Am Beispiel Ecuador: Warum der Progresismo in Lateinamerika scheitert

Die Präsidentschaftswahlen in Ecuador stehen exemplarisch für die Probleme progressiver Politik in Lateinaerika. Seit dem Amtantritt des legendären Hugo Chávez 1999 in Venezuela kam es in vielen Ländern zu Wahlen, bei denen Neoliberalismus-kritische Kandidat*innen gewannen: Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, teilweise Chile waren Länder mit linken Regierungen. Das war oft ein Effekt starker sozialer Mobilisierungen gegen rechte und neoliberale Politik. Gut zehn Jahre später meldeten sich vermehrt kritische Stimmen zu Wort, weil die Regierungen entgegen raikaler Rhetorik sich selten mit den Oligarchien anlegten und eher bei den Regierungen kapitalistische Orientierungen und verstärkte Ressourcenausbeutung mit verteilungspolitiken einhergingen. Ab 2015 waren die progresiven Regierungen auf dem Rückzug (http://wp.links-netz.de/?p=1), wurden in vielen Ländern abgewählt. Doch das war nicht durchgehend so: In Mexiko gewann ein progressiver Kandidat erstmals 2018 die Präsidentschaftswahlen, 2020 wurde in Argentinien nach vier Jahren neoliberaler Regierung wieder ein progessiver Kandidat gewählt. Alberto Acosta kommt am Beispiel der jüngsten Wahlen in Ecuador zu einer kritischen Einschätzung

Alberto Acosta*

In Ecuador hat nicht einfach die Linke gegen die Rechte verloren, schreibt der Ökonom, Ex-Minister und ehemaliger Präsident der Verfassungsgebende Versammlung Alberto Acosta. Die Niederlage von Andrés Arauz steht für die Schwächung und sogar das Scheitern des lateinamerikanischen Progresismo, also der sogenannten linken Parteien und Staatschefs von Venezuela über Brasilien bis Bolivien, die einst weltweit Begeisterung ausgelöst haben.

Nachrichten der Mainstream-Presse und politische Analyst*innen aller politischen Richtungen scheinen sich einig: Bei den Wahlen in Ecuador hat die Rechte gewonnen und die Linke verloren. Diese vereinfachte Lesart hilft jedoch wenig bis gar nicht dabei, zu verstehen, was passiert ist.

Progresismo: Von Venezuela über Brasilien bis Ecuador

Wer ist diese Linke, die die Wahl verloren hat? Der unterlegene Kandidat Andrés Arauz wird einer politischen Strömung in Lateinamerika zugeordnet, die Progresismo („Progressismus“) genannt wird. Dazu gehörten z. B. Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien, Lula da Silva und Dilma Rousseff in Brasilien oder Rafael Correa, der frühere Präsident Ecuadors. Sie und ihre Parteien sind heute nicht mehr an der Macht oder haben ihren früheren Glanz eingebüßt.

Die Anhänger*innen des Progresismo sind immer noch viele – wenn auch in abnehmender Zahl – innerhalb und außerhalb der Region. Der progressive Medienerfolg war so groß, dass sie in verschiedenen Teilen der Welt als offizielle Version der lateinamerikanischen Linken anerkannt wurde.

Eine Linke, die andere Linke verfolgt

Die Realität ist aber, dass Lateinamerika keine echte linke Kraft von internationaler Dimension hat. Die verschiedenen Progresismos haben sich von den linken Idealen entfernt, die ihnen das Leben geschenkt haben. Sie haben mit Gewalt, Autoritarismus und sogar Kriminalisierung andere soziale und politische Gruppen der Linken bekämpft. Der Progresismo wurde zu einer hegemonialen Linken, die andere Linke jagte, sicherlich kein seltsames Phänomen.

Es ist komplex zu definieren, wo sich die Linken derzeit auf regionaler und sogar globaler Ebene bewegen. Es ist noch schwieriger, zu bestimmen, wie die Linke politische Optionen schaffen kann, um den Kapitalismus zu überwinden. Die Realität ist manchmal so hoffnungslos, dass sich reformistische politische Strömungen mit wenigen Fortschritten als die bestmögliche Option präsentieren. De facto aber schwächt das das Ethos der Linken: eine politische Kraft zu sein, die sich danach sehnt, das Unmögliche zu erreichen und eine bessere, post-kapitalistische Welt zu schaffen.

