Kritik des Konzepts der „Garantierten Grundarbeitszeit“
Ronald Blaschke
Folgende Replik auf Timm Kunstreichs Beitrag mit dem Titel „Kooperation statt Alimentierung. Garantierte Grundarbeitszeit (GGA) statt bedingungslosem Grundeinkommen“ (Kunstreich 2023) fokussiert auf die Kritik seines verkürzten Begriffs des Grundeinkommens, seine unzulängliche Wiedergabe des Konzepts des Sozialen Infrastruktur und auf die Kritik seines Konzepts der „Garantierten Grundarbeitszeit“. Auf eine emanzipatorische und transformatorische Alternative wird hingewiesen.
Zum Begriff des Grundeinkommens
Der von Timm Kunstreich verwendete Begriff des Grundeinkommens wird weder den in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verwendeten Begriffsbestimmungen im deutschsprachigen Raum noch aktuellen Definitionen des Grundeinkommens gerecht. In der Zeit von 1984 bis 1990 arbeiteten deutsche und österreichische Wissenschaftler*innen im Anschluss an die vorausgegangene Existenzgelddebatte (vgl. Fachhochschule Frankfurt am Main 1983) die Kriterien eines Grundeinkommens heraus: Es soll jedem Menschen, damit auch ohne jegliche Bedürftigkeitsprüfung (universell, bezogen auf den Status der Person), die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, in Form eines individuellen Anspruchs (personenbezogen) und unabhängig von einer Arbeitspflicht, einem Arbeitszwang, einer Arbeit(sbereitschaft) bzw. -leistung bzw. einem Zwang zu anderen Gegenleistungen (bedingungslos, bezogen auf das Verhalten der Person) (vgl. zum Beispiel Opielka 1984; Büchele, Wohlgenannt 1985; Opielka, Stalb und Vobruba in Opielka, Vobruba 1986; Wohlgenannt 1990). Diese wesentlichen Kriterien eines Grundeinkommens müssten Timm Kunstreich bekannt sein, ebenso die entsprechenden Definitionen des Grundeinkommens und Erläuterungen dazu auf den Webseiten des österreichischen und des deutschen Netzwerks Grundeinkommen, der Netzwerke Unconditional Basic Income Europe und Unconditional Basic Income – European Initiative.
Gemessen an diesen Bestimmungen des Grundeinkommens sind die Ausführungen von Kunstreich irritierend, so zum Beispiel, dass sich die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens auf die Abwesenheit einer Bedürftigkeitsprüfung beziehen würde bzw. entsprechend „operationalisiert“ werden könne. (vgl. Kunstreich 2023: 31, 35). Diese Interpretation der Bedingungslosigkeit blendet das wichtige Kriterium, dass sich auf das Verhalten von Menschen bezieht (Arbeitsleistung, -bereitschaft, -zwang, Gegenleistung usw.) aus. Dies hat bei Kunstreich einen konzeptionellen, begründungslogischen Hintergrund, der sich mit seinem Konzept der „Grundarbeitszeit“ erschließt.
Zumindest große Unkenntnis weist der Beitrag von Kunstreich auch auf, wenn von ihm behauptet wird, dass a) das „Bedingungslose Grundeinkommen (BGE), […] nur in wenigen Konzepten wirklich ‚bedingungslos‘ ist (also ohne Bedürfnisprüfung)“ (Kunstreich 2023: 35), b) „fast alle Vorschläge für ein BGE Verteilungsmodelle über das Finanzamt enthalten“ (ebenda) oder c) „alle Verteilungsmodelle“ ein „immer weiter steigendes Bruttoinlandsprodukt zur Voraussetzung“ (ebenda) hätten. Schon ein kurzer Blick auf Grundeinkommenskonzepte in Deutschland sowie auf Verlautbarungen von sozial Bewegten und Wissenschaftler*innen hätte Kunstreich eines Besseren belehren können (vgl. zum Beispiel Blaschke 2017; Blaschke 2018; Blaschke 2024a).
