Christine Resch
Mit der Wende von 1989 hat der Begriff „Zivilgesellschaft“ eine neue Konjunktur und Umdeutung erfahren. Zivilgesellschaft, das war die „friedliche Revolution“ in der DDR, die sich gegen ein diktatorisches Regime durchgesetzt hat. Von Antonio Gramscis analytischen Begriff der „società civile“, verstanden als Teil des „integrativen Staats“, die „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ als Regierungsform in liberalen Demokratien beschreibt, hatte sich diese Verwendung denkbar weit entfernt. Mit Zivilgesellschaft sind seit 1989ff in der wissenschaftlichen Debatte „die Guten“ gemeint. Beispiele dafür finden sich zuhauf: Sei es die städtische Intelligenz gegen den „braunen Sumpf“ auf dem Lande; sei es die Willkommenskultur im „Sommer der Migration“ 2015; seien es, in der gegenwärtigen „Corona-Krise“, die vielen Fleißigen, die mit selbstgenähten Masken Hilfsorganisationen (gratis – sie haben unsere Anerkennung verdient) und die Bevölkerung (gerne gegen angemessene Bezahlung) versorgen. Letzteres geschieht deshalb, damit sich insbesondere „die Risikogruppen“ beim Einkaufen trotz Sicherheitsabstand und bei Einhaltung anderer Hygienevorschriften möglichst nicht anstecken. Das Recht auf Konsum – seit zehn Tagen dürfen immerhin wieder neue T-Shirts für das Homeoffice gekauft werden – übertrumpft das Recht auf Bildung und politische Versammlungen. Selbst der Besuch von Kirchen, Synagogen und Moscheen als zentraler Teil, um die Religionsfreiheit auszuüben, wurde hinter der Möglichkeit eingereiht, die Kathedrale Warenhaus wieder zu begehen. Erntehelfer aus Rumänien gefährden die Einheimischen – und um die geht es angesichts des „neuen Nationalismus“ – offenbar weniger als eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten. Mit Erdbeeren und Spargel geht die Welt immerhin nobel zugrunde. Jeder Nation bleibt es selbst überlassen, um den Gesundheitszustand ihrer Bevölkerung besorgt zu sein. Grenzüberschreitend übernimmt man da keine Verantwortung und auch die Zwei-Klassen-Medizin in „Normalzeiten“ scheint vergessen, was mich häufig daran zweifeln lässt, ob Gesundheit aus herrschender politischer Sicht tatsächlich oberste Priorität hat.
Aber der Reihe nach:
Mit der Wende erhielt der Begriff „Zivilgesellschaft“ die Bedeutung von „bürgerschaftlichem Engagement“. Dieser Gleichsetzung kann man „Neutralität“ kaum absprechen – Engagement wofür oder wogegen bleibt zunächst völlig offen: Die „Zivilgesellschaft“ tut einfach etwas und wird zunehmend dazu aufgefordert, das gefälligst auch zu tun! Gerhard Schröder hat die Aktivierung der Zivilgesellschaft dann zum politischen Programm erhoben. (vgl. dazu exemplarisch: https://www.tagesspiegel.de/politik/gerhard-schroeder-sorgt-sich-ums-gemeinwohl/131206.html) Der Staat soll die Zivilgesellschaft fördern – und fordern, versteht sich. Ein Schalk, wer Böses dabei denkt, wenn die Aktivierung der Zivilgesellschaft explizit zur Staatsaufgabe und Chefsache gemacht wird.
Und die Zivilgesellschaft tut im Zweifelsfall das Richtige! Sie kämpft (nein, sie grenzt sich ab) – siehe oben – gegen den „braunen Mob“; sie betätigt sich humanitär; sie kompensiert „Staatsaufgaben“. Wenn der Staat versagt, soll und wird es die Zivilgesellschaft schon richten. „Zivilgesellschaft“ nach der Wende hat genau dieses „Geschmäckle“. Es ist die wissenschaftliche Begleitmusik zu mehr „Eigenverantwortung“ (individuell und kollektiv), die der neoliberale Wettbewerbsstaat und zunehmend wieder autoritäre Staat forciert. Als Stichwort im Wahlkampf hat der seinerzeitige Kanzler Schröder dann allerdings auf dieses Wort verzichtet. Die Bevölkerung verstand es – so das Ergebnis einer Umfrage – schlicht und einfach nicht. Sie hat damit nur einen Gegensatz zu „militärisch“ assoziiert. Bürgerschaftliches Engagement klingt da attraktiver. „Zivilgesellschaft“ blieb ein wissenschaftlicher Begriff, der nur über den Umweg des „Engagements“ und in der Bedeutung, die nach 1989 in Deutschland wissenschaftlich forciert wurde, in die Politik Einzug gehalten hat.