Die Komplexität der Linken verdient zweifellos, dass jeder Fall sorgfältig analysiert wird, also die konkreten Tatsachen und nicht bloß die oberflächlichen Reden genau berücksichtigt werden.

Patriarchal und kolonial

Im Fall Ecuadors ist die Rechts-Links-Achse immer mehr in den konservativen Bereich gerutscht. Die Wahlniederlage des Progresismo im Jahr 2021 in Ecuador ist nicht etwa auf die mangelnde Einheit der sozialen und politischen linke Kräfte zurückzuführen. Im Gegenteil können wir hier sehen, dass der Progresismo die großen und wichtigen Widersprüche nicht verstanden hat, da er nur allzu oft patriarchale und koloniale Positionen gefestigt hat. Zur Ablehnung des Progressismus hat auch die Verfolgung, Kriminalisierung, Unterdrückung und sogar die Inhaftierung von zahlreichen Mitgliedern der linken Parteien und sozialen Bewegungen durch die Regierungen vom Correa beigetragen. Und in der Praxis haben diese Regierungen des Progresismo trotz ihrer revolutionären Reden nie versucht, den Kapitalismus zu überwinden. 

Gerade gegen solche Lesarten, die die Realität zu stark vereinfachen, ist es zweckmäßig, sich mit dem ecuadorianischen Wahlprozess zwischen Februar und April 2021 zu befassen, der ein politisches Erdbeben in dem kleinen Andenland verursacht hat. Dieses Ereignis wird Auswirkungen auf die Situation in Ecuador haben, in einem Kontext wirtschaftlicher Stagnation und einer Pandemie, die über eine bloße Wahl hinausgeht.

Bestes Ergebnis eines indigenen Kandidaten

Der ecuadorianische Progresismo trägt selbst einen großen Teil der Verantwortung für seine Niederlage. In der ersten Wahlrunde blieb sein Kandidat Andrés Arauz weit hinter dem angekündigten Sieg in der ersten Runde mit absoluter Mehrheit zurück. Auch die von Guillermo Lasso vertretenen Kräfte der neoliberalen und oligarchischen Rechten erlitten einen spektakulären Rückschlag. Der spätere Wahlsieger scheiterte beinahe am Einzug in die Stichwahl. Andererseits erzielte die indigene Bewegung mit ihrem Kandidaten Yaku Pérez überraschenderweise das beste Ergebnis in ihrer gesamten Wahlgeschichte.

Als die erste Runde mit einem sehr knappen Ausgang um den zweiten Platz zwischen Lasso und Pérez endete, verschärfte das Team um Arauz seine Kampagne gegen Yaku Pérez. Auch aus dem internationalen Progresismo gab es bösartige Angriffe gegen den indigenen Kandidaten. Mit einer Reihe von Aktionen wurde der indigene Kandidat durch einen Wahlbetrug an den Rand gedrängt. Zum Beispiel wurden trotz der Tatsache, dass im Nationalen Wahlrat eine Einigung mit den Kandidaten Lasso und Pérez erzielt wurde, die Wahlurnen nicht überprüft. Der Kandidat Arauz, besorgt über eine mögliche Konfrontation mit dem indigenen Kandidaten, unterstützte die Forderung der Pachakutik nach Transparenz nicht.

Das Vermächtnis Correas

All das ist nicht ohne die jüngere Geschichte Ecuadors zu verstehen. Andrés Arauz war der Kandidat Rafael Correas, des Präsidenten von 2007 bis 2017. In seiner Amtszeit sank die Armut in Ecuador enorm, aber gleichzeitig wurden die Reiche wegen der sehr hohen Erdöleinahmen noch reicher. Doch zugleich wuchs die Feindschaft zwischen dem Progresismo und den sozialen und indigenen Bewegungen. Ein wichtiger Grund dafür war die brutale Ausbeutung natürlicher Ressourcen, etwa durch Ölförderung in einem Nationalpark und die Einführung großer Bergbauprojekte.

