Ein Revoluzzer?: Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit in der Kritik von Alexander Flores

Christine Resch

Zu Siegfried Kracauers 50. Todestag 2016 ist eine Biographie von Jörg Später erschienen, in den folgenden Jahren weitere Publikationen, die sich auf sein Werk beziehen, eine internationale Konferenz zu Kracauer ist am Institut für Sozialforschung in Frankfurt für den Mai 2022 angekündigt. Jacques Offenbach wurde zum 200. Geburtstag 2019 mit vielen Veranstaltungen geehrt. Kulturindustriell vorgegebene Jahreszahlen verschaffen gelegentlich auch Künstler*innen und Intellektuellen Aufmerksamkeit, die davor wenig öffentlich beachtet wurden. In der kürzlich erschienenen Publikation von Alexander Flores, die sich dem Werk von Jacques Offenbach widmet, nimmt die Rezeption der Studie „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ von Siegfried Kracauer (1937) einen gebührenden Platz ein. Hier werden zwei Persönlichkeiten gewürdigt, denen wahrlich mehr Beachtung zu wünschen ist.

Das Buch von Flores gliedert sich in zwei große Abschnitte: einem, der Kracauers Arbeit kritisch rekonstruiert (S. 13-72), und einem, der sich um das gegenwärtige Verständnis von Offenbach bemüht (S. 73-145). Es folgen ein kurzes Kapitel, in dem „die von Kracauer aufgeworfene Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Offenbachs Werk“ (S. 11) näherungsweise beantwortet werden soll (147-156) sowie ein Schlusswort (S. 157-160) und, im Anhang, ein Überblick über die Offenbach-Forschung.

Flores lässt keinen Zweifel daran, dass er Kracauers Studie schätzt. Aber nicht dass er das mehrfach explizit betont, ist das Entscheidende, vielmehr, und hier sei das etwas verbrauchte Sprichwort wiederholt, macht der Ton die Musik. Der Duktus lädt zum Mitdenken ein. Flores‘ für diese Studie einschlägigen Vorarbeiten fokussieren allerdings weder Kritische Theorie noch gar Kracauer, sondern die Musik von Jacques Offenbach.

Kracauers Studie setzt sich, so Flores, aus unterschiedlichen Textarten zusammen: biografischen zu Offenbach, sozialhistorischen, die „die politischen Entwicklungen im Großen nachzeichnen“, und solche, die man mit „Kultur, Presse, Boulevard“ überschreiben könnte. (vgl. S. 14f) Biographisch sei nichts nennenswert Neues zu erfahren. Flores’ fasst die von Kracauer dargestellten politischen Dynamiken im Zweiten Kaiserreich knapp zusammen. Die von Flores nicht so benannten kulturindustriellen Produktionsbedingungen machen schließlich den dritten Teil von Kracauers Untersuchung aus. Diese drei Themenbereiche durchziehen das gesamte Buch Kracauers. Es handelt sich eher um eine Montage als um getrennte Abschnitte.

Flores rekonstruiert die Arbeit von Kracauer anschaulich und macht sie durch viele Zitate nachvollziehbar. Die bündige Darstellung der Werke Offenbachs, mit denen Kracauer sich beschäftigt hat, insbesondere die Offenbachiaden, gibt einen hervorragenden Überblick und ist eine wohlwollende Auseinandersetzung mit Kracauers Deutungen. Er nimmt dabei den Montage-Charakter der Arbeiten Kracauers auf. Das macht es manchmal unübersichtlich. So folgt auf die Auseinandersetzung mit der These, Kracauer habe mit seinem Offenbach-Buch eine antifaschistische Streitschrift vorgelegt (was Flores verneint), ein Einschub über die Arbeitsweise Kracauers, bevor dann die Rezeption(sgeschichte) dieser Studie in vielen Facetten und sehr instruktiv dargelegt wird. Das reicht von den unmittelbaren Rezensionen bis in die Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzung zwischen Benjamin, Adorno und Kracauer. Flores hebt dabei hervor, dass auch Adorno seinen gegen Kracauer formulierten Anspruch, der Sozialcharakter müsse in der Musik bestimmt werden, „in seiner eigenen Monographie (gemeint ist die zu Wagner; ChR) keinen prominenten Platz einräumt“ (S. 62). Und so kommt Flores zu dem Ergebnis, dass „ein gewichtiger Einspruch gegen Adornos Verdikt“, wie sie in zeitgenössischen Rezeptionen formuliert werde, ein bedeutender Schritt zum Verständnis Offenbachs sein könne. (S. 72) Das ist zugleich die Überleitung zum zweiten großen Kapitel, das auf musikalische Analysen der Arbeiten von Offenbach fokussiert.

Es stellt ein Kompendium der Veröffentlichungen von Flores in den Bad Emser Heften dar, in denen alle seine früheren zitierten Publikationen zu Offenbach erschienen sind. In Bad Ems hat auch die Jacques-Offenbach-Gesellschaft ihren Sitz. Dieser Abschnitt ist an Offenbach-Kenner*innen adressiert, die nicht nur die bis heute populären Stücke dieses Komponisten zur Kenntnis nehmen. Es ist das Verdienst dieses Buches, dass einzelne Analysen von Offenbachs Stücken damit überregional zugänglich und zu einer umfassenderen Werkanalyse erweitert werden.

