkzeuge.) Die Liste dringend anstehender politischer Aufgaben ist geradezu endlos, während es keine einzige politische Kraft gibt, die eine ebenso wirksame wie überzeugende Politik anbieten könnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gab es in Spanien zumindest einen Ansatz, diese Tendenz zur Aufhebung jeglicher Politik zu korrigieren. Dafür standen soziale Bewegungen und die Entstehung neuer politischer Parteien, die so dem dominierenden und langweiligen Zweiparteiensystem ein Ende bereiten konnten. Doch die neuen Politiker*innen mit ihren lächelnden Gesichtern und ihrem Marketing über die sozialen Netzwerke verwandelten sich im Rekordtempo in weitere Exemplare von A-Politiker*innen, wie sie in den anderen Parteien und Regierungen schon lange dominieren. Damit haben sie alle Hoffnungen darauf zerstört, dass es eine Wiederbelebung der Demokratie und einer Politik geben könnte, die Einfluss auf die politische Kultur hätte nehmen können.

Der Fall Spanien

Die Problematik der post-politischen Ära lässt sich am Beispiel der spanischen Wahlen und der Bildung einer Regierung in den letzten Monaten gut veranschaulichen. Auch wenn aktuell eine Koalitionsregierung im Amt ist, so wird sich die chronische politische Krise damit nicht erledigen oder beheben lassen.

Bis heute kann niemand Pedro Sanchez‘ Strategie verstehen, im vergangenen Jahr Neuwahlen anzusteuern. Er hat damit sich selbst und seine möglichen Koalitionspartner geschwächt und die Ultrarechte in Spanien und das periphere Unabhängigkeitsbestreben gestärkt. Auch wurde dadurch die Abneigung der Bürger*innen gegen die demokratischen Institutionen nach vier Wahlen in vier Jahren und provisorischen Minderheitsregierungen noch vergrößert. Nicht zuletzt wurden so die Fundamente der Demokratie in der spanischen Gesellschaft zerstört, und zwar allein um das Land in eine Sackgasse zu führen.

Nach den Äußerungen der Politiker*innen in den Medien haben alle Parteien außer den Ciudadanos (Bürgerpartei) die Parlamentswahlen in Spanien vom 10. November gewonnen. Betrachtet man die Wahlergebnisse genauer, so steht fest, dass allein Vox von der aktuellen Dynamik profitiert hat. Vox steht für ein ultrarechtes, xenophobes, anti-liberales, a-demokratisches Programm, das einhergeht mit der Nostalgie für die Werte der Frankisten und andererseits die Unabhängigkeitsbestrebungen der katalonischen ERC (Esquerra Republicana de Catalunya: Republikanische Linke Kataloniens) und CUP (Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit weiter fördert. Sowohl der Hispanismus, zu dem sich die PP (Partido Popular) und die Ciudadanos bekennen, als auch der Anti-Hispanismus drängen dem komplexen demokratischen Spiel den Horizont eines neuen Bürgerkriegs auf. In dieser aktuellen Dynamik sind alle demokratischen Gruppierungen verloren; die spanische Gesellschaft wendet sich von der Demokratie ab und wird immer identitärer und nationalistischer, während die Neuwahlen sieben verlorene Monate (seit den vorhergegangenen Wahlen) und 145 Millionen Euros gekostet haben.

Die wirklichen Verlierer dieser letzten Wahlen sind die Ciudadanos und Podemos, die 47 respektive 46 Sitze im Parlament eingebüßt haben. Diese beiden Parteien erschienen als große Hoffnungen auf eine Erneuerung der Demokratie. Sie standen für eine Kampfansage an die Korruption und die Ungleichheit, für einen Politikwechsel weg vom produktiv-spekulativen Model hin zu einer Energiewende, für eine Stärkung der Gesellschaft und der spanischen Wirtschaft angesichts zu erwartender ökonomischer Krisen und für eine Stärkung der Bürgerrechte. Bei den Wahlen von 2015 erreichten diese beiden gerade gegründeten Parteien die Stimmenmehrheit in den Städten, auch im Baskenland und Katalonien. Nur das System der Wahlkreise, das den wenig bevölkerten ländlichen Gebieten ein unproportional starkes Gewicht verleiht, verhinderte, dass sie die Mehrheit im Parlament erhielten. Der Ausbruch der urbanen Unzufriedenheit mit einer inkompetenten politischen Klasse, die nur sich selbst und ihre Klientel im Auge hat und zudem korrupt ist, schien sich auch im Parlament niederzuschlagen.

