Krise der Demokratie – von der herrschenden Politik erzeugt und vorangetrieben

Joachim Hirsch

Im November 2022 und im Oktober 2023 hatte ich auf links-netz Texte zur Krise der Demokratie bzw. den Erfolgen der AfD publiziert. Diese hält nicht nur weiter an, sondern hat noch zusätzliche Dimensionen angenommen. In der Regel wird die Krise an den wachsenden Wahlerfolgen der AfD festgemacht, die bei den kommenden Urnengängen in einigen Bundesländern stärkste Partei werden könnte. Und dies unter dem Eindruck des Aufstiegs des Rechtspopulismus im internationalen Maßstab – siehe Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Niederlande oder die anstehende erneute Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump in den USA. Das Problem auf die AfD zu reduzieren reicht allerdings nicht aus. Berücksichtigt werden muss nicht nur, was der AfD zu ihren Erfolgen verhilft, sondern welche anderen Faktoren dafür maßgebend sind.

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Krise ein außergewöhnliches, das normale Funktionieren der demokratischen Verhältnisse störendes Ereignis sei. Dagegen bleibt festzuhalten, dass die real existierende, liberal-kapitalistische Demokratie aus strukturellen Gründen grundsätzlich krisenanfällig ist. Dies deshalb, weil sie zwar „Volkssouveränität“ proklamiert, das Wahlvolk aber von wesentlichen, die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse betreffenden Entscheidungen ausgeschlossen bleibt, solange die ökonomische Dispositionsmacht in den Händen privater Kapitaleigner liegt und die Vermögen höchst ungleich verteilt sind. Diese Strukturmerkmale können zwar durch Gesetzgebung – etwa durch Mitbestimmung oder Besteuerung – modifiziert, aber nicht beseitigt werden, ohne die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen.

Als weiteren Grund für die aktuelle Krise hatte ich den Strukturwandel der Öffentlichkeit und der Funktionsweise der „Zivilgesellschaft“ angeführt, die als von den Herrschenden unabhängige Instanz als wesentlicher Garant demokratischer Verhältnisse gilt. Dazu gehören Presse und Rundfunk, sich öffentlich äußernde Intellektuelle, auch Nichtregierungsorganisationen unterschiedlicher Art. Erläutert wurde dieser Strukturwandel am Umgang der Medien und der kritischen Intellektuellen mit der Politik der Regierungen bei der Corona-Infektion und beim Ukrainekrieg. Angesichts einer weitgehend kritiklosen Unterstützung der Regierungspolitik wurde oft von einer „Gleichschaltung“ gesprochen, was die Sache aber nicht trifft, weil keineswegs staatliche Zensur am Wirken war. Vielmehr gab es bei den Medien eine Art von „Selbstgleichschaltung“, die auf ökonomische Zwänge und Konkurrenzmechanismen, insbesondere mit den sogenannten sozialen Medien zurückzuführen ist. Dadurch verursachte Auflagenrückgänge und Sparmaßnahmen gehen zu Lasten journalistischer Qualität und „Aufmerksamkeitsmanagement“ zur Sicherung von Auflagen und Quoten wird zur publizistischen Richtschnur. Dies gilt selbst noch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. So lässt sich erklären, warum in der Corona-Krise in die regierungsamtliche, auf die Legitimation der Zwangsmaßnahmen zielende Panikmache kritiklos eingestimmt wurde und warum über die Ursachen des Ukrainekriegs nicht gesprochen wird. Professionelle Recherche, Hintergrundanalyse und kritische Diskussion bleiben dabei tendenziell auf der Strecke. Man könnte dabei von einer Tendenz zu einer Art von zivilgesellschaftlichem Totalitarismus sprechen. In diesen Zusammenhang gehört z.B. auch der weit verbreitete und sehr einflussreiche „Ruhrbarone“- Blog, der sich mit dem Antisemitismusbegriff operierende Einschüchterungskampagnen im Kulturbereich hervortut.

