Die Krise der Krisenerfahrung

Die Corona-Pandemie: ein Weckruf oder eine Beschleunigung der Zivilisationskrise?

Christoph Görg

Kaum scheint eine Besserung in Sicht, schießen die Diagnosen, die Prognosen und die Therapien ins Feld und die Kontroversen um eine Wiederkehr zur Normalität nehmen an Schärfe zu. Nach zwei Monaten einer kaum gebremsten Zuspitzung der Corona-Pandemie gibt es in einigen europäischen Ländern Anzeichnen einer Stagnation auf hohem Niveau und für einen Rückgang der Neu-Infizierten. Dagegen erreichen uns täglich Nachrichten, wie die Krise in den Hotspots des Globalen Südens eskaliert, den Flüchtlingslagern, den Kriegsgebieten, den Slums und den von der Klimaerwärmung bedrohten Regionen. Während sich vertraglich gut abgesicherte Normalarbeitsbeschäftige im Globalen Norden, so sie nicht im Gesundheitsbereich oder ähnlich belastenden Berufen arbeiten, in den Ausgangsbeschränkungen mehr oder weniger gut eingerichtet haben und auf deren Ende warten, ist noch lange nicht klar, wie denn die Pandemie sich weiter entwickeln wird – und was ihre ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Folgen sein werden. Das liegt am Charakter dieser Krise, die als sozial-ökologische Krise globalen Ausmaßes eine überaus komplexe Dynamik entfaltet. Zudem häufen sich die Anzeichen dafür, dass die Pandemie als Vorwand für eine ganze Reihe politischer Projekte genutzt wird, vom Putsch Orbans in Ungarn über die Ausgrenzung der Muslime in Indien und den Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat in Israel. In anderen Ländern werden die Maßnahmen gegen die Pandemie den Machtsicherungsstrategien gemäß umdefiniert und kommuniziert, von proto-faschistischen Regime Bolsonaros bis zum Dauerwahlkämpfer Trump und der Machtsicherung Putins in Russland. Und auch in Deutschland.

Was daher an gesellschaftlichen Reaktionsweisen auf die (tatsächliche oder auch nur vermeintliche) Bedrohung antwortet, hat nicht unbedingt etwas mit deren Gefahren zu tun, sondern ist vielfältig vermittelt: von subjektiven Wahrnehmungsmustern (Ängsten und deren Verdrängung) genauso wie von herrschenden Denkmustern (wirtschaftlicher, politischer oder geostrategischer Natur). Erschreckend ist der Anstieg rassistischer Denkmuster, von fake-news und Verschwörungstheorien, die in allen Ländern und selbst bei bislang seriösen Medien auf dem Vormarsch sind. Mit dem steigenden Rassismus gegen Afrikaner in China und den Reaktionen afrikanischer Regierungen darauf haben diese längst die offizielle Politik erreicht. Gleichzeitig sind wir in all unseren Reaktionsmustern verstärkt vom Expertenwissen von Virologen und Epidemiologen und deren Verarbeitung in der Öffentlichkeit einschließlich des Internets abhängig, was viele Reaktionen nochmals irrational auflädt: vom tief-verwurzeltem Glauben an die Allmacht der Wissenschaft (und der endgültigen Beherrschung des Virus) bis zur endlosen Suche nach den Schuldigen für den Ausbruch der Seuche – von den Labors chinesischer Geheimdienste bis zu den Mobilfunknetzen findet man alles.

Was anscheinend in der Krise schwer auszuhalten ist, das sind die mit den Ursachen, dem Verlauf und den möglichen Folgen verbundenen Unsicherheiten. Im Folgenden sollen gerade diese in den Mittelpunkt gestellt und argumentiert werden, dass die Pandemie zu einem neuen „Umgang mit Unsicherheit“ führen muss, wobei diese Unsicherheit – und das wäre das eigentlich Neue – keineswegs zu einem Verzicht auf radikalen Wandel führen darf. Die Herausforderung besteht vielmehr genau darin: die Notwendigkeit einer großen Transformation des kapitalistischen Wohlstandsmodells gerade mit den Gefahren zu begründen, die der Versuch einer Kontrolle der Naturverhältnisse mit den Strategien der Naturbeherrschung ausgelöst hat. Nicht mehr Sicherheit ist gefordert, sondern ein reflektierter Umgang mit den Ursachen dafür, warum die Pandemie so bedrohlich wurde – und wie diese zu beheben seien, gerade weil man das Virus nicht völlig kontrollieren kann. Aber die Gefahr ist, dass ganz andere Krisentendenzen die Oberhand gewinnen, die uns eher an die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts erinnern: steigender Rassismus und Antisemitismus, aggressiver Nationalismus und eine Zuspitzung geopolitischer Konflikte – und dass vor diesem Hintergrund einer jetzt schon dramatischen Eskalation in der Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse.