Seltsam sind viele weitere Behauptungen, die Kunstreich in seinem Beitrag über das Grundeinkommen aufstellt, vielfach ohne jegliche Begründungen oder Nachweise. Darauf kann hier aus Begrenzungsgründen nicht eingegangen werden. Festgehalten werden soll: Das Grundeinkommen deckt universell, bedingungslos und individuell das allgemein bzw. demokratisch anerkannte Mindestmaß an Geldressourcen ab, die für „das Betreiben des eigenen Lebens und die umfassende Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Zukunft“ (AG links-netz, 2013b: 58) nötig sind – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Methodischer Dualismus von Individuum und Gemeinwesen
Kunstreich behauptet, dass das Grundeinkommen einem „methodischen Individualismus“ verbunden und dabei „die zentrale Denkfigur und materieller Bezugspunkt“ das „einzelne Individuum“ (Kunstreich 2023: 35) sei. Diese Behauptung wird garniert mit dem Hinweis, dass dies an Margret Thatchers bekannten Ausspruch „ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen…“ erinnere. Unreflektierte Vorwürfe gegen das Grundeinkommen sind bekannt, rufen aber in seriösen Debatten ein müdes Lächeln hervor. Aus Begrenzungsgründen kann ich hier nicht auf das in den meisten sozialphilosophischen Begründungen für ein Grundeinkommen zugrunde gelegte Verhältnis von Individuum und Gemeinwesen bzw. Gesellschaft eingehen. Auch die Marxist*innen vertraute „Dialektik von Verhalten und Verhältnissen“ dürfte ausreichender Anlass sein, sich über den methodischen Zusammenhang von individueller Ermächtigung (zum Beispiel durch Grundeinkommen und andere soziale Garantien) und gesellschaftlichen Herrschafts- und Produktionsverhältnisse in Grundeinkommenskonzepten Gedanken zu machen. Schon die Überschrift des Beitrags von Kunstreich „Kooperation statt Alimentierung“ zeigt, dass Kunstreich die mit dem Grundeinkommen verbundene Ermöglichung in Freiheit tätig zu sein nicht erfasst, also die Ermöglichung notwendiger und autonomer (selbstzweckhafter) Arbeiten und Tätigkeiten für die (Re)Produktion von Gesellschaft und Individuen jenseits materieller Erpressung und Nötigung – sowohl in eigner Tätigkeit als auch in freier Kooperation (vgl. Gorz 2000; Spehr 2003; Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt Österreich, Netzwerk Grundeinkommen Deutschland 2006). Grundeinkommen ist ein wesentlicher Garant für eine andere Qualität des Verhältnisses von Individuum, (Re)Produktion und Gemeinwesen. Es impliziert einen Qualitätssprung in diesem Verhältnis. Kunstreichs Denkfigur ist ein Individuum-Gesellschaft-Dualismus, fast schon Antagonismus: dort das Individuum mit Grundeinkommen, da die gemeinschaftliche bzw. kooperative Produktion/Arbeit. Deswegen muss er zwangsläufig beim ökonomischen Arbeitszwang und bei einem Grundarbeitsdienst landen, bei einem methodischen und praktischen Paternalismus.
Zum Konzept der Sozialen Infrastruktur
Unreflektiert sind die Ausführungen Kunstreichs zum Konzept der Sozialen Infrastruktur der AG links-netz. So wird unterschlagen, dass zum Konzept der Sozialen Infrastruktur auf der Ebene des Individuums das Grundeinkommen gehört. Von Kunstreich wird nur auf eine „Grundsicherung“ im Konzept der Sozialen Infrastruktur hingewiesen, mit dem Verweis auf einen Beitrag von Joachim Hirsch, Mitglied der AG links-netz, von 2005 (vgl. Kunstreich 2023: 37 f.). Andere Beiträge der AG links-netz mit der eindeutigen Benennung des Grundeinkommen als Bestandteil des Konzepts der Sozialen Infrastruktur (vgl. AG links-netz 2012) werden ignoriert. Auch die unterschiedlichen Gewichtungen des Grundeinkommens