Seit der Flüchtlingspolitikkrise verschärft sich diese Haltung. Merkels „Wir schaffen das!“ mag zunächst an die EU-Staaten gerichtet gewesen sein, im Effekt war es die Aufforderung an das (christlich respektive humanitär) orientierte Ehrenamt. Es wurde zu unserer Verpflichtung, die wir – also die liberale Zivilgesellschaft – gerne angenommen haben. Dass weder staatlich noch kommunal ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen, um ehrenamtlich sinnvolle Arbeit leisten zu können, sei dahingestellt. Sicher, es war eine gute Gelegenheit, Kleiderschränke und Kinderzimmer von ohnehin abgelegten Dingen zu räumen und sie großzügig zu spenden. Zwar ließ sich damit nur oberflächlich kompensieren, was an Betreuung der Geflüchteten erforderlich gewesen wäre, aber die ehrenamtlich Tätigen wurden für ihr Engagement gefeiert. Häufig waren die Helfer*innen für die Geflüchteten die einzigen Ansprechpartner*innen, die aber nur selten über hinreichende Kenntnisse für die Beratung verfügten. Der komplizierte Umgang mit der bundesdeutschen Verwaltung, Aufklärung in juristischen Fragen uswusf. hätte professioneller Unterstützung bedurft.
Auch während der gegenwärtigen Corona-Kontaktbeschränkungen liegt die Empirie – wie so häufig – auf der Straße und verstärkt auf den Bildschirmen: Medien (namentlich ARD und dazugehörige dritte Programme) senden seit Wochen unter „#zusammenhalten“. Das Klassen- und Geschlechterverhältnis spielt in „großen Zeiten“ keine Rolle. In meinem Hausflur finden sich Angebote – ehrenamtlich und unentgeltlich –, die Einkaufshilfen für „Risikogruppen“ anbieten. „Bleibt Zuhause“-Schilder finden sich an Wohnheimen. Regenbogenbilder an Kitas und Wohnungen sollen für Optimismus sorgen. Die Danksagungen für das Nähen von Masken nehmen in den Nachrichten kein Ende (Schnittanleitungen sind allzeit verfügbar!). (Hoch)Schulen setzen auf das Engagement der Lehrer*innen, sowie Dozent*innen (und Eltern, Stichwort: homeschooling), um eine digitale Lehre hinzubekommen – mehr Arbeit für Alle. Selbst mein Energielieferant bedankt sich per Email für social distancing (und schwört auf weitere Versorgung). Die Zivilgesellschaft ist vereinnahmt. Die Umsetzung der herrschenden Politik wird, wie schon während der Flüchtlingspolitikkrise 2015, zur zivilgesellschaftlichen Aufgabe. Die politische und die zivile Gesellschaft müssen in dieser schwierigen Situation ein enges Bündnis eingehen, nur gemeinsam kann der „Kampf“ gegen das Virus gelingen. In beiden Fällen hat das den hübschen Effekt, dass über öffentliche Infrastruktur kaum geredet wird. Vielmehr geht es um das eigenverantwortliche Engagement respektive die verantwortungsvolle Anpassung an Maßnahmen. Die neoliberale Ära, die von der Kohl-Regierung vorbereitet und dann von der Schröder-Regierung durchgesetzt wurde, erfährt in der Merkel-Regierung einen paternalistischen Bruch. Mag es manchen in den letzten Jahrzehnten zweifelhaft gewesen sein, wie es um die relative Autonomie des Staats (gegenüber mächtigen Kapitalfraktionen) bestellt ist, erleben wir gerade eher eine Situation, in der die Regierung das letzte Wort hat. Bevormundung eben – beruhe sie nun auf Einsicht oder Ergebenheit. Demokratische Diskussionen über mögliche Strategien mit der Pandemie umzugehen, gab es jedenfalls nicht. Bis heute weiß niemand Genaues über das Virus, aber die Regierungen bestimmen, was vernünftigerweise dagegen getan werden muss.