Die vierte Kränkung – der sozial-ökologische Charakter der Krise

Es hat sich eingebürgert von einem Krieg gegen den Virus zu sprechen, den man unbedingt gewinnen müsse, oder eine entsprechende Rhetorik zu verwenden. Genau dieses Framing verfehlt aber nicht nur den Charakter der Krise, sondern führt auch zu fatalen Reaktionsweisen, die die Krise eher verschärfen. Das kann man sich durch ein paar einfache Überlegungen klarmachen. Ein Krieg ist ein gewaltsam ausgetragener Konflikt, in dem Kollektive ihre Interessen durchzusetzen versuchen (so in etwa die Basisdefinition laut Wikipedia). Nun könnte man sagen, dass „das Virus“ so ein Kollektiv darstellt, das sich verbreiten will und dabei gewaltsam gegen ein anderes Kollektiv, „die Menschheit“ vorgeht. Nur findet dabei eine anthropomorphe Umdeutung statt: Es ist doch sehr die Frage, ob das Virus als Kollektiv betrachtet werden kann, das seine Interessen durchsetzen will. Viren „wollen“ das machen, was alle andere Lebewesen, einschließlich des Menschen und aller Mikroorganismen, auch wollen: leben und sich vermehren. Es sind keine spezifischen „Interessen“, die das Virus so gefährlich machen, sondern die Art des Zusammenlebens mit dem Wirtstier Mensch. Und auch die ist nicht per se gefährlich: ohne eine Vielzahl von Mikroorganismen könnten Menschen wie alle anderen Organismen gar nicht leben. Aber in diesem Fall hat das Zusammenleben zwischen dem Sars-Covid-19 genannten Virus und dem Wirtstier Homo Sapiens für diesen sehr oft tödliche Folgen. Das ist aber nicht nur gefährlich für letztere, sondern auch für den Erreger – insofern wird dieses Virus die Krise auch nicht überleben (oder vielmehr nur sehr reduziert und mutiert).

Die Vorstellung, dass ein gefährlicher Mikroorganismus menschliche Gesellschaften kriegerisch bedroht, ist also nicht nur eine Projektion menschlicher Verhaltensmuster auf einen Mikroorganismus, sondern verfehlt auch den entscheidenden Charakter der Krise: die Interaktionen zwischen Gesellschaften und ihrer nicht-menschlichen Natur, d.h. ihren sozial-ökologischen Charakter. Zu einer Krise wird die Interaktion zwischen Virus und Mensch erst dadurch, dass sich das Wirtstier wehren kann und auch wehrt – sonst wäre es eine vielleicht sogar unbedeutende Episode in der natürlichen Evolution, in der es eben nicht um ein harmonisches Zusammenleben von Lebewesen geht. Aber weil dieser Wirtsorganismus nicht klein beigeben will, weil er sich sogar für was Besonderes hält – sich als „Krone der Schöpfung“ selbst tituliert hat, jüngst säkularisiert zum Anthropozän: zum Zeitalter des Menschen – läuft die Interaktion zwischen den beiden Organismen anders ab: Menschen bekämpfen den Virus, weil sie sich nicht als Teil eines natürlichen Prozesses verstehen, sondern als etwas Besonderes – und weil sie technische und medizinische Möglichkeiten haben, die Interaktion zwischen Virus und Wirtstiert anders zu gestalten. Das ist – und das möchte ich betonen – verständlich, auch wenn es Vorstellungen einer Convivialität, eines Zusammenlebens von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen eine Grenze setzt. Aber es gehört zu den großen Illusionen, die in dieser Krise aufgedeckt werden, dass trotz technischem Fortschritt in Wissenschaft und Medizin, trotz Anthropozän und vermeintlicher Einzigartigkeit des Menschen die Natürlichkeit des Menschen, seine Existenz als Organismus der den gleichen Kausalitäten unterworfen ist wie andere Organismus auch, keineswegs verschwunden ist, sondern als globale Krise wiederkehrt. Vielleicht könnte die Aufdeckung dieser Illusion ein heilsames Ergebnis der Krise sein. Man könnte es als vierte große Kränkung des Menschen bezeichnen, nach den ersten drei Kränkungen, die sich mit den Namen Kopernikus, Darwin und Freud verbinden. Hatten diese die Einzigartigkeit des Menschen im Universum, im Tierreich und als ein souveränes Ich in Frage gestellt, so manifestiert diese Krise die Einzigartigkeit des Menschen als natürliches Wesen – und zwar gerade trotz – oder vielmehr wegen – seiner wissenschaftlichen und technischen Potentiale, die ihm ganz offenkundig nicht (viel) helfen. Was man den Krieg gegen das Virus nennt ist nicht mehr als der Versuch, diese Kränkung zu verleugnen. Einen völlig anderen Ansatzpunkt gewinnt man, wenn man den sozial-ökologischen Charakter der Krise in den Vordergrund rückt: die krisenhaften Interaktionen im Verhältnis Gesellschaft – Natur.