durch verschiedene Wissenschaftler*innen, die sich mit dem Konzept der Sozialen Infrastruktur auseinandersetzen, werden nicht wahrgenommen: von „nicht die wichtigste Einheiteiner Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik“ seiend (AG links-netz 2013b: 64: 61), über eine im Kapitalismus „sinnvollste“ und „am ehesten selbstbestimmte Art, zu den benötigten Ressourcen zu kommen“, die „irgendwelcher Zentralversorgung mit ihrer bürokratischen Herrschaftlichkeit weit vorzuziehen“ wäre (ebenda), bis zur Einschätzung, dass Grundeinkommen „nicht der unwichtigsteTeil in einem Transformationsprozess von Sozialpolitik zur Sozialen Infrastruktur“ (Bareis, Cremer-Schäfer 2013: 181) sei. Festzustellen bleibt, dass Kunstreich analog seinem Dualismus von Individuum und Gemeinwesen eine Kluft zwischen Grundeinkommen und sozialen Garantien erzeugen möchte, die beispielsweise im Konzept der Sozialen Infrastruktur gar nicht existiert. Er meint: Soziale Garantien „würden so weit wie möglich als kollektive Sicherheiten konzipiert, in denen die individuelle Konsumtion eine untergeordnete Rolle spielt.“ (Kunstreich 2023: 36) Erstens spielt aber die „individuelle Konsumtion“, zum Beispiel ermöglicht durch ein Grundeinkommen, offensichtlich für die AG links-netz keineswegs eine untergeordnete Rolle, wie schon deutlich wurde und folgend weiter begründet wird. Zweitens steht das Grundeinkommenskonzept ebenso für eine „kollektive Sicherheit“, bedeutet eine „kollektive Bereitstellung“ von Ressourcen, zum Beispiel aus Gründen seiner Universalität bzw. seiner demokratischen Ausgestaltung und Einführung analog anderer Ebenen der Sozialen Infrastruktur. Drittens sind öffentliche universelle Zugänge zu Bildung, ÖPNV usw. ebenfalls nichts weiter als individuelle Konsumtionsakte, denn das Individuum konsumiert öffentliche Bildungs- oder Mobilitätsangebote – entsprechend seiner individuellen Bedarfslage – und nicht ein „Kollektiv“. Nur das dabei der Staat durch die Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen zum „kollektiven“ Käufer wird. Am Charakter der individuell konsumierten Güter und Dienstleistungen, ob nun in Form nicht monetär vermittelter individueller Zugänge zu öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen oder in Form von Grundeinkommen, ändert sich dabei aber nichts: In diesem Konzept sind und bleiben dies Waren, die von Lohn-/Erwerbsarbeitenden (Ware Arbeitskraft) mit weiteren auf dem Markt gekauften Mitteln „bereitgestellt“ werden.
Noch irritierender ist folgende Behauptung, die mit der Behauptung der untergeordneten Rolle des Grundeinkommens verbunden ist: „Die […] ausgebaute soziale Infrastruktur wird unentgeltlich zur Verfügung gestellt und ist damit Herzstück aller sozialen Garantien.“ (ebenda: 37) Die AG links-netz schreibt aber von einer „in der Regel kostenlose oder gegen ein geringes Entgelt dargebotene Bereitstellung öffentlicher, für alle gleichermaßen zugängliche Güter und Dienstleistungen, […]. Dies betrifft vor allem die Bereiche der Gesundheit, des Verkehrs, des Wohnens und der Bildung.“ (AG links-netz 2013b: 57) Seiten weiter ist im gleichen Buch zu lesen: „Daher ist es nicht sinnvoll, nicht Wohnen insgesamt, sondern nur ein bestimmtes Marktsegment [sic!] als Infrastruktur zu begreifen. Es soll der Versorgung unterer Einkommensschichten mit bezahlbarem Wohnraum dienen.“ (AG links-netz 2013c: 140) Im Konzept der Sozialen Infrastruktur wird also nicht nur der Infrastruktur-Bereich Wohnen als ein Marktsegment bezeichnet, was konsequent ist, weil die Wohnungen, deren Bau und Instandhaltung weitgehend vom Staat gekauft/finanziert/subventioniert werden. Sondern Wohnbedürfnisse sollen für die arme Bevölkerungsgruppe „bezahlbar“ befriedigt werden. Diese und weitere „öffentliche“ Infrastruktur-Bereiche sind also weder universell zugänglich, weil sie bedürftigkeitsgeprüft sind, noch stehen sie in diesem Falle (auch im Falle, dass sie für alle bezahlbar, also staatlich subventioniert sein sollten) den Individuen nicht kostenlos zur Verfügung. Sie müssen von den Individuen in bestimmter Höhe bezahlt werden. Mit der vermeintlich untergeordneten individuellen Konsumtion ist es nicht weit her, anders als Kunstreich meint. Das mit der Unentgeltlichkeit verbundene „Herzstück aller sozialen Garantien“ schwächelt! Am Beispiel der Wohnung Klartext verdeutlicht: Wenn man, wie die AG links-netz, ernsthaft und äußerst begrüßenswert, gegen einen Arbeitszwang ist (vgl. AG links-netz 2013a: 12), muss man zwangsläufig für ein nicht „untergeordnetes“ Grundeinkommen plädieren, sonst wäre mensch nämlich wohnungslos. Solange nicht alle (Grund-)Bedürfnisse der Individuen bedingungslos und auch unengeltlich ausreichend befriedigt werden, muss das Grundeinkommen zwangsläufig wesentlicher Bestandteil der Sicherstellung eines „auskömmlichen Leben[s] ohne Arbeitszwang“ (AG links-netz 2013a: 12) sein. Das Kunstreich diesen wesentlichen Aspekt Sozialer Garantien auch beim Ansatz der Sozialen Infrastruktur ausblendet, ist der Ignoranz eines wesentlichen Grundsatzes sowohl des Grundeinkommens als auch der anderen Ebenen der Bereitstellung der Sozialen Infrastruktur geschuldet: nämlich der konsequenten Ablehnung des existenziellen bzw. ökonomischen individuellen Arbeitszwangs. Diese Ignoranz ist der Hintergrund seines Konzepts der „Grundarbeitszeit“.
Ähnlich dem Ansatz der Sozialen Infrastruktur wird von vielen sozial und politisch Bewegten als auch Wissenschaftler*innen die Komplementarität von Grundeinkommen und weitgehend universellen Zugängen zu öffentlichen Gütern, Infrastruktur und Dienstleistungen betont. Das ist im ersten Grundeinkommensansatz von 1796 so, bei Erich Fromm, bei der unabhängigen Erwerbslosenbewegung in Deutschland (Existenzgeldbewegung). Und dies trifft für Grundeinkommensbefürworter*innen, Feminist*innen und Streiter*innen für eine Postwachstumsgesellschaft bzw. eine radikale Dematerialisierung und Dekarbonisierung der (Re)Produktion zu (vgl. Blaschke 2010: 59 ff.; Blaschke2025a und 2025b). Leider hat Timm Kunstreich auch dies nicht wahrgenommen.
„Grundarbeitszeit“ als ökonomischer Zwang und Einfallstor für einen Arbeitsdienst
Um sein Konzept der „Grundarbeitszeit“ zu begründen, greift Kunstreich auf ein „alternatives Reproduktionsschema“ nach Horst Müller zurück, „Sozialwirtschaft“ oder „Sozialstaatswirtschaft“ genannt (vgl. Kunstreich 2023: 38). Mit Müller verweist Kunstreich dann darauf, dass Soziale Infrastruktur (ohne Grundeinkommen) eine „gesellschaftliche und ökonomische Vorleistungen“ bzw. „Investitionen“ für die Kapitalwirtschaft ist – und von daher auch von dieser über eine „Kapitaltransfersteuer“ finanziert werden. Kunstreich sieht ein transformatorische Potenzial darin, dass im Bereich der „Sozialstaatswirtschaft“ bzw. Sozialen Infrastruktur die „Funktion des Staates als Regulator“ durch einen „Prozess der Demokratisierung der sozialen Infrastruktur“ zurückgedrängt werden könne, zum Beispiel durch „Genossenschaften […] bzw. vergleichbare kooperative Betriebsformen“ (ebenda: 39). Damit bewegt er sich immer noch im Bereich der Erwerbsarbeit, die sich durch die Kapitaltransfersteuer, also auch von kapitalreproduzierender Lohnarbeit