Von da an haben sich diese beiden Parteien nichtsdestotrotz mit rasantem Tempo an das neue post-politische Szenario angepasst. Sie vergaßen ihre Basis, übernahmen all die Unarten der alten Politik und verloren sich in internen Kämpfen, Intrigen und Strategien, die  zum einen unmittelbar auf Wahlkämpfe ausgerichtet und andererseits völlig inkohärent waren. Sie schlossen kritische Stimmen aus den Parteispitzen aus und verwechselten Politik mit medienwirksamen Diskursen. Auf diese Weise zerstörten sie alle Hoffnungen darauf, eine demokratische Erneuerung eines offensichtlich untergehenden politischen Systems zu ermöglichen. Darin aber sind sowohl die tatsächliche Krise der spanischen Demokratie als auch die Ursache für die dauerhafte Unregierbarkeit verortet. Das Beispiel Italiens zeigt uns, dass man über Jahrzehnte mit dieser Unregierbarkeit überleben kann. Allerdings führt das zu einer Schwächung von Gesellschaft und Wirtschaft, da solide Infrastrukturen fehlen. Unter der Vielzahl von drängenden und tiefgreifenden Problemen, mit denen die spanische Gesellschaft konfrontiert ist, und die in dieser post-politischen Konstellation nicht zu lösen sind, stechen zwei besonders hervor: die Struktur der Wirtschaft und das System der Autonomen Regionen. Die spanische Wirtschaft ist weiterhin fast ausschließlich abhängig von Sektoren mit niedrig qualifizierten und prekären Arbeitsplätzen und mangelnder Innovationsfähigkeit, nämlich das Bauwesen und der Tourismus. Darüber hinaus ziehen diese vor allen Dingen Spekulationskapital an und zeigen wenig Nachhaltigkeit. Ihre Verschuldung wird vor allen Dingen von ausländischen Kapitalgebern finanziert. Nicht zuletzt sind sie abhängig von Importen von Energie und Technologie. Charakterisiert wird die Wirtschaft von einer Polarität zwischen einigen wenigen großen Konzernen und einer Vielzahl von Kleinunternehmen. Außerdem zeichnet sie sich aus durch eine negative Handelsbilanz, durch chronische Unterbeschäftigung und mangelnde berufliche Qualifikationsmöglichkeiten. Nimmt man noch die unzureichende Steuergesetzgebung und die Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung dazu, verstehen wir, um was für ein profundes Problem es sich handelt, das zu lösen es am Willen und der Fähigkeit aller politischen Kräfte fehlt.

Doch der Sieg der Post-Politik wird immer noch am deutlichsten beim Thema Katalonien. Weltweit entstehen Unabhängigkeitsbewegungen, die folgende Ziele anstreben: ein System künstlicher post-imperialistischer und post-kolonialer Nationalstaaten und ein Umfeld, in dem die Angst vor den komplexen Problemen der Multikulturalität sich einfache Auswege sucht, und zwar in Form von identitären Bewegungen. Wie könnte nun eine demokratisch-institutionelle Lösung für das katalanische Problem aussehen? Ich sehe da nur eine einzige: die föderale Neuordnung des spanischen Staates auf der Grundlage der autonomen Regionen und mit der rechtlichen Möglichkeit, ein Referendum oder eine verfassungsrechtliche Volksbefragung durchzuführen, bei der garantiert ist, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten befragt wird (und nicht nur die Befürworter der Unabhängigkeit) und dass sie einige Fragen enthält, die die Konsequenzen eines Austritts (z.B. der automatische Austritt aus allen internationalen Verträgen) klar benennen. Ein neues föderales System müsste zudem einen aktiven Kompromiss aller Autonomen Regionen in Bezug auf die Führung des zentralen Staates beinhalten (z.B. mithilfe einer zweiten Länderkammer mit weitreichenden Befugnissen). Das gegenwärtige System der Autonomen Regionen ist das Ergebnis eines faulen Kompromisses im Zuge der Demokratisierung (1975-1978) und ist unter sehr ungewöhnlichen Umständen entstanden, so dass an der Zeit ist, dieses durch ein rationales föderales System zu ersetzen. Das katalanische Problem ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte sein, das schwerwiegende Folgen für die spanische Demokratie hat.

Wie auch immer, eine Verfassungsreform bedarf einer ausreichenden parlamentarischen Mehrheit, die jedoch angesichts des aktuellen post-politischen Panaromas in immer weitere Ferne rückt. Ich habe viel Verständnis für die Katalanen, die den Glauben an einen leistungsfähigen spanischen Staat verloren haben und deshalb daraus ausscheiden wollen. Dennoch irren sie sich gewaltig in Bezug auf die negativen Auswirkungen, die dieser Austritt für sie selbst und auch für die anderen haben wird. Erstaunlicherweise ist die einzige politische Kraft mit vernünftigen Positionen zu diesem Thema die baskische PNV (Partido Nacionalista Vasco). Nach den harten Lehrjahren mit der ETA, dem Plan Ibarretxe, der Versammlung Udalbiltza etc., d.h. den kopflosen Versuchen, einseitig eine Unabhängigkeit zu erzwingen, genießt das Baskenland heute eine relative Prosperität, die aus der Kooperation zwischen den zivilen und politischen Kräften in Bezug auf die Wirtschaftspolitik, die Verbesserung der beruflichen Qualifikationen und einer besonderen Art von Moderation und Verhandlungsführung zurückzuführen ist. All die anderen und damit auch die spanischen Bürger*innen scheinen in der Post-Politik versunken zu sein ohne politische Kräfte, die fähig wären, eine Lösung hervorzubringen.