In den reichen Industrienationen war mit dem Thema „Gesundheit“ der Zugriff auf die Zivilgesellschaft gut vorbereitet. Diese wurde mehr und mehr den Betroffenen überantwortet. Tugendterror gegen Rauchen und Übergewicht seien als Stichworte genannt. In der gegenwärtigen Pandemie kaschiert die erforderliche Beteiligung aller an der Gesundheit aller, dass in den letzten Jahrzehnten das Gesundheitssystem kommerzialisiert und privatisiert wurde. Die ausschlaggebenden Kriterien dafür waren kaum, dass eine bestmögliche Versorgung der Bevölkerung gewährleistet sein sollte. Die Folgen einer solchen Gesundheitspolitik wurden zwar etwa für Italien skandalisiert, die hiesigen Zustände waren in den Medien allerdings kaum ein Thema – Satiresendungen bilden die Ausnahme, etwa Die Anstalt in ihrer Sendung am 24.03.2020. Lieber feiern wir jetzt die in Krankenhäuser Beschäftigten dafür, dass es gelungen ist, die Anzahl der (glücklicherweise leerstehenden) Intensivbetten zu erhöhen, und Unternehmen, die Beatmungsgeräte statt ihrer üblichen Produkte herstellen. Ob das auch zur Folge hat, dass Pfleger*innen in Zukunft besser bezahlt werden, ist gegenwärtig nicht mehr als eine vage Hoffnung und Forderung. Jedenfalls ist ein Teil der Gefahr, die Corona birgt, durchaus selbstgemacht. Aus den vergangenen Epidemien wurden kaum Lehren gezogen, Schutzkleidung für das medizinische Personal ist bis zum heutigen Tag kaum hinreichend vorhanden.
Aber zurück zur „Zivilgesellschaft“. „Gesundheit“ hat in den letzten Jahrzehnten den Stellenwert eines Verdichtungssymbols erreicht. Das funktioniert für den Bereich der „sozialen Sicherheit“ analog zu „Gewalt“, mit der Maßnahmen der „inneren Sicherheit“ legitimiert werden. Was genau damit gemeint ist, weiß niemand – die Begriffe sind unbrauchbar. Mit „Gewalt“ wird von Prügeleien am Schulhof über Kriminalität bis zum Krieg in Syrien alles mit ein und demselben Wort belegt. Bei Gesundheit reicht das Spektrum vom täglichen Treppensteigen und der hinreichenden Zufuhr von Vitaminen und Ballaststoffen, während es Zucker, Fett und Salz zu reduzieren gilt, über medizinische Vorsorgeuntersuchungen bis zur zusätzlichen privaten Gesundheitsversicherung, die wir alle möglichst abschließen sollen. „Krankenversicherung“ soll man ja nicht mehr sagen. Gesundheit ist die Ultima Ratio, ihrem Schutz ist alles unterzuordnen. In der Corona-Krise musste diese Haltung nicht mehr hergestellt werden. Es reichte, sie abzurufen. Gesundheitsrisiken qua der Aufrechterhaltung des ökonomischen, politischen und sozialen Lebens einzugehen oder Grundrechte kurzerhand auszusetzen, bedurfte kaum einer Debatte und war mit keinen größeren Konflikten verbunden. Dass Gesundheit als höchstes Gut gesetzt ist, hat uns offenbar denkfaul gemacht. Insgesamt war und ist das „wording“ wahrlich gekonnt: neben Gesundheit sind es Solidarität und Verantwortung, die uns ans Herz gelegt werden. Wer soll da etwas dagegen haben? Dazu werden wir nicht müde, all denen zu danken, die trotzdem für uns da sind: Verkäufer*innen und Busfahrer*innen, Ärzt*innen und Pfleger*innen. Das Problem ist nur, dass es ebenso wenig ihre Entscheidung war wie die derjenigen, die wir jetzt leider nicht sehen dürfen, deren Dienste wir leider vorübergehend nicht beanspruchen dürfen.
Im Alltag schlägt ohnehin die Stunde der Moralist*innen und Blockwart*innen, die penibel überwachen, ob wir die Hygienevorschriften auch einhalten und die sich nicht scheuen, die Polizei zu rufen, wenn sich eine Gruppe von Jugendlichen doch zu nahe kommt. Zwar werden Bußgelder bei Ordnungswidrigkeiten verhängt, aber wie häufig das geschieht, darüber ließ sich bei einer schnellen Recherche nichts finden. Es handelt sich um Hegemoniepolitik gepanzert mit Zwang. Meinem Eindruck zufolge besteht aber kaum eine Notwendigkeit, die Maßnahmen durch Strafen durchzusetzen. Die Bevölkerung übt sich freiwillig in Gehorsam. Über mögliche Motive mitzumachen, ist damit noch nichts gesagt. Das kann eine Unterwerfungsgeste sein, das kann auf der Abwägung beruhen, dass die Verweigerung derselben zu aufwendig und wenig aussichtsreich sei, das kann auch Einsicht in das rationale Vorgehen der Bundesregierung sein.
