Wahlen in Frankreich

Rudolf Walther

Seit dem terroristischen Verbrechen der Hamas und dem  darauf folgenden Krieg der israelischen Armee im Gazastreifen ist „Antisemitismus“ quer durch die Medienlandschaft und das politische Spektrum zur ebenso simplen wie durchschlagenden Kampfparole geworden.

In Frankreich blies Bernard-Henri Lévy, der wurstigste unter den Intellektuellen, zum letzten Gefecht gegen die „antisemitische Linke“ und die  linksliberale SZ ließ den haarsträubenden Essay, der auf der Konstruktion eines ewigen Antisemitismus mit der Endstufe des „linken Islamofaschismus“ beruht und den übersetzen und am 24.6.2024 nachdrucken. Ob aus Angst, jüngster Erfahrung mit einer Verleumdungs- oder  Beleidigungsklage oder nur Vorsicht verzichtete Lévy auf namentlich präzisierte oder historische Belege und verwies ausschließlich auf eine kürzlich geschehene Misshandlung eines minderjährigen jüdischen Mädchens.

Dem stand auch die taz nicht nach und brachte kürzlich einen Beitrag, der die aus Palästina stammende, in einem syrischen Flüchtlingslager aufgewachsene, eingebürgerte Französin, Menschenrechtaktivistin, Völkerrechtlerin und Politikerin Rima Hassan im Handstreich zur „Ikone des Antisemitismus“ deklarierte – in der Nachfolge eines polemischen Artikels der konservativen Zeitung „Le Figaro“ und der Übernahme  von dessen Tenor durch das  französische Pendant zum deutschen Zentralrat der Juden.

„Antisemitismus“ taugt als pauschal erhobener Vorwurf zu fast nichts anderem mehr als zur Denunziation beliebig ausgesuchter politischer Gegnerschaft. Das merkte sich auch der französische Präsident Macron, als er  sich zur Auflösung des Parlaments und Neuwahlen entschloss und den daraufhin gebildeten  Block des “Nouveau Front populaire“  aus linken und liberalen Kräften kurz und bündig als „antisemitisch“ bezeichnete. Er widersprach damit zugleich auch der eigenen Absicht einer „republikanischen“  Blockade gegen den rechtsextremen „Rassemblement  National“. Denn wer, wenn nicht Linke und liberale Wähler sollten Macron und dem versprengten Häufchen Leuten in seinem dürftigen präsidialen Wahlverein, der jedoch als Partei auftritt, noch zu einer regierungsfähigen Mehrheit verhelfen, nachdem Macron selbst das lägst tote Phantom namens „politische Mitte“ mit seiner neoliberalen Politik  und seinen gebrochenen Wahlversprechen nach Kräften pulverisiert hatte? Um sich für die Stichwahlen zu qualifizieren brauchten die Kandidaten im ersten Wahlgang wenigstens 12, 5 Prozent der Stimmen. Für die Linken, galt die Regel, dass sie sich aus der Wahl zurückzogen, falls ihr Kandidat weniger Gewinnchancen hatte als der Kandidat aus dem Lager der Rechtsextremen oder bürgerlichen Konservativen. Diese haben sich bisher bei Stichwahlen ebenfalls an diese ungeschriebene Regel gehalten und vereitelten damit immer einen Sieg der Rechten von vornherein. Jetzt herrschte jedoch allgemeine Unsicherheit über das Verhalten der rechtsliberalen und konservativen Kandidaten des bürgerlichen Lagers. Der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire etwa erklärte sich nicht bereit, für einen linken  oder grünen Kandidaten zu stimmen und andere Exponenten aus Macrons Verein bestanden auf einem „Ni-ni“, d.h. einem „Weder-Noch“, also weder für einen linken, noch einen rechtsextremen Kandidaten  zu votieren. Ein Verlierer der Neuwahlen steht schon fest: Macron, der sie gewohnt selbstherrlich und ohne Not verordnet hat nach den für ihn enttäuschenden Europawahlen

Nach der Stichwahl bekommt Macron bestenfalls eine Art Ampel-Koalition in einem Land zustande, in dem Koalitionen so unbekannt wie unbeliebt sind  und die nur durch die permanente Furcht vor dem Amts- und Machtverlust notdürftig zusammengeflickt  und –gehalten werden kann. Bislang war eine Mehrheit der Franzosen immer gegen die Partei der Le Pens, solange  sie vom jetzt 96 Jahre alten Patriarchen geführt wurde wie von seiner Tochter Marine, die das Ruder jetzt an ein Nicht-ganz-Familienmitglied abgab (Jordan Bardella, der heutige Chef der Partei, war zeitweise verlobt mit einer Le-Pen-Nichte). Er wurde aber von der Tochter Marine in seiner Karriere gefördert und nach oben gehievt. Aber seine Aussichten sind, trotz der schlechten Umfragen für Macron, der ihn drei Jahre lang aussitzen müsste, nicht so rosig, denn der Schlachtruf des alten Le Pen – „d’abord La France“; so lautete das Original von Trumps Remake „America first“, rührt an die Basis des französischen Selbstverständnisses. Darin geht es um rechtliche Gleichheit, d.h. im Klartext: nach dem in Frankreich seit der Revolution geltenden“ droit du sol“. Im Unterschied zum restriktiven deutschen Abstammungsbürgerrecht sind alle in Frankreich geborenen Menschen, unabhängig von der Herkunft der Eltern, französische, also gleichberechtigte Staatsbürger. Genau das stellt der Le-Pen-Clan bis heute in Frage. Und daran ist schon „Vichy“ gescheitert, das die Gleichheit für Juden faktisch abschaffte. Gegen Gleichheit ist in Frankreich noch kein Kraut gewachsen. Das hört sich etwas altbacken an, aber bald werden wir wirklich wissen, wohin die Reise geht.