Die Krise als Realexperiment – die Bedeutung der Unsicherheiten

Mit einem sozial-ökologischen Ansatz lassen sich die Dynamiken der Krise und die damit verbundenen Unsicherheiten leichter verstehen. Eine Krise ist nicht nur eine Situation, in der sich der Verlauf einer Krankheit entscheidet  (Genesung oder nicht), sondern auch eine Situation, die einem Subjekt, was immer das sein mag, als unausweichliche Zwangslage erscheint: Wenn die Ökonomie in einer Krise ist, dann lassen sich die Probleme nicht länger leugnen, dann wird die Notwendigkeit einer angemessenen Reaktion als unvermeidbar angesehen. Ob eine Krise der Fall ist, mag umstritten sein, und noch viel mehr umstritten ist, was zu tun wäre. Aber dass etwas getan werden muss, das scheint evident zu sein, wenn man von Krisen spricht. Nun haben Egon Becker und Thomas Jahn zusammen mit ihren Kolleg*innen vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt schon von mehr als 30 Jahren von einer  Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse gesprochen: krisenhaft seien nicht nur die Phänomene, die uns in Umweltproblemen, den Gefahren großtechnischer Anlagen wie Atomkraftwerden oder heute in der menschengemachten Klimaerwärmung entgegentreten, sondern auch das Wissen um diese Krisenprozesse. Die Corona-Pandemie belegt nicht nur die Angemessenheit dieser Krisendiagnose, sondern zeigt auch in besonders drastischer Weise, dass es gerade das Zusammenspiel zwischen materialen Krisendimensionen und dem sprachlich verfassten Wissen um diese materialen Dimensionen ist, das im Kern der Krise steht: das Zusammenspiel zwischen den bio-physischen Dimensionen der Naturverhältnisse und ihren symbolisch-sprachlichen Dimensionen, oder zugespitzt: zwischen der Kausalität des biophysischen Geschehens und dem Wissen und (!) Nicht-Wissen um diese Kausalitäten.

Wissen und Nicht-Wissen um die Auslöser der Krise und ihre Dynamik, von einem möglichen Ausgang ganz zu schweigen, sind enorm. Nicht nur sind der Ursprung des Virus und der Ausgangspunkt der Epidemie (der Patient 0) noch nicht bekannt, auch ihre Dynamik ist angesichts der vielen Probleme mit der Verlässlichkeit und der Aussagekraft der Zahlen in zentralen Elementen noch unbekannt. Es war schon irritierend, wie diese Unsicherheiten verleugnet wurden und wie immer noch verleugnet wird, auf welch mageren Grundlagen wir alle zu Wahrsager*innen des Epidemieverlaufs wurden. Zwar wurde auf Unterschiede in der Generierung und Verlässlichkeit der Daten (z.B. in Deutschland im Vergleich Johns-Hopkins-Universität – Robert-Koch-Institut) immer wieder hingewiesen und die Glaubwürdigkeit vieler Daten (aber meist im Ausland: bei „den Chinesen“, „der USA“ etc.) angezweifelt. Aber das Problem liegt tiefer: so sehr wir auf wissenschaftliche Expertise angewiesen sind, so sehr sind diese Expertisen von den an sie herangetragenen Erwartungen systematisch überfordert. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Krise ohne wissenschaftliche und medizinische Erklärungen gar nicht existieren würde: wir wüssten nichts von einem Virus, nichts von seiner Gefährlichkeit, den Wegen seiner Ausbreitung, nichts von möglichen Gegenmaßnahmen zur Reduzierung des Ansteckungsrisikos, nichts von möglicher Immunität u.v.a.m. Daher die Bedeutung der Expert*innen, die ja durch die Kulturindustrie schnell zu Pop-Ikonen verklärt wurden. Aber gleichzeitig kann kein*e einzelne*r Expert*in alle, oder auch nur die meisten Glieder einer Erklärungskette überschauen – von den virologischen und epidemiologischen Fachfragen bis hin zu sozio-ökonomischen oder politischen Aspekten in den gesellschaftlichen Reaktionsweisen. Das ist das Schicksal aller sozial-ökologischen Problemlagen: sie erfordern notwendig eine interdisziplinäre Zusammenarbeit über die Disziplingrenzen hinweg, auch über die Grenzen zwischen Natur- und Technikwissenschaften einerseits, Sozial- und Kulturwissenschaften andererseits.

