Errol Babacan und Laura Höh
Israels militärische Reaktion auf die Angriffe der Hamas im Oktober 2023 hat in Deutschland erneut eine Diskussion ausgelöst, inwiefern Kritik an Israel antisemitisch ist. Während der Internationale Strafgerichtshof auf Antrag Südafrikas ein Verfahren wegen des Verdachts auf Verletzung der Genozid-Konvention durch das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen eröffnet hat, wird in Deutschland schon der Äußerung dieses Verdachts mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnet.[1] Der Blick wird damit von der systematischen Zerstörung des Gazastreifens und dem Vorwurf eines Genozids abgelenkt. Proteste gegen das israelische Vorgehen und die als Staatsraison deklarierte Unterstützung Israels durch Deutschland werden auf dieser Grundlage kriminalisiert und in die Nähe von Terrorismus und Islamismus gerückt.[2]
Im deutschsprachigen Raum hat sich in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie eine unter dem Etikett „antideutsch“ oder „ideologiekritisch“ bekannte Form der Antisemitismuskritik etabliert, die die Bekämpfung von Antisemitismus mit der unbedingten Solidarität mit Israel gleichsetzt. Als wesentliche Grundlage dieser Verknüpfung fungiert die auch durch die Erfahrung des Holocausts geprägte Auffassung, der zufolge das israelische Staatsprojekt einen unabdinglichen jüdischen Schutzraum darstelle. Israel wird darüber hinaus als universelles Emanzipationsprojekt begriffen, das sinnbildlich für die Moderne stehe und die Errungenschaften der Aufklärung verkörpere. Auf dieser Grundlage wird Solidarität mit dem israelischen Staat und dessen Politik eingefordert.
Legitimiert wird damit allerdings auch die Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung auf dem israelischen Staatsgebiet bzw. in den von Israel kontrollierten Gebieten. Mit dieser Legitimation geht eine rassistische Veranderung[3] von Palästinenser*innen einher, in der diese pauschal als regressive Gefahr in Erscheinung treten und die deshalb beherrscht und bekämpft werden müssen.
Gegenstand des vorliegenden Artikels ist, inwiefern die Veranderung in dieser Form von Antisemitismuskritik angelegt ist. Dazu zeichnen wir zuerst nach, wie die „ideologiekritische“ Argumentation aufgebaut ist. Anschließend wird die darin enthaltene Konstruktion des anti-palästinensischen Rassismus analysiert. Zur Bestimmung des rassistischen Gehalts greifen wir auf die in der kritischen Rassismusforschung etablierte Auffassung zurück, wonach Rassismus sein Objekt entlang von Dominanzverhältnissen konstruiert.
Antisemitismuskritik zwischen Determinismus und Voluntarismus
Die Bestimmung von Antisemitismus in der „antideutschen“ „Ideologiekritik“ setzt mit einem Strukturdeterminismus ein, der sukzessive in Voluntarismus übergeht. Im Folgenden zeigen wir zunächst diesen Zusammenhang unter Rekonstruktion der Antisemitismuskritik zweier Protagonisten auf, die charakteristische Argumente anführen.[4] Beide Autoren – Stephan Grigat und Samuel Salzborn – bilden nicht nur wichtige Bezugspunkte innerhalb der „antideutschen“ Strömung. Sie nehmen auch einflussreiche Positionen in der Gestaltung staatlicher Politik zur Bekämpfung von Antisemitismus ein: Grigat als Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus und Salzborn als Honorarprofessor sowie insbesondere in der Funktion des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus, aus der heraus er den erwähnten Protest gegen die israelische Politik mit der Entstehung „prä-terroristischer Strukturen“ in Verbindung setzte.[5]