Im Zuge des Konflikts verfolgte und kriminalisierte Correa soziale und indigene Bewegungen sowie Gewerkschaften. In diesen Punkten unterschied sich diese Regierung – wie viele ihrer Progresismo-Verwandten – kaum von der neoliberalen Konkurrenz.

Linker Wahlboykott in der Stichwahl

Angesichts dessen setzte ein großer Teil der Linken in der Stichwahl auf einen Wahlboykott „für Würde und Widerstand“. Würde, weil ein von Unregelmäßigkeiten geprägtes Wahlergebnis nicht akzeptabel ist; Widerstand, weil keiner der verbliebenen Kandidaten – weder Arauz noch Lasso – eine echte Alternative für die breite Bevölkerung darstellte.

Der Wahlboykott wurde von Yaku Perez‘ Partei Pachakutik, dem Dachverband der Indigenen CONAIE, von Gewerkschaften, Frauenbewegungen und einer großen Anzahl sozialer Organisationen unterstützt. 18 Prozent der in der Stichwahl abgegebenen Stimmen waren ungültig. So ging der Sieg mit 52 zu 48 Prozent an den wirtschaftsliberalen Kandidaten Guillermo Lasso.

Es ist schwierig, alle Faktoren zu bestimmen, die Lassos Sieg vollständig erklären. Ein wichtiger Faktor war aber sicherlich die Gegnerschaft großer Teile der Bevölkerung gegenüber der früheren Correa-Regierung. Diese verstärkte sich in den letzten Wochen vor den Wahlen weiter. Ein weiterer Grund ist die Unfähigkeit des Progresismo, Bündnisse mit breiten Teilen der Bevölkerung und sozialen Bewegungen einzugehen. Im Gegenteil griff er in falscher Siegesgewissheit zu ungeschickten Drohungen. Nicht zu vergessen sind die Versuche, die indigene Bewegung zu spalten.

Eine erneuerte Linke muss es anders machen

Eine erneuerte Linke in Ecuador und Lateinamerika darf nicht länger versuchen, alles durch die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen oder der Produktionsmittel zu lösen. Sonst läuft sie Gefahr, die so zentrale ökologische Frage wieder an den Rand zu drängen. Außerdem darf die Linke nicht die kulturelle Vielfalt der indigenen und afro-amerikanischen Völker vernachlässigen. Darüber hinaus muss die Linke den Dogmatismus von „Haupt- und Nebenwiderspruch“ sowie ihre patriarchalen Laster überwinden.

Wenn wir Lehren aus den Wahlen in Ecuador ziehen wollen, dann diese: Die Linke muss gleichzeitig antikapitalistische, feministische, dekoloniale, gemeinschaftliche und antirassistische Positionen berücksichtigen und Kämpfe führen. Sie muss die Demokratie ausweiten und radikalisieren.

Keine falsche Solidarität mit dem Progresismo

Zweifellos ist internationale Solidarität notwendig. Aber die Solidarität mit dem Progresismo rechtfertigt niemals das Zuschauen oder Schweigen, wenn eine „unserer Regierungen“ die Rechte von Menschen oder der Natur zertrampelt. Dieses Verhalten trägt oft dazu bei, die Möglichkeiten eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels zu begraben.

Ebenso ist jede Form des Neokolonialismus unerträglich. Allianzen müssen zwischen Gleichen bestehen, ohne die inneren Widersprüche jeder Nation zu übersehen. Wer sich auf internationaler Ebene als Linke*r bezeichnet, darf nicht darüber hinwegsehen, wenn Menschen kriminalisiert und verfolgt werden, die für ihre Rechte und Freiheiten kämpfen.

Werden diejenigen, die heute Ecuador, Lateinamerika und den Progresismo blicken, diese Notwendigkeiten verstehen? Wenn nicht, bleibt ihr Verständnis zwangsläufig unvollständig und dogmatisch.

*Alberto Acosta ist ecuadorianischer Ökonom, ehemaliger Minister und war 2007/2008 Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors. Dort wurden zum ersten Mal in der Geschichte die „Rechte der Natur“ festgeschrieben. Er ist außerdem Mitglied der Arbeitsgruppe „Alternativen zu Entwicklung“, die es seit zehn Jahren gibt.

Dieser Artikel erschien zuerst bei https://mosaik-blog.at/