Auch wenn ich hier eine Pointierung versuche, so will ich zumindest erwähnen, dass es sich nicht um einen eindimensionalen Vorgang handelt. Eine Ausnahme stellt das Versammlungsverbot dar: Die Demonstration von „Seebrücke“ in Frankfurt wurde durch die Polizei aufgelöst, obwohl die Aktivist*innen den Sicherheitsabstand eingehalten und Mundschutz getragen haben. Diese Situation bringt auch Ideen hervor: etwa „Fensterdemos“ oder das Hinterlassen von bunten Fußabdrücken oder Schuhen auf öffentlichen Plätzen, die im Minutentakt von Einzelnen passiert werden, so bei einer Aktion in Berlin. Zu bewährten Strategien für widerständiges Handeln gehört, die herrschenden „Ansagen“ beim Wort zu nehmen. In diesem Kontext ist die Initiative #leavenoonebehind interessant, die Gesundheitsschutz für alle und die Auflösung von Flüchtlingslagern fordert. Was der Alltag an „Unterschleif“ bietet, wäre erst noch zu erforschen.
Noch eine kleine Beobachtung will ich anführen: Um eine Nachricht zu generieren reicht es, wenn sich die Bundeskanzlerin angesichts der kürzlich entbrannten Debatte über mögliche Lockerungen der Kontaktsperre, genervt zeigt. Gegenüber einer vereinnahmten Zivilgesellschaft braucht es keine Argumente, Gefühlsäußerungen reichen vollkommen aus. Dass es sich dabei auch um einen Affront gegen die Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) handelte, die schnelle Lockerungen präferiert hatte, brauchte gar nicht thematisiert zu werden. Zwar berät die Leopoldina vorwiegend die Regierung (unter besonderer Berücksichtigung der Kapitalperspektive), ist aber in der Corona-Krise in Konkurrenz zu anderen Expert*innen geraten und hatte das Nachsehen gegenüber den Virologen und Instituten, die ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt durch Unterstützung von Politik und Medien schon erreicht hatten. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die der Leopoldina zu Teil wurde, war dieser Akademie, die bisher eher im Hintergrund agiert hat, wohl unliebsam. Zudem hatte sie das Nachsehen. Was daraus über das Verhältnis von Politik und Kapital(-fraktionen) zu lernen ist, wird die Post-Corona-Phase zeigen. Was sich im Augenblick andeutet, macht nicht gerade zuversichtlich. Ich kann „Zeichen an der Wand“ nicht lesen, will den autoritären Politikstil aber auch nicht übersehen. An Konflikten, wie etwa dem mit der Lufthansa oder dem um die nächste „Abwrackprämie“, wird sich demnächst zeigen, wie das Verhältnis von Politik und Kapital (neu) austariert wird.
Die neue Erkenntnis? Vermutlich keine! Für Russland konnte Gramsci zeigen, dass gerade eine nicht ausgebildete Zivilgesellschaft eine erfolgreiche Revolution ermöglicht hat. Unter Bedingungen von Demokratie ist Zivilgesellschaft inzwischen so vereinnahmt, dass sie nicht widerständig handelt, sondern die herrschende Politik stützt. Aber das wusste Gramsci vor hundert Jahren auch schon. Das geschieht auch dann, wenn Politik im autoritären Gewande auftritt. Zwang kann so eine Option im Hinterhalt bleiben, wenn die Bevölkerung zuvorkommend und verantwortungsbewusst freiwillig mitmacht. Dazu gehört die Stunde den organischen Intellektuellen der politischen Klasse, die gelegentlich ihr Terrain gegen die stärker dem Kapital verpflichteten Denker*innen verteidigen müssen. Dass ein offen autoritärer Staat günstiger für emanzipatorische Politik sei, lässt sich daraus freilich nicht schlussfolgern. Vielmehr scheint mir gegenwärtig der Fall zu sein, dass Konflikte zivilgesellschaftlich eingehegt werden. Emanzipatorische Politik zeichnet sich dadurch aus, dass Interessen ausgehandelt werden. Dazu bedarf es allerdings der Konfliktfähigkeit von verschiedenen Interessenspositionen. Mit Appellen an unserer aller Verantwortungsbewusstsein werden diese von vornherein eingeebnet. Das Abgewogen werden müsste, tauchte als Motiv in der öffentlichen Debatte erst auf, als Entscheidungen bezüglich Lockerungen der Kontaktsperren gefallen waren.
Es mag sich hier um eine Zuspitzung handeln. Die Widersprüche sind interessant. Suchen wir sie … Oder, anders formuliert und ganz altmodisch gesprochen: Wo sind eigentlich die organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse?