Die neue Welt(un)ordnung

Joachim Hirsch

Das geopolitische Szenario hat sich in den letzten Jahren einschneidend verändert. Der russische Angriff auf die Ukraine und jetzt der Krieg zwischen Israel und der Hamas haben diese Entwicklung erheblich vorangetrieben. Eines ihrer wesentlichen Merkmale ist der Niedergang der globalen Vorherrschaft des „Westens“, d.h. der USA, der EU und der NATO mit ihren jeweiligen Verbündeten. Dies hat viel mit dem Aufstieg Chinas zum „global player“ zu tun, das z.B. in Afrika die fortdauernde Dominanz der ehemaligen Kolonialmächte in Frage stellt. Auch Russland spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle, etwa in Mali, das nach dem Militärputsch die dort tätigen westlichen Militäreinheiten ausgewiesen und sich diesem Land zugewandt hat. Dass Russland die nach dem Überfall auf die Ukraine vom Westen verhängten Sanktionen recht gut verkraften kann, ist der Hilfe anderer Staaten, in diesem Fall insbesondere von China zu verdanken. Die Gewichte zwischen dem bisherigen kapitalistischen Zentrum und der Peripherie verschieben sich. Auch Südafrika, Indien oder Brasilien haben in der internationalen Politik an Bedeutung gewonnen, was auch an ihrer – eher neutralen – Haltung zu den aktuellen Kriegen deutlich wird. Ganz abgesehen von Katar, das als einziges Land in der Lage zu sein scheint, im Nahostkonflikt zu vermitteln. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Weltordnung durch den Gegensatz zwischen den USA und der Sowjetunion geprägt. Nach deren Zerfall schien es zu einer „unipolaren“ Situation mit den USA als einzig verbliebener globaler Macht zu kommen – was etwa Francis Fukuyma dazu gebracht, vom „Ende der Geschichte“ zu reden. Dem war allerdings nicht so. Die Vorherrschaft des „Westens“, also der USA und ihrer Verbündeten geht zu Ende. Die Weltordnung ist „mulitpolar“ geworden. Das hat sich schon am katastrophalen Scheitern der Afghanistanintervention gezeigt. Auch an den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten und den Reaktionen darauf wird das deutlich.  Dies deshalb, weil es in beiden Fällen auch um die westliche Vorherrschaft geht.

Deutlich wird diese Veränderung übrigens auch auf dem Feld der Klimapolitik. Immerhin sind es die westlichen Staaten – neben China -, die für den Großsteil des die Welt ruinierenden CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Es ist fraglich, ob dieser sich immer mehr in den Vordergrund drängende Konflikt mit ein paar Hilfen für die am meisten betroffenen Länder gelöst werden kann, ohne dass das in den kapitalostischen Metropolen herrschemde Konsum- und Produktionsmodell, die „imperiale Lebensweise“ grundlegend verändert wird – ein Modell, das bisher Grundlage der westlichen Vorherrschaft war.  

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass der Angriff Russlands auf die Ukraine einiges mit der nach 1989 einsetzenden Osterweiterung der NATO zu tun hat. Auch wenn das hierzulande gerne verschwiegen wird. In diesen Zusammenhang gehören auch die Bestrebungen, die Ukraine in die EU aufzunehmen – ungeachtet der nicht gerade EU-konformen Zustände in diesem Land. Die massive militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine ist nicht zuletzt dadurch motiviert und hat das Ziel, die Osterweiterung weiter voranzutreiben. Tatsächlich agiert die Ukraine jetzt schon als – gewaltige Opfer bringende – Hilfstruppe der NATO. Ohne deren militärische, logistische, finanzielle und geheimdienstliche Hilfe könnte sie den Krieg nicht führen. Inzwischen ist der militärische Konflikt allerdings zu einem festgefahrenen Stellungskrieg geworden und der Sieg einer der beiden Seiten steht in weiter Ferne. Wenn der Krieg nicht endlos weitergehen soll, wird es also irgendwann zu Verhandlungen kommen müssen, wobei die Position Russlands inzwischen eher gestärkt ist. Das könnte einen bedeutsamen Rückschlag für die Interessen der NATO bedeuten. Dies nicht zuletzt dann, wenn die Unterstützung der USA ausinnenpolitischen Gründen ausfällt oder eingeschränkt wird. Die massiven Hilfen Deutschlands, die trotz der Haushaltsprobleme versprochen werden, könnten dies nicht kompensieren.