finanziert. Eine mögliche transformative Rückwirkung betrieblich-demokratisierter „Sozialstaatlichkeit“ auf die Kapital-/Lohnwirtschaft wird nicht diskutiert. In einem weiteren Schritt bezeichnet Kunstreich die „Garantierte Grundarbeitszeit“ als ein Element der „Sozialstaatswirtschaft“. In Anlehnung an Frigga Haugs „Vier-in einem-Perspektive“ versteht Kunstreich darunter eine Neuordnung des Arbeitstages und der Arbeitszeit der Individuen, die gesellschaftliche Folgen haben soll: Lohnarbeitende und Nicht-Lohnarbeitende würden strategisch vereint, weil beide Gruppen im Rahmen des „Vier-in-einem Tages“ in den jeweils vier Arbeitsbereichen (Lohn-/Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, politische Arbeit und Kulturarbeit/Muße/Bildung) neben „‘Arbeit‘ und Einkommen auch Bestätigung und Anerkennung erfahren und sich zugleich umfassend bilden können“ (ebenda: 40). Damit wird ein Denkansatz aufgerufen, den André Gorz mit Grundeinkommen, dem Recht auf Multiaktivität und Arbeitszeitverkürzung/-unterbrechung und der Aneignung öffentlicher Räume und Infrastrukturen für vielfältige eigene und kooperative autonome (selbstzweckhafte) Aktivitäten der Menschen ohne jegliche Erwerbszwecke und -notwendigkeiten bereits 1997 entwickelte (vgl. Gorz 2000: 102 ff.). Gorz erhoffte sich von den selbstorganisierten, auch kooperativen Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat eine erfahrungsgestärkte transformatorische Rückwirkung auf die heteronome Lohn-/Erwerbsarbeit (ebenda; vgl. auch Blaschke 2024b: 46 ff.). Im Unterschied zu Gorz plädiert Kunstreich allerdings nicht für ein Grundeinkommen, sondern für einen „Lohn“ in der „Grundarbeitszeit“, mit dem Begriff „living wage“ versehen. Dieser würde den Individuen (sic!) aus den von der staatlich erhobenen Kapitalwirtschaftssteuer gefüllten „Kommunalen Ressourcen Fonds“ gezahlt.
Sympathisch klingt, was Kunstreich in Bezug auf die Gleichwertigkeit der Tätigkeiten und Lebensäußerungen der Menschen schreibt: „Wenn man von der Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit aller gesellschaftlichen Bereiche zur Erhaltung und Weiterentwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse ausgeht, müssen auch alle Tätigkeiten und Lebensäußerung handelnder Menschen als gleichwertig und gleich sinnvoll erachtet werden.“ (ebenda: 40) Diesem universellen Grundsatz würden wohl fast alle Befürworter*innen des Grundeinkommen zustimmten [1], ist doch die Grundeinkommensidee eng mit dem Ziel der Zurückdrängung der Hegemonie der Lohn- bzw. Erwerbsarbeit verbunden (vgl. auch Fachhochschule Frankfurt am Main 1983). Kunstreich greift aber in der weiteren Argumentation auf Haug zurück und widerspricht sich selbst. Haug blendet nicht nur die individuelle oder kooperative, objektbezogen Eigenarbeit (zum Beispiel Spielplatzbau oder Fahrradreparatur) in ihrem Konzept aus. Sie legt auch Wert darauf, dass die Menschen „in jedem der vier Bereiche sich betätigen“ (Haug 2011: 50) möge. Propagiert wird von ihr das Ideal, dass jede*r jeweils vier Stunden am Tag in jedem Bereich tätig sein solle (ebenda). Beides steht im krassen Gegensatz zu Kunstreichs Aussage, das alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen der Menschen gleichwertig und gleich sinnvoll sind. Denn wenn dem so wäre, gäbe es keinen Grund zu verlangen, dass Menschen in verschiedenen kategorial abgegrenzten Arbeits-/Tätigkeitsbereichen aktiv sein sollen: „die Idee der Garantierten Grundarbeitszeit geht davon aus, dass jeder Mensch in allen vier Bereichen ihre oder seine spezifische Mischung […] herstellt. Jeder Mensch entscheidet selbst, welche Art von Arbeit er oder sie in den Mittelpunkt stellt.“ (Kunstreich 2023: 40) Zwischen einem universellen Ansatz, dass alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen der menschlichen Individuen gleichwertig und gleich sinnvoll sind, und einem Ansatz, der auf vier bestimmte, wenn auch individuell unterschiedlich ausgefüllte Arbeits- und Tätigkeitsbereiche orientiert, besteht ein Widerspruch. Schauen wir uns dazu das Grundarbeitszeitkonzept genauer an: „Um die Gleichwertigkeit der Tätigkeiten auch materiell deutlich zu machen, bemisst sich die Grundarbeitszeit nicht in Stunden, sondern an der Geldsumme, die einem ‚living wage‘ entspricht, also einem Lohn, der das abdeckt, was zum ‚Betrieb des eigenen Lebens‘ notwendig ist.“ (Kunstreich 2023: 40 f.) Diese etwas kryptische Beschreibung einer „Zeit, die sich an einer Geldsumme bemisst“, bedeutet, dass es einen (Über)Lebens-Lohn in einer „Garantierten Grundarbeitszeit“ geben soll, der die individuelle Konsumtion (sic!) notwendiger Lebensmittel absichern soll – aber a) nur, wenn diese Grundarbeitszeit geleistet wird – ansonsten (oder nach der Grundarbeitszeit) verhungert man oder muss sich in der Lohnarbeit-Kapital-Sphäre bzw. Erwerbsarbeit-Staatssphäre verdingen. Ein Grundeinkommen ist ja nicht im Konzept vorgesehen. Die (kooperierenden) Individuen sind b) dabei auch nicht frei, dem universellen Grundansatz gemäß ihrer – wie auch immer gearteten – Arbeit nachzugehen. Beides wird offensichtlich mit der notwendigen behördlichen Beantragung des aus dem „Kommunalen Ressourcen Fonds“ entnommenen „living wages“: „Jede Bewohnerin und jeder Bewohner, die oder der sich für eine GGA [Grundarbeitszeit, R. B.] entscheidet, bekommt nun auf Antrag einen ‚living wage‘ zugesprochen. Mit dem er oder sie Lebensmittel kaufen können, die nur in Warenform zu haben sind. […] Beim Stellen des Antrags wird jede und jeder ausführlich darüber informiert, welche Projekte, Initiativen und künstlerische Angebote es gibt, an denen sie mitwirken können. Wenn jemand erst mal eine Auszeit für sich selber haben muss, ist das natürlich auch in Ordnung.“ (ebenda: 42) Damit ist der universelle Grundsatz, dass alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen gleichwertig und gleich sinnvoll seien, eine wertlose Aussage, ebenso die des „garantierten Rechtsanspruchs“ (ebenda: 41) auf den (Über)Lebens-Lohn. Es sein den mit Garantie wäre gemeint, garantiert nur bei Ableisten einer Grundarbeitszeit als Gegenleistung, ansonsten verhungern. Den universellen Grundsatz ernst genommen, bräuchte es keinen Antrag auf einen „living wage“ und einen behördlichen Zuspruch dazu. Es bräuchte auch keine Auszeit, die irgendjemand oder eine Behörde in Ordnung finden müsste. Denn alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen der Menschen sind gleichwertig und gleich sinnvoll, ob, wann, wie lange und wo auch immer die jeweiligen Tätigkeiten und Lebensäußerungen stattfinden; ob in einer Auszeit (oder macht der Mensch da nichts?) oder jenseits dieser, im Kindes-, Erwachsenen- oder Rentner*innenalter, in einer anderen Stadt oder gar einem anderen Land, eine Tätigkeit ein ganzes Leben lang oder Tätigkeiten, die aufeinanderfolgend jeweils nur 5 Minuten dauern. Die Gleichwertigkeit aller menschlichen Tätigkeiten und Lebensäußerungen macht eine Beantragungsbehörde gegenstandslos: Es sei denn, man will – anders als mit dem Grundeinkommen – den Menschen vorschreiben, ob, was, wann, wo und wie sie etwas zu tun haben, und/oder man will kontrollieren, ob was sie wann, wo und wie tun. Das ist Paternalismus.
