Joachim Hirsch
Es ist schon etwas her, seit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Sieg des Kapitalismus gefeiert und das „Ende der Geschichte“ ausgerufen wurde. Heute herrscht diesbezüglich eine gewisse Ernüchterung. Bisweilen wird sogar wieder die Frage gestellt, ob die vielfältigen und sich häufenden aktuellen Krisen und Katastrophen – Klimawandel, Kriege, Umweltzerstörung, Migration, auseinanderfallende Gesellschaften, wachsender Autoritarismus – etwas mit dieser Gesellschafts- und Wirtschaftsform zu tun haben.
Ulrich Brand und Markus Wissen haben jetzt ein Buch mit dem Titel „Kapitalismus am Limit“ veröffentlicht. Ohne Fragezeichen. Dabei bleibt allerdings zunächst noch offen, ob nun „Limit“ eine überschreitbare Grenze oder tatsächlich das Ende des Kapitalismus bedeuten soll. Zentrale These der Autoren ist, dass der Kapitalismus deshalb an seine Grenzen stößt, weil sich die Möglichkeiten erschöpfen, sozial-ökogische Krisen durch raum-zeitliche Verlagerung zu bearbeiten. Diese Grenzen bestehen nicht zuletzt darin, dass die für sein permanentes Wachstum benötigten Rohstoffe sich zu erschöpfen beginnen und der durch die fossile Produktionsweise und die Folgen der „imperialen Lebensweise“ erzeugte Klimawandel Katastrophen nicht nur in der Peripherie, sondern zunehmend auch in den dominierenden Zentren des Weltsystems nach sich zieht. Dies wiederum entfesselt soziale und politische Konflikte, verstärkt autoritäre Tendenzen und kommt an der immer deutlicher sich abzeichnenden Krise der liberalen Demokratie zum Ausdruck. Das Neue ist, dass sich die vielfältigen Krisenmomente – ökologische, soziale und ökonomische – miteinander verschränken, globale Dimensionen annehmen und sich gegenseitig verstärken.
Diese historisch neue Situation wird häufig als „Anthropozän“ bezeichnet, was heißt, dass sich die Menschheit selbst zu einem bestimmenden geophysikalischen Einflussfaktor entwickelt hat. Brand und Wissen kritisieren an der entsprechenden Literatur die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Entwicklung hervorgebracht haben: die vom Kapitalismus erzeugten Herrschafts- und sozialen Ungleichheitsverhältnisse, ohne deren Beseitigung technische Lösungen ins Leere laufen müssen. Es würde deshalb besser von einem „Kapitalozän“ gesprochen werden.
Kernelement der vorgelegten Analyse ist der von den Autoren entwickelte Begriff der „imperialen Lebensweise“. Dieser bezeichnet das in den kapitalistischen Zentren herrschende Produktions- und Konsummuster, das auf einen unbegrenzten Zugriff auf Naturressourcen und Arbeitskraft in allen Teilen der Welt beruht und dort tendenziell die natürlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen zerstört. Dieses Verhältnis ermöglichte den relativen Wohlstand und stabilisierende Klassenkompromisse in den Zentren und war dort die Voraussetzung relativ demokratischer Zustände. Die imperiale Lebensweise ist in den Wertvorstellungen und Alltagspraktiken großer Teile der Bevölkerung tief verwurzelt, was Veränderungen erschwert und liberaldemokratische Verfahren nicht eben tauglich für eine Lösung der Krise macht. Allerdings steht die scheinbare Normalität dieser Lebensweise infolge der Krisen, die sie selbst verursacht zur Disposition und der von breiteren Teilen der Bevölkerung getragene Versuch zu ihrer Verteidigung bestimmt ganz wesentlich die aktuellen politischen Konflikte.
Aus dieser Konstellation resultiert die Strategie eines „Grünen Kapitalismus“, die im Kern darauf abzielt, gegen massive Widerstände eine ökologische Modernisierung durchzusetzen, ohne indessen die Grundzüge der imperialen Lebensweise anzutasten. Ein Beispiel dafür ist die Elektromobilität, durch die der Verbrauch fossiler Energien eingeschränkt werden soll, ohne am herrschenden Mobilitätsverhalten etwas zu verändern und durch die der Bedarf an knappen Rohstoffen weiter vergrößert und damit der „Rohstoffkolonialismus“ verstärkt wird. Der grüne Kapitalismus erhalte den Charakter eines neuen Hegemonieprojekts nach der Krise des Neoliberalismus, ohne aber das Potential in sich zu tragen, die strukturelle Störung des Stoffwechsels mit der Natur zu beheben.
Ausführlich beschäftigen sich die Autoren mit den ökoimperialen Spannungen, die aus der wachsenden Staatenkonkurrenz um die Ausbeutung des kapitalistischen „Außen“, insbesondere beim Bedarf an Rohstoffen hervorgehen. Insbesondere der Aufstieg Chinas hat die Weltordnung grundlegend verändert. Die Dominanz des „Westens“ steht inzwischen zur Disposition. Dadurch würden tragfähige Kompromisse für stabile politische Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene immer unwahrscheinlicher.
Die Versuche zur Stabilisierung der imperialen Lebensweise führen zu einem wachsenden politischen Autoritarismus. Hier spiele auch das Versäumnis der Linken eine Rolle, den der ökologischen Krise zugrundeliegenden Klassenkonflikt zu thematisieren, was es erlaubt habe, diesen in einen Konflikt zwischen „Innen“ und „Außen“, zwischen dem „Wir“ und den feindlichen „Anderen“ zu transformieren. Dies habe die autoritäre Rechte bis in die bürgerliche Mitte hinein anschlussfähig gemacht. Die Krise der liberalen Demokratie liege eben darin, dass sich die Kosten der herrschenden Lebensweise nicht mehr zeitlich (auf spätere Generationen) oder räumlich (auf periphere Regionen) verlagern lassen. Die dadurch notwendige Beschränkung bisher für selbstverständlich gehaltener „Freiheiten“ – etwa des Konsums oder der Mobilität – rühren an das Grundverständnis dessen, was als „Demokratie“ bezeichnet wird. „Freie Fahrt für freie Bürger“ ist ein dafür bezeichnendes Motto. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen dazu, inwieweit die Krise der „Petromaskulinität“, d.h. die Bindung des männlichen Selbstverständnisses an den fossilen Energieverbrauch zu der autoritären Entwicklung beigetragen hat.
Die Frage ist, was angesichts dieser Situation zu tun ist. Damit beschäftigen sich die Autoren in ihrem letzten, mit „solidarische Perspektiven“ überschriebenen Kapitel. Notwendig seien radikale soziale Bewegungen, die es schaffen, die ökologische Problematik mit der Klassenfrage und anderen Formen der sozialen Ungleichheit – von der geschlechtlichen bis hin zu den Ursachen und Folgen der Migration – zu verbinden. Das sei etwas, was der neue Linkskonservatismus in Gestalt der Wagenknecht-Partei nicht schaffe. Praktische Ansätze dazu werden vorgestellt, wobei es vor allem darauf ankomme, Ökonomie „von unten her zu denken“ (208) und inclusive Solidaritäten im globalen Maßstab zu entwickeln. Notwendig sei eine Vergesellschaftung und demokratische Kontrolle der sozialen Infrastruktur. Eine radikale soziale Bewegung sei notwendig, um eine tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins zu erreichen und weil von der staatlichen Politik wirkliche Umorientierungen nicht zu erwarten seien. Dies schon deshalb, weil der existierende Staat eng mit der Struktur und Dynamik des Kapitalverhältnisses verbunden ist. Eine Veränderung der Politik bedürfe deshalb des Drucks von unten. Das bedeute nicht, dass die staatliche Ebene irrelevant sei. Vielmehr gehe es um eine Politik „im und gegen den Staat“ (208). „Vergesellschaftetes Wohneigentum, lokale und klimaangepasste Ernährungssysteme, funktionierende Einrichtungen der Pflege und Gesundheitsfürsorge oder ein nachhaltiges Mobilitätssystem – das waren schon immer Kernanliegen progressiver Kräfte. In Zeiten der Klimakrise werden sie zu einer Frage des Überlebens“ (228).
Die Analyse besticht durch ihren theoretisch gut fundierten und breit angelegten Ansatz, der gesellschaftliche Prozesse in ihrem komplexen Zusammenhang betrachtet. Die Autoren schreiben, dass sie den „worst case“ der erwartbaren Entwicklungen aufzeigen. Das ist angesichts der immer noch stattfindenden Verharmlosungen der aktuellen Krisen durchaus sinnvoll, führt aber dazu, dass die am Schluss geäußerte Hoffnung auf den Erfolg emanzipativer Bewegungen auf etwas schwachen Beinen steht. Hier wird eher umschrieben, was geschehen müsste, um der herrschenden Entwicklung Einhalt zu gebieten. Für internationale Solidaritäten, ohne die eine Bewältigung der globalen Krisen kaum möglich sein wird, stehen die Zeiten im Zuge einer fortschreitenden Renationalisierung der Politik nicht besonders gut. Was „Kapitalismus am Limit“ bedeutet, lassen die Autoren im Grunde offen. Die Geschichte hat gezeigt, dass er ein außerordentlich flexibles Gesellschaftssystem darstellt, das in der Lage ist, Grenzen, wie immer sie auch beschaffen sein mögen, zu überwinden und sich dabei neu zu organisieren. Die Alternative wäre sein Zusammenbruch. In welcher Form er auch immer stattfände, die Konsequenzen wären wohl nicht besonders erfreulich.
Es wäre wünschenswert, die Autoren hätten sich zu diesen Fragen etwas ausführlicher geäußert, um nicht dem Dilemma zwischen Katastrophismus und abstrakten Hoffnungsszenarien zu verfallen. Nicht zuletzt dies wäre Gegenstand weiterer Überlegungen. Das Buch von Brand und Wissen präsentiert nicht nur theoretisch reflektierte Analysen und Informationen, sondern bietet wichtige Hinweise für weitere Diskussionen. Es ist auf jeden Fall sehr lesenswert.
Ulrich Brand/Markus Wissen: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven. Oecom-Verlag München 2024. 300 S., 24 Euro.