Aber die derzeitige Krise in den gesellschaftlichen Naturverhältnisse geht darüber noch weit hinaus, weil auch die Pandemie einen sehr viel tiefergehenden – und kränkenden – Charakter hat. Und es ist dieser Krisencharakter, nicht die unmittelbare Bedrohung durch das Corona-Virus, die längst nicht an die Gefährlichkeit mittelalterlicher Pestepidemien oder der Spanischen Grippe heranreicht, die die derzeitige Aufregung und die Hilflosigkeit auslöst. Um diesen Krisencharakter besser zu verstehen, kann man auf verschiedene Formen des Nichtwissens verweisen, die in der Umweltsoziologie (aber auch darüber hinaus) schon länger Verwendung finden: wissenschaftliches Wissen arbeitet sich immer am Nicht-Wissen ab; und es glaubt, dass letzteres tendenziell zurückgedrängt werden kann (oder vielleicht irgendwann für immer verschwindet). Allerdings gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass mit jedem Wissen auch das Nicht-Wissen steigt, ganz im Sokratischen Sinne: je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich auch, dass ich vieles nicht weiß. Von besonderer Bedeutung ist aber ein Nicht-Wissen, von dem ich noch nicht mal weiß, dass man es nicht weiß: Vor der Entwicklung der Virologie wusste man nicht, nach was man suchen musste. Dieses unbekannte Nicht-Wissen (auf Englisch unknown unkown) ist aber in der derzeitigen Krise ganz entscheidend. Vieles über den Virus und seine genauen Eigenschaften ist noch unbekannt, aber wir wissen, dass wir das wissen sollten (und wissen vieles vielleicht auch bald). Aber in den Interaktionen zwischen dem Virus sind auch Unbekannte eingelassen, die wir erst in der Zukunft als wissenswerte Unbekannte kennenlernen und dann zum Gegenstand von Forschung machen können. Aber wegen der Vehemenz der Krise sollten wir schon heute davon ausgehen, dass wir mit solchen heute noch unbekannten Unbekannten in der Zukunft rechnen müssen.

So eine Unterscheidung ist nun kein philosophisches Glasperlenspiel, sondern unmittelbar handlungsrelevant im ganz praktisch-politischen Sinne: Sie wird relevant in Situationen, in denen ein Akteur weiß, dass mit einer Entscheidung Risiken verbunden sind (z.B. hinsichtlich der Lockerung von Ausgangsbeschränkungen). Diese unterscheiden sich von Unsicherheiten, die man zum Zeitpunkt von Entscheidungen noch gar nicht als mögliche Risiken im Blick haben konnte, weil die ihnen zugrundeliegenden Unsicherheiten (bzw. das Nicht-Wissen) noch nicht bekannt waren. Im letzteren Fall kann man das den Entscheidungsträgern weder politisch noch moralisch zum Vorwurf machen. Aber nicht nur Trump, sondern alle Entscheidungsträger werden später versuchen, bekannte Unbekannte als unbekannte Unbekannte darzustellen und damit die eigene Verantwortung zurückzuweisen: Das haben wir damals noch gar nicht gewusst…