Es ist a) die Bezeichnung „Lohn“ oder „living wage“, der „tariflich abgesichert ist“, es ist b) die notwendige Antragsstellung und Genehmigung, ebenso die Behörde, die den „Kommunalen Ressourcen Fonds“ verwaltet und sich „zur Hälfte aus Delegierten von Projekten und Betrieben und zur anderen Hälfte von Bewohnerinnen und Bewohner“ (ebenda: 42), zusammensetzt, und es ist c) die bei der Antragstellung ausführlich erfolgende Information über Projekte, an den Antragstellende mitwirken können – die stutzig und letztlich deutlich machen, in welcher politischen Tradition der Ansatz von Kunstreich steht. Diese politisch links wie rechts verortete Tradition hat zwei Spielarten: Die eine setzt auf den Grundsatz des direkten ökonomischen Arbeitszwangs, auf den Grundsatz „ohne Arbeit kein Essen“, „kein Essen ohne eine nachweislich erbrachte und von wem auch immer als nützlich und sinnvoll erachtete Arbeit oder Gegenleistung“. Diese Spielart hat sich in drastischer Weise in den Ein-Euro-Jobs für Erwerbslose manifestiert, die sich unter bestimmten Umständen eine Tätigkeit im Rahmen vorgegebener „gemeinnütziger“ Projekte sogar aussuchen konnten – aber bei Nichtannahme dieses Jobs den Anspruch auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende verloren. Die andere Spielart ist freundlicher verpackt, zum Beispiel in Form des Konzepts der Bürgerarbeit für Bürgergeld von Ulrich Beck. Dieses wurde im Rahmen der Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen vor rund 30 Jahren diskutiert. Dieser „freiwillige“ kommunale Arbeitsdienst vor dem Hintergrund einer sperrzeit- und sanktionsbewehrten Absicherung für Erwerbslose weist Ähnlichkeiten mit dem Konzept der kommunal verwalteten „Grundarbeitszeit“ von Kunstreich auf. [2]
Meine grundsätzliche Kritik an dem Konzept der „Grundarbeitszeit“ von Kunstreich kann wie folgt zusammengefasst werden:
1. Es handelt sich um ein Konzept „Arbeit gegen Lohn“ bzw. „Existenzsicherung nur bei Arbeitsleistung“, ein Konzept des ökonomischen Arbeitszwangs. Der individuelle Arbeitszwang wird durch Kunstreich über die kapitalistische Lohnarbeit und über die sozialstaatswirtschaftliche Erwerbsarbeit bis in die Lebenswelt hinein verlängert, in den Bereich bisher unbezahlter Aktivitäten und sozialer Beziehungen, auch ins Private der Familien- und Sorgearbeit.
2. Das Konzept „Grundarbeitszeit“ ist kompatibel mit Ansätzen eines vergüteten Arbeitsdienstes für alle oder speziell für Erwerbslose, Jugendliche usw. Da ein Grundeinkommen von Kunstreich abgelehnt wird, bleibt zur Existenzsicherung der ökonomische Zwang zur traditionellen Lohn-/Erwerbsarbeit oder zum kommunalen Grundarbeitsdienst als Gegenleistung. Damit wird jegliche „Freiwilligkeit“ der darin ausgeübten Tätigkeiten, des darin eingebundenen gemeinwohlbezogenen Engagements und der darin eingegangenen sozialen Beziehung dem notwendigen Erwerbszweck unterworfen.
Kritik des Konzepts der „Garantierten Grundarbeitszeit“Ansatz weist auch über den staatsfixierten Ansatz der Sozialen Infrastruktur hinaus – in Richtung einer konsequent entkommodifizierten (Re)Produktion der Individuen und des Gemeinwesens jenseits von Markt und Staat.
Literatur
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AG links-netz 2013a: Um was es geht, in: Hirsch, J./Brüchert, O./Krampe, E.-M. u. a./AG links-netz (Hg.): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: 7-19
AG links-netz 2013b: Sozialpolitik als Bereitstellung einer Sozialen Infrastruktur, in: Hirsch, J./Brüchert, O./Krampe, E.-M. u. a./AG links-netz (Hg.): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: 50-74
AG links-netz 2013c: Wohnen als Infrastruktur und warum es kompliziert ist, das zu denken, in: Hirsch, J./Brüchert, O./Krampe, E.-M. u. a.; AG links-netz (Hg.): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg: 135-143
Bareis, E./Cremer-Schäfer, H. 2013: Haushalt und Soziale Infrastruktur: komplizierte Vermittlungen, in: Hirsch, J./Brüchert, O./Krampe, E.-M. u. a./AG links-netz (Hg.): Sozialpolitik anders gedacht: Soziale Infrastruktur. Hamburg, 161-184