Mit dem Angriff der Hamas auf Israel hat indessen auch die Unterdrückung von Meinungsäußerungen, Informationen und Diskussionen durch staatliche und sonstige öffentliche Stellen deutlich zugenommen. Es geht vor allem darum, Kritik an der praktisch bedingungslosen Unterstützung der israelischen Politik durch die deutsche Regierung zu unterbinden. Zwar werden gelegentlich Bedenken bezüglich der israelischen Kriegsführung geäußert, abgesehen von den geradezu obszönen Äußerungen des CDU-Chefs Merz bei seinem Schulterschluss mit dem israelischen Regierungschef. Dies allerdings ändert nichts an den massiven Waffen- und Finanzhilfen für dieses Land. Dabei wird „Antisemitismus“ als Kampfbegriff eingesetzt, ähnlich wie „Kommunismus“ in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff „israelbezogener Antisemitismus“, weil damit jede Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch und damit unzulässig oder gar strafbar hingestellt wird. Hintergrund dafür ist die Bedeutung des Staates Israel für die Sicherung von Einfluss und Kontrolle des „Westens“, also von USA und Europa über den Nahen Osten, ein geostrategisches Motiv also, das damit sozusagen moralisch verdeckt wird. Dazu kommt, dass gerade in Deutschland die Freundschaft mit Israel ein wichtiges Moment bei den Versuchen zur Entsorgung der Nazi-Vergangenheit darstellt. (Siehe dazu meinen Beitrag zur neuen Welt(un)ordnung auf dieser Seite).

Beispiele dafür gibt es einige, soweit sie überhaupt bekannt werden. So hatte der Berliner Kultursenator angeordnet, dass Organisationen aus dem Bereich von Kultur und Kunst nur dann noch eine öffentliche Förderung bekommen, wenn sie sich „gegen jede Form von Antisemitismus bekennen“. Nach massiven Protesten musste er einen Rückzieher machen. Julian Warner, der Leiter des Augsburger Brecht-Festivals musste zurücktreten, weil der den im Übrigen hochproblematischen und vielfach, auch aus dem Ausland als Angriff auf die Meinungsfreiheit angesehenen BDS-Beschluss des Bundestags kritisiert hatte. BDS steht für „Boycott, Divestment, Sanction“, eine transnationale Kampagne, die für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung eintritt und die israelische Regierung unter Druck setzen will. Der Bundestagsbeschluss bezieht sich dabei auf die äußert schwammig formulierte Antisemitismusdefinition des IHRA, bezeichnet die Organisation als antisemitisch und fordert dazu auf, ihr und ihren Unterstützern finanzielle Förderung oder die Zurverfügungstellung von Räumen zu verweigern. Warner wurde entlassen, obwohl er, wohl unter Druck, einen Rückzieher gemacht hatte. Die Schleswig-Holsteinische Staatssekretärin Sarnadzade büßte ihren Posten ein, weil sie einen Instagram-Post verbreitet hatte, der den Terroranschlag der Hamas verurteilte, aber auch die israelische Regierung wegen Völkerrechtsverletzung und die uneingeschränkte Solidarisierung mit dieser verurteilt hatte. Die staatlichen Zensureingriffe in den Kulturbetrieb richten sich gegen die Meinungsfreiheit und kritische Diskussion, also eine demokratische Öffentlichkeit und zielen darauf ab, das kulturelle Leben hierzulande zu provinzialisieren. So ist es z.B. inzwischen schwierig, Gäste aus anderen Weltregionen zu kulturellen oder politischen Veranstaltungen einzuladen, die die hierzulande zugelassene Sichtweise nicht teilen. Zunehmend dient der Antisemitismusbegriff auch zu einer die Meinungsfreiheit beschränkenden Reglementierung der Hochschulen.

Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem als „Skandal“ bezeichneten Auftritt einer Gruppe von Filmschaffenden auf der Berliner Biennale im Februar. Diese haben einen Dokumentarfilm über das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung gemacht, der preisgekrönt wurde. Sie warfen der israelischen Regierung Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen vor, also etwas, das immerhin den Internationalen Gerichtshof dazu bewogen hat, eine entsprechende Klage anzunehmen. Daraufhin wurden sie des Antisemitismus beschuldigt – des „israelbezogenen“ eben – und es brach ein wahrer shitstorm los, an dem sich viele Politiker*innen (mit z.T. unsäglichen Formulierungen) und selbst solche beteiligten, die sich als Qualitätsmedien bezeichnen, etwa die Süddeutsche Zeitung. Das Zusammenspiel von Politik und „Zivilgesellschaft“ bei der Unterdrückung der Meinungs- und Diskussionsfreiheit nimmt damit eine neue Dimension an.