Die eigentliche Quelle von Unsicherheiten sind daher nicht die einzelwissenschaftlichen Forschungsdesiderate (z.B. zum Virus als solchem), sondern die, die sich aus den Interaktionen Gesellschaft – Natur ergeben. Hier entpuppt sich die derzeitige Krise geradezu als ein gigantisches und bedrohliches Realexperiment. Realexperimente unterscheiden sich von Laborexperimenten, dass man weder ihre Rahmenbedingungen kontrollieren noch sie wiederholen kann. Das mag in der derzeitigen Situation geradezu zynisch erscheinen, aber gerade deswegen kann man von Realexperimenten so viel über den Umgang mit Unsicherheiten lernen. Ich will mich hier auf einen Faktor konzentrieren, der allerdings zum Verständnis der Krise ganz entscheidend ist: die Reaktion von Gesellschaften auf wahrgenommene, aber auch auf verdrängte Gefahren. Dass Menschen je für sich und noch mehr als organisierte Gesellschaften nicht realitätsangemessen reagieren, sondern ihre Reaktionen von einer Vielzahlt von Faktoren vermittelt sind, ist eine Binsenweisheit: Auf der individuellen Ebene spielen psychologische Faktoren wie Angst oder soziologische Faktoren wie Handlungsfähigkeit eine wichtige Rolle. Gesundheitliche Risiken (z.B. des Rauchens) oder Gefahren im Straßenverkehr werden niemals nach rein rationalen Kalkülen (dem technischen Risikobegriff: Wahrscheinlich x Schadenspotential) bewertet. Auf gesellschaftlicher Ebene spielen viele weitere Faktoren eine Rolle, die Existenz und die Qualität von Medien, die Verfasstheit des politischen Systems und die Möglichkeit, sich in eine offene Diskussionskultur einzubringen – oder umgekehrt in eine „Diskussion“ einbringen muss, die von Stereotypen, Feindbildern und Verschwörungstheorien geprägt ist. Entscheidend sind hier m.a.W. die Machtverhältnisse – und wie sie in die jeweilige Verfasstheit von Gesellschaft und Staat eingeschrieben sind. Die eigentlichen Unsicherheiten im Verlauf der Pandemie entstanden denn auch aus solchen gesellschaftlichen und politischen Reaktionsweisen – und deren Unterschiedlichkeit im globalen Rahmen.

Der politische Umgang mit Unsicherheiten

Bei den vielen Unsicherheiten, die im Laufe der letzten Wochen in der Krisendynamik eine Rolle spielten, ist es erstaunlicher Weise die Verfestigung eines sehr problematischen Glaubens, also einer vorschnellen Gewissheit, die am meisten Anlass und Grund zur Sorge gibt: die Fixierung auf den Nationalstaat als Problemlöser. Zunächst einmal ist es weder unwichtig noch unproblematisch, dass es eine Fixierung auf den Nationalstaat überhaupt in dieser Form gibt: Internationale Organisationen wie die WHO oder die UN sind in der Krise weiter geschwächt worden, von der Solidarität in der Weltgesellschaft und von einem Regieren jenseits der Nationalstaats (früher mal Global Governance genannt) sind wir weiter entfernt als jemals zuvor in den letzten 30 Jahren. Selbst in suprastaatlichen Entitäten wie der EU schreitet die Auflösung multilateraler Abkommen und Verträge immer schneller voran. Nicht dass die Krise die Ursache wäre, aber sie beschleunigt die Missachtung bestehender Regeln und deren Grundlage, z.B. die Rechtsstaatlichkeit, immer mehr. Das ist nicht in jedem Fall zu bedauern, aber diese Tendenz verbindet sich zu einer sehr gefährlichen Krisensituation. Auch die wirtschaftliche Globalisierung, zunächst auf der Ebene der Produktionsketten und des Handels betrachtet, wird mehr und mehr zugunsten eines immer aggressiveren Nationalismus und der Suche nach wirtschaftlicher Autarkie in Frage gestellt. Eine Frage ist, ob das wirklich wünschenswert ist. Die Erosion der neoliberalen Dogmen, auf denen die letzten 40 Jahre kapitalistischer Globalisierung aufgebaut waren, mag ja in einigen Fällen noch Anlass zu Hoffnung geben, so der Verzicht auf die „schwarze Null“ und die neue Staatstätigkeit in vielen Bereichen wie dem der Gesundheit. Aber dort, wo das Gesundheitssystem durch Anwendung dieser Dogmen ruiniert wurde (wie in UK oder der Lombardei), hilft das den Corona-Opfern nachträglich auch nichts mehr. Diese Opfer können uns aber lehren, welche Gefahren im politischen Umgang mit Unsicherheit liegen – und warum das derzeitige parlamentarische System unfähig ist, mit diesen Gefahren angemessen umzugehen.