Die Lage im Israel-Hamas-Krieg ist komplizierter. Was hierzulande kaum thematisiert werden darf, ohne der Terrorsympathie oder des Antisemitismus geziehen zu werden, ist seine Vorgeschichte, die durch eine jahrzehntelange Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung gekennzeichnet ist, was auch einen Nährboden für den Aufstieg der Hamas bereitet hat. Ganz abgesehen davon, dass diese einst von Israel unterstützt wurde, um die Palästinenser zu spalten. Dazu kommen die völkerrechtlich unzulässige Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten und dessen Verhinderung einer Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt. Bemerkenswert ist, dass die früher eher mäßige Unterstützung der Hamas in den Palästinensergebieten infolge der israelischen Kriegführung stark zugenommen hat. Natürlich ist die Terrorattacke der Hamas zu verurteilen und hat Israel ein Selbstverteidigungsrecht. Die Art und Weise, wie dieses ausgeübt wird, grenzt indessen zumindest an ein Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, weil die gesamte Zivilbevölkerung des Gazastreifens durch Blockaden und Waffengewalt praktisch der Vernichtung preisgegeben wird. Einiges deutet darauf hin, dass die israelische Regierung die Absicht hat, die dort lebenden Manschen, soweit sie am Leben bleiben, zu vertreiben. Mitglieder dieser Regierung propagieren inzwischen ein Israel „vom Fluss bis zum Meer“, also die Vereinnahmung des Westjordanlandes und von Gaza. Der Überfall der Hamas bietet dafür einen willkommenen Anlass.

Die Reaktion des „Westens“ beschränkt sich auf Ermahnungen zur Zurückhaltung, obwohl  – angesichts der massiven Waffen- und Finanzhilfen für dieses Land – durchaus Mittel bereitstünden, es zu einer Veränderung seiner Politik zu zwingen. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass Israel als Vorposten zur Sicherung westlicher Interessen im vorderasiatischen Raum fungiert, also strategischer Verbündeter ist, ganz unabhängig davon, wie dessen Regierung aussieht. Diese Konstellation wird als Folge des neuen Krieges allerdings immer prekärer. Es ist durchaus möglich, dass bei einer Eskalation des Konflikts selbst seine militärische Position erheblich geschwächt werden wird. Schon jetzt sind Israel und der Westen international in die Isolation geraten. Dies ist eine Folge der inzwischen eingetretenen „multipolaren“ Weltordnung, die sich u.a. daran zeigt, dass die Staaten des „Westens“ nur noch bedingt als Akteurskollektiv verstanden werden können und untereinander heterogene, z. T. widersprüchliche Interessen haben. Zudem scheinen die USA als ehemaliger „Weltpolizist“ derzeit weder in der Lage, aus innenpolitischen Gründen ein eindeutiges außenpolitisches Interesse zu formulieren, noch dazu, dieses mit militärischen oder ökonomischen Mitteln durchzusetzen. So konnte eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die eine Waffenruhe in Gaza forderte, nur noch durch das Veto der USA verhindert werden. Die Vollversammlung nahm sie danach mit überwältigender Mehrheit an.

Fazit ist, dass die Weltordnung sich auf eine komplexe Multipolarität hinbewegt. Für die verschiedenen Staaten und Staatengruppen beinhaltet das eine „Multioptionalität“, d.h. die Möglichkeit, situativ wechselnde Bündnisse und Allianzen einzugehen. Die Jahrzehnte währende Hegemonie des Westens mit den USA als Zentrum ist zu Ende. Das bedeutet zugleich, dass die Wahrscheinlichkeit von militärischen Auseinandersetzungen und Kriegen steigt. Das ist in der Tat eine „Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Scholz gesprochen hat, ohne sich wohl der tatschlichen Dimensionen dieses Prozesses bewusst zu sein.

Und überhaupt, was tut die deutsche Regierung? Sie steht praktisch vorbehaltslos hinter der – immerhin inzwischen rechtsradikal durchwirkten – israelischen und belässt es im Gefolge der USA bei einigen freundlichen Ermahnungen. Dass die USA die NATO als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine wieder geschlossen hinter sich gebracht hat, deutet eher auf eine Schwäche des „Westens“ im Zusammenhang der globalen geopolitischen Veränderungen hin. Eine Waffenruhe in Gaza lehnt Deutschland wie diese ab. Soweit zu ihrer angeblich „wertebasierten“ Außenpolitik, von der die Außenministerin gerne redet. Das hat nicht nur mit den geopolitischen Interessen des „Westens“ zu tun, sondern auch mit dem Versuch, durch eine bedingungslose Solidarität mit Israel die Nazi-Vergangenheit und den Holocaust zu entsorgen. Daher die Postulierung der Freundschaft mit Israel als „Staatsräson“, die inzwischen bis dahin reicht, dass mit dem Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“ jede Kritik an diesem Staat unter Verdacht gestellt wird (vgl. dazu ausführlicher den Kommentar von Katja Maurer auf der Webseite von medico international). Das hat beispielsweise dazu geführt, dass dem Berliner Kulturzentrum Oyoun, das eine Veranstaltung mit israelischen und jüdischen Friedensinitiativen durchgeführt hat die staatliche Unterstützung entzogen wurde. Der Berliner Kultursenator scheint diese Politik entschlossen weiter verfolgen zu wollen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 6.1. 2024).Wie die Außenministerin glauben kann, aus dieser Position heraus sich an Verhandlungen über die Freilassung der Hamas-Geiseln beteiligen zu können, bleibt schleierhaft. Schwerer wiegt noch, dass die herrschenden Parteien offensichtlich nicht in der Lage sind, die veränderte geopolitische Lage zu realisieren und in eine entsprechende Politik, so wie es zumindest ansatzweise der französische Präsident versucht umzusetzen. Sie riskiert damit eine nachhaltige außenpolitische Isolation, die ihre Spielräume noch mehr beschränkt.