Zurück zur AfD. Herbert Prantl hat geschrieben, diese sei „wie ein Schwamm, der alle Unzufriedenheit mit den anderen Parteien, allen Zorn, allen Frust aufsaugt“ (Süddeutsche Zeitung, 22.9.2023). Dies ist in der Tat eine wesentliche Grundlage ihres Erfolgs. Abgesehen davon, dass in ihr ein schon lange existierender rechtsradikaler Bevölkerungsanteil, angefeuert von einer immer aktiver und professioneller operierenden radikalen Rechten jetzt seine politische Ausdrucksmöglichkeit findet. Statt sich auf die Diskussion um das Für und Wider eines Parteienverbots einzulassen oder dieses sogar zu fordern, wie auch Prantl es tut, wäre es angezeigt, sich damit zu befassen, wodurch es zu diesem Zorn und Frust kommt. Womit wir wieder bei den strukturellen Eigenheiten unseres politischen Systems wären.

Dabei ist es notwendig, auf die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zurückzublicken. Die als „fordistisch“ bezeichnete Nachkriegsphase des Kapitalismus, die durch eine länger anhaltende Prosperität gekennzeichnet war und die eine umfassende Verbesserung der Lebensverhältnisse versprach, endete mit der großen Krise Ende der siebziger Jahre. Sie führte zum neoliberalen Roll-back, mit dem die Profitabilität das Kapitals wieder hergestellt werden sollte. Er bestand in einer massiven staatlichen Förderung der Unternehmensgewinne, Deregulierungen, Privatisierungen und Senkung der Sozialausgaben zu Lasten der unteren Einkommensklassen. Dadurch, dass die Politik vornehmlich den Kapitalinteressen folgt und die dominierenden Parteien dabei faktisch als „virtuelle Einheitspartei“ auftreten, wie Johannes Agnoli es ausgedrückt hat, verbreitet sich ein Gefühl politischer Ohnmacht. Der durch die neoliberale Wende erzeugte ökonomische Aufschwung war in den neunziger Jahren bereits wieder zu Ende. 2008/9 folgte die als Finanzkrise bezeichnete neue Wirtschaftskrise, die bis heute anhält. Eine Abkehr von der im Prinzip immer noch neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik fand dennoch nicht statt – siehe die „Schuldenbremse“ in den staatlichen Haushalten. Dazu kommt, dass die fortwährende ökonomische Krise viele Existenzen bedroht, die durch den Ukrainekrieg angeheizte Inflation die Einkommen schmälert und Ersparnisse vernichtet, der Mangel an bezahlbaren Wohnungen immer größer wird usw.

Dass das viele Menschen verunsichert, ist wohl eher milde ausgedrückt. Existenzängste breiten sich bis in die breite Mittelschicht hinein aus, Lebensperspektiven werden in Frage gestellt, die Angst vor Altersarmut wächst. Dazu kommt eine nicht mehr einflussbar erscheinende technologische Entwicklung, die von vielen als bedrohlich wahrgenommen wird. Die allseits gepriesene Digitalisierung, die vornehmlich der profitgesteuerten Rationalisierung dient, droht die Leute zu Anhängsel von Geräten und zu Objekten steuernder Algorithmen zu machen. All dies erzeugt die Wut und den Frust, wovon Prantl spricht. Dass diese Wut auf Ausländer*innen, Migrant*innen. und Fremde gerichtet wird, verdankt sich auch dem Gerede von Vertretern sich als demokratisch bezeichnender Parteien, siehe die einschlägigen Äußerungen etwa von Merz, Söder Aiwanger oder auch Lindner. Der Versuch, damit Wähler*innen der AfD zurückzugewinnen hilft dieser nur.  Wie schon im Zusammenhang der Corona-Politik kann sie sich zur faktisch einzigen Oppositionspartei stilisieren. Und sie richtet sich zugleich gegen „die da oben“, die über Lebensschicksale entscheiden, ohne dass dies noch beeinflussbar erscheint. Wenn den Politiker*innen die Kundgebungen gegen die AfD und zur Verteidigung der Demokratie loben wird ausgeblendet, dass eben diese real existierende Demokratie die Ursache für ihre Selbstzerstörung in sich trägt. Und es sollte nicht vergessen werden, dass sie selbst die demokratische Verfassung in Frage gestellt haben, als sie in der Corona-Krise zentrale Grundrechte ohne zureichende Gründe aufgehoben haben. An der Untergrabung demokratischer Rechte durch das, was „neoliberaler Konstitutionalismus“ genannt wird, hat sich bis heute nichts ändert.

Kurzum: es ist nicht zuletzt die herrschende Politik, die die Demokratie bedroht.