Abdankung der Politik und populistische Kampagnen

Angesichts der allgemeinen Abdankung der Politiker*innen fallen viele Bürger*innen in allen entwickelten Ländern und allen europäischen Ländern immer häufiger auf die über die Medien verbreiteten populistischen Kampagnen herein. Diese wollen Mauern errichten, sich zu Unabhängigkeitskämpfern oder Nationalisten deklarieren, die die EU verlassen und den demokratischen europäischen Normen nicht mehr folgen. Katalonien und der Brexit sind nur mehr zwei herausragende Beispiele solcher populistischer Bewegungen, die in der Lage sind, über Jahre hinaus jegliche vernünftige Politik zu blockieren und die Bürger*innen in bloße Zuschauer von absurden Theaterstücken zu verwandeln, denen indessen jede künstlerische Gestaltung fehlt.

Bolsano in Brasilien, Trump in den USA, Johnson in Großbritannien und Salvini in Italien gehören zu diesem neuen Typus von Politkern, die gewählt werden, und dann aller Politik ein Ende zu setzen. Sie befinden sich in der Gesellschaft von Freunden wie Orban (Ungarn) oder Kaczynski (Polen), zwei antidemokratischen Ultrarechten, die die Wahlen in Europa gewinnen. In Frankreich beschimpft die ultrarechte Marin Le Pen direkt den Staatspräsidenten Macron, den Repräsentanten des neuen technokratischen Liberalismus mit seiner eigenen Partei und lässt dabei die traditionellen Parteien – Sozialisten und Republikaner – die mehr als 50 Jahre an der Macht waren, einfach unbeachtet. In Großbritannien hat die Brexitpartei die Europawahlen gewonnen und dabei die Konservativen und Labour so versenkt wie nie zuvor. Dabei handelt es ich um eine Partei, die erst wenige Monate vor den Wahlen von Gruppen gegründet wurde, die dem Lager von UKIP und ähnlichen Formationen angehören, und ähnlich wie diese ohne Programm oder auch nur eine Idee agieren, sondern nur von dem zynischen Ambiente profitieren, das durch den Verfall der traditionellen Politik entstanden ist. In Deutschland hat die CDU der scheidenden Kanzlerin Merkel sich dem schon lange andauernden Dahinsiechen der SPD in einer neuen Großen Koalition angeschlossen. Das aufregendste Ereignis des letzten Bundestagswahlkampfes in Deutschland war der Youtube-Beitrag eines Jugendlichen, der dazu aufrief, die CDU zu zerstören und weder die Rechten noch die Sozialdemokraten zu wählen, weil sie eine unheilvolle antisoziale und antimigrantische Politik verfolgen. In den letzten drei Tagen vor der Wahl wurde dieses Video 13 Millionenmal aufgerufen und war damit weitaus effizienter als die professionellen Wahlkampagnen der etablierten Parteien zusammen. Außerdem war es von wesentlich besserer Qualität als die Diskurse der Politiker*innen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die permanente Wahlkampfagitation inzwischen die Politik ersetzt. Das ist etwas, das die gewählten und nicht gewählten Politker*innen noch nicht verstehen und auch nicht verstehen wollen. Die Wähler*innen hingegen identifizieren sich immer mehr mit dieser postpolitischen Vision der Welt: Sie lehnen die die Eliten ebenso ab wie die Globalisierung, die Multikulturalität, die Immigration und die liberalen Werte sowohl der Sozialdemokraten als auch der liberalen Rechten. Eine Demokratie ohne Demokrat*innen und eine Politik ohne Politiker*innen hören auf das zu sein, was die Begriffe einst bedeutet haben. Sie verwandeln sich in Schmierenkomödianten und niemand weiß, was sie als nächstes ersetzen werden. Die italienische Erfahrung lehrt uns, dass man lange Zeit gut ohne Politiker*innen und ohne Politik leben kann. Allerdings werden ohne einen stabilen europäischen Rahmen das Risiko von Katastrophen und identitären und nationalistischen Delirien zu einer unkontrollierbaren Gefahr. Vom Bohren dicker Bretter sind wir zum Marketing von „smart faces“ ohne Leidenschaft und ohne Sinn für die Proportionen gekommen. Und so geht es weiter.