In diesem Kapitel wird die musikwissenschaftliche Forschung aufgearbeitet. Ausgewählte Stücke werden vorgestellt – mit Inhaltsangaben und Beschreibungen der musikalischen Strategien, sie in Szene zu setzen. Warum genau welche Arbeiten ausführlich analysiert werden, erfahren die Leser*innen zwar nicht, bemerkenswert ist aber, dass Libretti und musikalische Umsetzung hier miteinander verbunden sind. Dabei fällt auf, dass es sehr viel leichter fällt, das Sozialkritische in den Libretti auszumachen als in der Musik. Dass Partei „für die Frauen, für die kleinen Leute und die Benachteiligten“ ergriffen werde (S. 135), darüber gibt der Text Aufschluss, weniger die Analyse der Musik. Flores ordnet die Arbeiten von Offenbach in dessen Werkbiographie ein, setzt sie aber nicht zuerst in Bezug zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Wie er zu Recht betont, reagieren Künstler*innen nicht nur auf äußere Umstände, sondern orientieren sich auch ästhetisch (neu). Dem trägt dieser Abschnitt und die wiederholte Betonung Rechnung, wie vielfältig Offenbach in allen Schaffensperioden gewesen sei.

Ich hätte mir eine stärker hierarchische Gliederung gewünscht. So bleibt es den Leser*innen überlassen, übergeordnete Themen zu identifizieren. Als Beispiel seien hier etwa die unterschiedlichen Stilformen (S. 90ff) genannt, die für Offenbachs Musiktheater charakteristisch sind. Sie werden allesamt eingesetzt, um Amüsement zu erzeugen, fungieren aber alle als gleichwertige Überschriften. Die Beispiele für diese unterschiedlichen Strategien wiederum finden sich in anderen Kapiteln (etwa unter der Überschrift „Offenbachs Musiksprache“). Auch bezogen auf zentrale Themen wie Satire, wäre eine leser*innenfreundlichere Darstellung leicht denkbar. Da heißt es einmal, dass das satirische Element zum „Markenzeichen von Offenbachs Theater, oder zumindest eines charakteristischen Teils davon“ wurde (S. 87), dann aber bezogen auf Fille, dass dieses Werk nur dann als Verrat an früheren Positionen gesehen werden könne, wenn man Offenbach auf Satire festnagele: „Ein großer Teil seines Werks war schon vor dieser Wende in keiner Weise satirisch oder grotesk gewesen.“ (S. 138) Es wäre lehrreich gewesen, die satirischen Arbeiten und diejenigen, die es nicht sind, jeweils zusammenzutragen und zu überlegen, unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen Offenbach welche Form gewählt hat. Die These, dass Offenbach in allen Schaffensperioden ein vielseitiger Komponist gewesen ist, hätte sich durch eine solche inhaltliche Sortierung anschaulicher zeigen lassen als durch Wiederholungen dieser Aussage.

Auch in diesem Abschnitt bleibt Kracauer eine Bezugsperson. Kracauer würde sich auf die Offenbachiaden konzentrieren, die aber nur einen Bruchteil des Werks von Offenbach ausmachten. Insbesondere das Spätwerk von Offenbach hätte Kracauer vernachlässigt. Erstaunlich ist dann, dass gerade bezogen auf das Spätwerk längere Zitate aus dem Buch von Kracauer auftauchen. (vgl. S. 128, S. 130, S. 133f) Irritierend daran ist, dass die Kritik an Kracauers Position urteilend, aber nicht inhaltlich gefüllt ausfällt. Kracauer habe das konventionelle Urteil übernommen, etwa bezogen auf die Féerien, die „den schwächsten Teil des umfangreichen Offenbachschen Lebenswerkes“ bildeten (S. 130). Die Entgegnung: „[…;] sie sind vielmehr außerordentlich gelungen […] rein musikalisch enthalten sie große Schätze […]“ (S. 130), ist ohne weitere und begründete Ausführungen nicht mehr als eine Einschätzung.

An dieser Stelle wäre zu überlegen, inwieweit Kracauers nicht wenige Bezüge auf das Spätwerk Offenbachs dann stattfinden, wenn sie seine These untermauern, dass Offenbach der Komponist des Zweiten Kaiserreichs war, seine Figuren aber, die „vor noch nicht zehn Jahren unmittelbare Aktualität besessen hatten, […] zu Märchenfiguren geworden [waren]“. (S. 129 – Zitat aus Kracauer) Kracauers Interesse ist das Sozialhistorische. In der Konsequenz hieße das, dass die Gesellschaftsbiographie keine ist, die die gesamte Lebenszeit von Offenbach umfasst, sondern er „nur“ eine der Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs und Offenbachs Verbindung damit geschrieben hat. Genau das formuliert Kracauer einleitend auch als Anliegen: keine Privatbiographie, sondern eine Gesellschaftsbiographie des Zeiten Kaiserreichs vorzulegen.

Für alle, die nur den populären Offenbach kennen, enthält dieses Kapitel viele Informationen und musikwissenschaftliche Interpretationen, die ein neues Hören von Offenbach ermöglichen. Ob ausgewiesene Offenbach-Spezialist*innen mit neuen Deutungen konfrontiert werden, vermag ich nicht einzuschätzen. Den interessierten Leser*innen wird jedenfalls der Stand der Offenbach-Forschung eindrücklich und ohne auszuufern aufbereitet.

In den beiden kurzen abschließenden Kapiteln von Flores wird das Rätsel Offenbach nicht einseitig aufgelöst. Von Flores werden die verschiedenen Argumente referiert, in Offenbach einen Revolutionär zu sehen oder eben nicht. Festgehalten wird, dass politisches Engagement nicht das Anliegen Offenbachs gewesen sei. So bleibt es bei Flores am Ende bei der Ambivalenz, die schon Kracauer konstatiert hat: Kracauers Operetten „spiegeln ihre Epoche und helfen zu sprengen“.

Flores, Alexander (2021) Jacques Offenbach und sein Werk bei Siegfried Kracauer und darüber hinaus. Münster: Westfälisches Dampfboot