An erster Stelle solcher Gefahren ist die Kurzfrist-Orientierung des politischen Systems zu nennen. Nur einige Staaten Süd-Ost-Asiens, wie Südkorea oder die „freundliche Diktatur“ in Singapur, hatten aus den letzten Pandemien gelernt und die Erfahrungen mit Sars oder der Vogelgrippe genutzt, um sich auf zukünftige Pandemien vorzubereiten – sehr viel geholfen hat es ihnen auch nicht, weil eine Pandemie schon vom Begriff her global ist. Gleichwohl wäre an diese Strategie heute anzuknüpfen, denn wenn es eine Sicherheit in der derzeitigen Lage gibt, dann die, dass die nächste Pandemie kommen wird! Aber dieses Problem offenbart auch einen zweiten Grund, warum das derzeitig, nationalstaatlich und mehr oder weniger demokratisch organisierte politische System zur Bewältigung ungeeignet ist: Es ist strukturell in Konkurrenz zu anderen Staaten ausgerichtet, eine Konkurrenz, die gerade in der neoliberalen Globalisierung mit der Fokussierung auf das Ziel der größeren Wettbewerbsfähigkeit nochmals gesteigert worden ist. Natürlich könnte diese strukturelle Konkurrenz des Staatensystems politisch überwunden werden. Und nach dem Ende der Blockkonfrontation und der Hoffnung auf eine Friedensdividende Anfang der 1990er Jahre sowie auch mit dem „Staatsprojekt Europa“ war zumindest rhetorisch eine solche Solidarität eingeklagt worden. Es wird abzuwarten sein, ob die Hoffnung weit trägt, dass angesichts der Corona-Krise solche Strategien wieder Auftrieb erhalten werden.

Gegen diese Hoffnung spricht eine Beobachtung, die sicher noch genauer ausgewertet werden muss, die aber schon viel Evidenz aufweist: in der Krise reagieren die Einzelstaaten nach ihrer je eigenen nationalen Verfasstheit, sprich: der institutionellen Verfasstheit von Gesellschaft und Staat und den in sie eingeschriebenen Interessengegensätzen und Machtverhältnissen. Die nationalen Reaktionsweisen in Gesellschaft und Staat/Politik waren und sind höchst unterschiedlich, aber bei allen Unterschieden vor allem davon geprägt, wie die jeweiligen nationalen Gesellschaft intern strukturiert sind, d.h. wie sie ihre sozialen Ungleichheiten, ihre Geschlechterverhältnisse, ihr Gesundheitssystem, ihre Arbeitsbedingungen u.v.a.m. – aber vor allem auch die Prozesse der politischen Willensbildung reguliert. Und vor allem deshalb wirkt die Hoffnung auf den Staat krisenverschärfend. Maßnahmen in der Corona-Krise wurden immer wieder mit Verweis auf einen Ausnahmezustand gerechtfertigt. Demokratietheoretisch ist das problematisch, denn im Ausnahmezustand schlägt die Stunde der Exekutive. Und so konnte man rund um den Globus beobachten, wie sich tatsächliche oder vermeintliche Staatsmänner vor allem als mutige Entscheider und verantwortungsvolle Staatenlenker gerierten – auch wenn sie faktisch weder mutig noch verantwortungsvoll agierten. Und so haben einige von ihnen erfolgreich die Legislative ausgeschlossen und damit einen Putsch durchgeführt (so Orban in Ungarn) oder zumindest tragende Säulen eines demokratischen Systems wie die Gewaltenteilung aufgehoben (Likud in Israel; PiS in Polen). Andere wie Bolsonaro, Putin, Erdogan oder auch Trump gibt es die Möglichkeit, ihre Macht zu sichern, indem demokratische Verfahren ausgehebelt werden. Und selbst dort, wo Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung noch nicht direkt bedroht sind, werden Wege in eine Gesundheits- und Überwachungsdiktatur geebnet. Schon lange spricht man von einer Krise der parlamentarischen Demokratie und der sie tragenden Institutionen, und diese Krise hat sowohl die Corona-Krise mit beschleunigt, weil es zu riskanten Entscheidungen angesichts bekannter Unbekannter geführt hat (so die verzögerte Reaktion der US-amerikanische Regierung, die daher natürlich einen Schuldigen braucht), wie sie selbst auch durch die Corona-Pandemie weiter vertieft werden wird. Wie die Weltwirtschaftskrise der 1920/30er Jahre dem Aufkommen des Faschismus in vielen Ländern Vorschub geleistet hat, so könnte auch diese Krise dem gärenden Autoritatismus und Rechtsradikalismus neue Nahrung geben. Der Weg von da zu einer Krise der Zivilisation ist nicht weit.

Die Krise als Chance? Oder: Die Krise der Krisenhoffnungen!

