Joachim Hirsch
Als der damalige Bundeskanzler Scholz anlässlich des Ukrainekriegs eine „Zeitenwende“ ausrief, gab er das Startsignal für eine tiefgreifende Umgestaltung der Gesellschaft. Sie soll in allen ihren Bereichen „kriegstüchtig“ gemacht werden, um einem drohenden Angriff Russlands begegnen zu können. Mittlerweile wurde, wiederum unter Beteiligung der SPD, ein viele Milliarden schwerer Schuldenberg beschlossen – in Orwellscher Sprache „Sondervermögen“ genannt – mit dem die Aufrüstung finanziert werden soll. Dazu kommt ein ebenso großes Investitionsprogramm, das in Teilen ebenfalls der „Kriegsertüchtigung“ dient. Das weckt gewisse Erinnerungen. Nicht nur, dass es Deutschland war, das Russland im vergangenen Jahrhundert zweimal militärisch angegriffen hat, sondern auch wie die SPD mit ihrer Bewilligung der Kriegskredite 1914 vor dem deutschen Imperialismus kapitulierte. Was die Bedrohung durch Russland angeht, so wird in der öffentlichen Darstellung systematisch ausgeblendet, dass der Angriff auf die Ukraine zumindest auch mit der absprachewidrigen Osterweiterung der NATO zu tun hat. Die geplante Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis hätte dieses endgültig an die russische Grenze vorgeschoben. Der Krieg ist also Bestandteil eines geostrategischen Konflikts, bei dem sich die NATO, also die USA und Europa und Russland mit dem es unterstützenden China gegenüberstehen. Über alle diese Zusammenhänge wird hierzulande geschwiegen und die Bedrohung wird auf die Machenschaften eines wild gewordenen Diktators reduziert. So kann argumentiert werden, dass Aufrüstung der Friedenssicherung dient. Ob Russland überhaupt in der Lage wäre, die NATO anzugreifen, lässt sich angesichts seiner offenbar großen militärischen Schwierigkeiten allein schon in der Ukraine bezweifeln. Also kann vermutet werden, dass der Verweis auf die russische Bedrohung dazu dient, ein Aufrüstungsprogramm zu legitimieren, das ganz anderen Zwecken dient: der Stärkung der militärischen Position Europas bei den Auseinandersetzungen um die globale Machtstruktur nach dem Ende der US-Hegemonie. Mit der Mobilisierung von Ängsten kann man dies eben leichter legitimieren. Und das ist nicht nur Regierungspropaganda, sondern durchzieht auch die Medienlandschaft, ihre „Qualitäts“-Bestandteile, etwa die Süddeutsche Zeitung eingeschlossen. „Zivilgesellschaft“ und politisch Herrschende sind sich einig. Über die Notwendigkeit einer Hochrüstung besteht ein unhinterfragter Konsens. Und so ist es kein Wunder, dass kürzlich sogar die NATO mit einem Friedenspreis bedacht wurde.
Es ist daher zu begrüßen, dass der Promedia-Verlag ein Buch veröffentlicht, das sich kritisch mit den Hintergründen, Dimensionen und Methoden der angelaufenen Militarisierung der Gesellschaft auseinandersetzt. Es handelt sich dabei um Beiträge, die auf einem im April 2025 abgehaltenen Kongress der – linken – Neuen Gesellschaft für Psychologie gehalten wurden. Sie reichen von wissenschaftlichen Analysen bis zu journalistischen Texten und Stellungnahmen von Aktivist*innen.
Zu den Schwerpunkten gehört der Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg, der darin besteht, dass diese Gesellschaft auf Grund ihrer inneren Struktur und Dynamik immer, auch territorial expansiv ist, was öfter mit militärischen Mitteln geschieht. Interessant sind die Hinweise auf die Kriegsvorbereitungen im Gesundheitswesen ebenso wie die Untersuchungen zu den und Methoden der Legitimationsbeschaffung für die Rüstungspolitik, verbunden mit der Frage, weshalb es trotz eines verbreiteten Unbehagens in der Bevölkerung kaum aktiven Widerstand dagegen gibt. Dabei gilt ein besonderes Interesse dem Bildungssystem, dem mehrere Beiträge gewidmet sind. Eine in der Zukunft möglicherweise wichtige Rolle spielen dabei auch die als „Transhumanismus“ bezeichneten Methoden zur technologischen Steuerung des Bewusstseins und Verhaltens – bei denen übrigens wieder einmal Elon Musk eine besonders herausragende Rolle spielt.
Einige Beiträge sind allerdings recht problematisch. Dazu gehört die sich durchziehende Tendenz, die Schuld am Ukrainekrieg einseitig beim „Westen“ zu verorten, was zumindest überzeichnet ist und eine genauere Analyse des russischen Herrschaftsapparats vermissen lässt. Dies reicht bis zu einer völlig kritiklosen Glorifizierung der Sowjetunion und der DDR etwa durch Doris Pumphrey. Interessant sind die Hinweise, wie auch die Corona-Politik als Kriegsvorbereitung betrachtet werden kann, durch das Erzeugen von Staatsgläubigkeit, Gehorsam, Unterwerfung und Entsolidarisierung. Fragwürdig ist allerdings die in einigen Texten aufscheinende These, diese sei zu diesem Zwecke strategisch eingesetzt worden. Belege dafür gibt es nicht. Die Kritik an der Friedenbewegung und an der Linkspartei ist teilweise zutreffend, aber völlig pauschal und ohne genauere Berücksichtigung der Konflikte, die die neue Weltlage dort mit sich gebracht hat.
Einer ganzen Reihe von Beiträgen kann zumindest Undifferenziertheit und eine sehr einseitige Sichtweise entgegengehalten werden. Vielfach wären genaueres Hinsehen, die Berücksichtigung von Tatsachen und das Auflösen komplexer Zusammenhänge erforderlich gewesen. Wenn das nicht geschieht, fällt sich die Kritik selbst in den Rücken und kann leicht als unzutreffend oder abseitig gewertet werden. Gegen die Militarisierung der Gesellschaft lässt sich so kaum überzeugend kämpfen und man fragt sich, weshalb Verlag und Herausgeber*innen bei der Auswahl und Redaktion der Beiträge nicht mehr Sorgfalt und Selbstkritik haben walten lassen.
Bruder/Bruder-Bezzel/Lemke/Stahmer-Weinandy (Hg), Miltarisierung der Gesellschaft. Von der Glückssüchtigkit zur Kriegsbereitschaft. Promedia-Verlag Wien 2025, 264 Seiten.