Blaschke, R. 2025a: Grundeinkommen und Soziale Infrastruktur/Universal Basic Services
– Ausgewählte Positionen und Zugänge, Vortrag auf dem Fachtag „Bedingungsloses Grundeinkommen und Soziale Infrastruktur?! Anschlussstellen und Widersprüche auf dem Weg in eine nachhaltige Gesellschaft“ an der Fachhochschule Dortmund am 24. Januar 2025. Online unter: [https://www.ronald-blaschke.de/wp-content/uploads/2025/01/25-01-24-FH-Dortmund-Grundeinkommen-und-Soziale-Infrastruktur-final.pdf] Letzter Zugriff: 2. Februar 2025
Blaschke, R. 2025b: Literatur und Quellen zum Vortrag „Grundeinkommen und Soziale Infrastruktur/Universal Basic Services – Ausgewählte Positionen und Zugänge“ am 24. Januar 2025 an der Fachhochschule Dortmund. Online unter: [https://www.ronald-blaschke.de/wp-content/uploads/2025/01/25-01-Literatur-Quellen-zum-Vortrag-FH-Dortmund.pdf] Letzter Zugriff: 2. Februar 2025
Blaschke, R. 2024a: Modelle für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Online unter: [https://www.grundeinkommen.de/wp-content/uploads/2024/06/24-02-Modelluebersicht-Grundeinkommen.pdf] Letzter Zugriff: 2. Februar 2025
Blaschke, R. 2018: Umverteilen statt Vermehren. Online unter: [https://www.grundeinkommen.de/03/10/2018/umverteilen-statt-vermehren.html] Letzter Zugriff: 2. Februar 2025
Blaschke, R. 2017: Grundeinkommen und Grundsicherungen – Modelle und Ansätze in Deutschland. Eine Auswahl. Online unter: [https://www.grundeinkommen.de/wp-content/uploads/2017/12/17-10-Übersicht-Modelle.pdf] Letzter Zugriff. 2. Februar 2025
Blaschke, R. 2010: Denk’mal Grundeinkommen! Geschichte, Fragen und Antworten einer Idee, in: Blaschke, R./Otto, A./Schepers, N. (Hg.): Grundeinkommen. Geschichte – Modelle – Debatten. Berlin: 9-292
Büchele, H./Wohlgenannt, L.; Katholische Sozialakademie Österreichs (Hg.) 1985: Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf dem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft. Wien
Fachhochschule Frankfurt am Main (Hg.) 1983: 1. Bundeskongreß der Arbeitslosen. Protokolle, Presse, Fotos, Initiativen … Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik. Band 6. Frankfurt am Main
Gorz, A. 2000: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt am Main
Haug, F. 2011: Die Vier-in-Einem-Perspektive und das Bedingungslose Grundeinkommen. Notizen zum Diskussionsprozess, in: Allex, A./Rein, H. (Hg.): „Den Maschinen die Arbeit … uns das Vergnügen“. Beiträge zum Existenzgeld. Neu-Ulm: 49-62
Kunstreich, T. 2023: Kooperation statt Alimentierung. Garantierte Grundarbeitszeit (GGA) statt bedingungslosem Grundeinkommen, in: Widersprüche, Heft 170: 31-43
Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenhalt – Österreich/ Netzwerk Grundeinkommen – Deutschland 2006 (Hg.): Grundeinkommen – In Freiheit tätig sein. Beiträge des ersten deutschsprachigen Grundeinkommenskongresses, Berlin
Opielka, M. 1984: Das garantierte Mindesteinkommen – ein sozialstaatliches Paradoxon? Warum ein garantiertes Einkommen den Sozialstaat zerstören, retten oder aufheben kann, in: Schmid, T. (Hg.): Befreiung von falscher Arbeit. Thesen zum garantierten Mindesteinkommen. Berlin: 99-120
Opielka, M./ Vobruba, G. 1986 (Hg.): Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung. Frankfurt am Main
Redaktion Widersprüche 1984: Mindesteinkommen als soziale Garantien. Online unter: [https://www.widersprueche-zeitschrift.de/de/artikel/mindesteinkommen-als-soziale-garantien] Letzter Zugriff: 2. Februar 2025
Spehr, C. 2023: Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation (Reihe: Texte/Rosa-Luxemburg-Stiftung; Band 9), Berlin
Wohlgenannt, L. 1990: Von der Notwendigkeit und Möglichkeit der Einführung eines Grundeinkommens, in: Wohlgenannt, L./Büchele, H.: Den ökosozialen Umbau beginnen: Grundeinkommen. Wien, Zürich: 15-156
[1] Mit einer grundsätzlichen Ausnahme bzgl. Tätigkeiten und Lebensäußerungen, die Menschen- und Grundrechte missachten.
[2] Eine umfangreiche Kritik des Bürgerarbeitskonzepts und ähnlicher Vorschläge wurde von André Gorz ausgearbeitet (vgl. Gorz 2000: 124 ff.).