Wo aber bleibt „das Positive“? Birgt nicht gerade die Krise auch eine Chance in sich – oder pathetisch mit Hölderlin gesprochen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Wächst es denn? Die Krise als Entscheidungssituation bringt diese Konnotationen notwendig mit sich. Vor allem muss man in kritischer Absicht darauf beharren, dass eine Realität gerade dadurch verfestigt wird, dass sie als vermeintlich unveränderbare Realität stillgestellt wird: Die weitere Zukunft wird durch Handlungen, damit aber auch durch Machtverhältnisse und soziale Auseinandersetzungen hindurch gestaltet. Menschen machen in diesem Sinne ihre Geschichte selbst – aber eben unter den vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, wie Marx schon gewarnt hat. Und diese Bedingungen sind eben alles andere als hoffnungsvoll. Gleichwohl soll abschließend auf die Frage eingegangen werden: Was kann aus der Pandemie gelernt werden, nicht nur um ihren Verlauf positiver zu gestalten, sondern auch um sie tatsächlich zu einer Chance für eine dringend benötigte gesellschaftliche Transformation werden zu lassen? Eine solche Transformation wird nicht einfach ein „Neustart“ sein, der das gesellschaftliche System neu konfiguriert, kein Masterplan, der einfach auf Umsetzung wartet, und auch keine revolutionäre Erhebung, nach der dann alles anders wäre. Hier wurde argumentiert, dass es eines neuen „Umgang mit Unsicherheiten“ bedarf, um die sozial-ökologische Krise aufzugreifen und zu gestalten.

Gerade der letzte Punkt ist entscheidend: Wie und in welche Richtung müsste denn eine große Transformation des Kapitalismus verlaufen? Was wir derzeit beobachten sind verschärfte Konflikte um die Ausgestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse, von denen die Corona-Pandemie in ihren sozial-ökologischen Dimensionen nur ein kleiner Teil ist. Globaler Ressourcenverbrauch und seine Folgen, Klimakrise und ihre sozialen Erscheinungsformen weltweit werden in ihren Auswirkungen weit über die direkten Opfer der Pandemie hinausgehen, muss man zumindest befürchten. Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen lassen sich auch weniger an den direkten Nebenwirkungen der Krise festmachen: Dass die CO2-Emissionen massiv sinken, ist erfreulich – aber das wird wie bei der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 nur eine Episode bleiben, wenn sich die Strategien durchsetzen, die möglichst schnell zur Normalität (= Hoffnung auf schnelles Wirtschaftswachstum) zurückkehren wollen. Ansatzpunkte für eine Transformation ergeben sich eher aus den Anzeichen für strukturelle Änderungen, wie z.B. in der Konversion einiger Industriezweige auf gesellschaftlich nützliche Produkte (wie der Autoindustrie auf Beatmungsgeräte): dies sind wichtige Beispiele dafür, dass ein Umsteuern der Produktion möglich ist, wenn es tatsächlich politisch gewollt ist. Auch dem Flugverkehr wird wohl nicht eine Konversion, wohl aber eine drastische Reduktion bevorstehen. Und die Bedeutung einer ausreichenden öffentlich geförderten Infrastruktur, die nicht dem Profitstreben und der Finanzialisierung untergeordnet werden darf, könnte eine Lehre der Krise sein. Aber schon da wird sich zeigen, ob diese Lehre in den nationalen Gesellschaften wie auf globaler Ebene gegen starke Kapitalinteressen durchsetzbar ist.

Aber jenseits solcher positiven Anzeichen ist gleichwohl Skepsis angebracht, eben weil die vorherrschende Stimmung in vielen Ländern eine Rückkehr zur Normalität zu fordern scheint: Es soll wieder so werden wie vorher (selbst wenn das vorher nicht immer optimal war). Das verweist auf eine weitere Dimension der Krise, eine tiefgreifende Krise der Krisenerfahrung. In der Moderne war die gesellschaftliche Krise immer mit der Hoffnung auf eine tiefgreifende Verbesserung verbunden, mit dem Glauben an eine Chance für eine radikale Veränderung, eine revolutionäre Transformation der Gesellschaft. Auch wenn entsprechende Krisenanalysen auch heute wieder nach dem nun endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus fahnden, ist es vielleicht angebrachter, diesen versteckten Fortschrittsoptimismus aufzugeben und die ganze Tragweite der Krise ins Auge zu fassen. Weder ist die Menschheit in ihrer Existenz bedroht noch bricht der Kapitalismus zusammen, aber er wird aufgrund der Reaktionsmuster, den subjektiven Ängsten wie den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, in immer autoritärere Erscheinungsformen getrieben. Nationale Strategien dominieren, die globale Solidarität nur als Lippenbekenntnis kennen, wenn überhaupt. Und diese Strategien lassen bislang nirgendwo eine Hoffnung auf eine positive Entwicklung erkennen; eher müssen die Minimalbedingungen eines halbwegs zivilisierten Zusammenlebens verteidigt werden. Man denke nur an die Perfektionierung des Überwachungsstaats, der in vielen Ländern (wie z.B. in Israel) nun angestrebt oder sogar schon umgesetzt wird und der die Bemühungen Chinas um eine Erziehungsdiktatur als ungeschickte Vorform erscheinen lässt. Als Legitimationsgrundlage für einen autoritären Umbau von Staat und Gesellschaft dient immer häufiger der Kampf gegen den Virus – und hier zeigt sich die Bedeutung die ein angemessenes Verständnis der Krise für eine sozial-ökologische Transformation hat.

Während die Metapher des Kriegs gegen das Virus eine Steigerung der wissenschaftlich-technischen wie der politisch-militärischen Kontrolle über den Virus und seine Träger fordert, fordert eine sozial-ökologische Krisendiagnose das Zusammenspiel zwischen den bio-physischen Dimensionen der Naturverhältnisse und ihren symbolisch-sprachlichen Dimensionen in den Blick zu nehmen. In der Krise artikuliert sich die Kausalität eines biophysischen Geschehens, das auf symbolisch-sprachlicher Ebene notwendigerweise nur unvollständig und mit großen Unsicherheiten belastet thematisiert werden kann. Die Anerkennung dieses begrenzten Wissens um die Kausalitäten muss also der Ausgangspunkt einer anderen Strategie sein, einer Strategie, die nun keineswegs auf Anstrengungen zum besseren Verständnis der Krise und den Interaktionen zwischen Gesellschaft und Natur verzichten darf, gleichwohl aber die Hoffnung auf eine Lösung nach dem Muster der Naturbeherrschung hinter sich lässt. Denn hinter der Kriegsmetapher kommt dieser Glaube um so deutlicher zum Vorschein: Natur wird dort thematisiert als von „uns“, den Menschen, dualistisch getrennt und feindlich gesonnen; sie greift uns an (obwohl sie eigentlich untergeordnet sein müsste) und kann nur durch ihre vollständige Kontrolle in Schach gehalten werden. Der Weg dazu ist – in den Worten Max Webers – der Glaube, dass man die Natur durch berechnen beherrschen könne. An diesem Glauben muss also eine wirklich tiefgehende Transformation ansetzen, die auch die kulturellen Grundlagen des westlichen Zivilisationsmodells erschüttert; den bis heute im Überlegenheitsgefühl der Europäer wie der durch sie geprägten Neo-Europas tief verankerten Glauben, dass es zur Perfektionierung der Naturbeherrschung keine Alternative gebe. Nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der >Dialektik der Aufklärung< lag dieser Glaube im Zentrum der Zivilisationsbruchs des 20sten Jahrhunderts. Heute geht es um eine andere zivilisatorische Krise, aber die Gefahr ist eine ähnliche: Der Versuch, eine Kontrolle der Naturverhältnisse mit den Strategien der Naturbeherrschung zu erreichen, führt uns nur umso tiefer in die Zivilisationskrise hinein. Nicht die Suche nach mehr Sicherheit um jeden Preis ist daher gefordert, sondern ein reflektierter Umgang mit den Unsicherheiten, die in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen notwendig angelegt sind. Das erfordert aber keineswegs eine spiritualistisch verbrämte Hinnahme des scheinbar Unvermeidlichen, sondern eine schonungslose Analyse der Ursachen dafür, warum die Pandemie so bedrohlich wurde: von der Zerstörung sozialer und materieller Infrastrukturen (z.B. im Gesundheitssystem) in der neoliberalen Globalisierung bis zu den Krisen demokratischer Institutionen und der Transformation des politischen Systems mit den Mitteln des Ausnahmezustands. Ein reflektierter Umgang mit Unsicherheit darf also keineswegs zu einem Verzicht auf radikalen Wandel führen. Nur alternative demokratische Prozesse der öffentlichen Beratung, wie sie in vielen sozialen Bewegungen wie auch in den transdisziplinären Wissenschaften entwickelt wurden, böten Chancen für einen anderen Umgang mit Unsicherheit. Eine Verabschiedung der Kriegsmetapher wie der Hoffnung auf eine Steigerung der Naturbeherrschung ist dafür aber eine Grundvoraussetzung. Derzeit ist offen, ob die Krise tatsächlich ein Weckruf in diesem Sinne werden kann.