Als Ursache von Antisemitismus bestimmt Grigat (2007) – unter Bezugnahme auf Moishe Postone (2005) – den Fetischcharakter der Warenform, der einen „ressentimenthaften Antikapitalismus“ hervorbringe. Anknüpfend an Postones Behauptung, Antisemitismus lasse sich aus dem Fetischismus bürgerlicher Ökonomie ableiten und sei analog zu diesem zu begreifen, wird Antisemitismus im Kern als Versuch bestimmt, vermeintlich abstrakte ökonomische Verhältnisse und Verkehrsformen zu konkretisieren, sprich die Verantwortung für die aus dem Kapitalismus hervorgehenden Probleme konkret in der Gestalt des Juden greifbar zu machen (kritisch dazu: Gallas 2004; Sommer 2014). Antisemitismus wird zugleich als „Unbegreifbares“ und konsequentester Ausdruck des „gesellschaftlichen Wahns“ (Grigat 2007: 273f.) aufgefasst, der aus der fetischistischen Verkennung der kapitalistischen Wirklichkeit entstehe. Diese Verkennung sei keine einfache Tatsache des Bewusstseins, sondern produziere selbst Bewusstsein. Dies treffe gleichermaßen auf den Antisemitismus zu, der somit sowohl Folge als auch Ursache falschen Bewusstseins sei.[6] Antisemitismus wird dementsprechend nicht historisch-materialistisch in seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermittlung begriffen und erklärt, sondern allein aus der Fetischform abgeleitet.[7]
Die Ausgangsthese, dass gesellschaftliches Bewusstsein durch den Fetischcharakter der Warenform determiniert sei, wird also auf den Antisemitismus übertragen, der so zur unausweichlichen Folge der Warenform wird. „Die den Verwertungsimperativen des Kapitals und den Herrschaftsimperativen des Staates gehorchende Gesellschaft bringt den Antisemitismus als wahnhaften Versuch der Konkretisierung des Abstrakten immer wieder hervor“ (Grigat 2007: 331), so die Quintessenz. Antisemitismus wird dementsprechend als „Welterklärung“, als „Basisideologie“ und „Grundzug der bürgerlichen Gesellschaft“ (Grigat 2007: 289f., 312) oder von Salzborn als „Teil der objektiven Struktur der Vergesellschaftung in der Moderne“ (Salzborn 2020: 20) und „eine die ganze Person erfassende Totalität“ (Salzborn 2010: 326) bezeichnet.
Theoretischer Ausgangspunkt ist also die Behauptung einer bewusstseinsbildenden Rolle der Warenform, die zum Ausgangspunkt für die Erklärung der gesamten Gesellschaft genommen wird. Da falsches Bewusstsein als notwendige Folge des Fetischcharakters der Warenform bestimmt wird, wird eine hermetische Totalität postuliert, in der Bewusstsein vorgegeben ist. Zugleich aber wird eingeräumt, dass diese Geschlossenheit nicht zutreffen kann, wofür schon die Tatsache steht, dass der Fetisch als solcher erkannt und kritisiert werden kann.
Eine Erklärung, wie die Vermittlung von gesellschaftlicher Struktur (Warenform) und Bewusstsein (Psyche oder Persönlichkeit) funktioniert, bleibt diese Behauptung schuldig. Indes wird die Ableitung des Antisemitismus aus dem Fetischismus wieder zurückgenommen, wenn es heißt, der Fetisch könne auch einen anderen Inhalt annehmen und der innere Zusammenhang von Warenform und Antisemitismus sei nicht zwingend. Antisemitismus wird zugleich zur freien Entscheidung des Subjekts erklärt (Grigat 2007: 331, 350; s.a. Salzborn 2020: 20f.).
Damit treten zwei logische Widersprüche hervor: Erstens auf der erkenntnistheoretischen Ebene zwischen der ursächlichen Bestimmung von Antisemitismus als strukturell (fetischistisch) bedingter Totalität und der Möglichkeit zur Reflexion. Und zweitens auf der handlungs- oder bewusstseinstheoretischen Ebene zwischen der Determiniertheit und der freien Entscheidung des Individuums. Erkenntnistheoretisch muss die „Ideologiekritik“ von der postulierten Totalität wieder Abstand nehmen, da mit ihr sonst keine Kritik des Antisemitismus formuliert werden könnte. Handlungstheoretisch muss sie von der behaupteten Determiniertheit der Individuen wieder Abstand nehmen, da sonst keine Bekämpfung des Antisemitismus möglich wäre. Der Antisemitismus wäre einfach immer da und er wäre total.
In der Diskussion werden diese Widersprüche immer wieder dahingehend aufgelöst, dass die gesellschaftliche Bedingtheit des Antisemitismus negiert wird, wodurch dieser wie ein Naturzustand immer da zu sein scheint. Als Verkürzung zurückgewiesen wird von Grigat etwa der von Adorno und Horkheimer formulierte historisch-funktionale Erklärungsansatz für die Dynamiken des Antisemitismus, der ihn in Verbindung zur sozio-ökonomischen Stellung von Jüd*innen in prä-kapitalistischen Gesellschaftsformationen begreift und als Element einer Herrschaftsstrategie bestimmt, in der Jüd*innen zwecks Ablenkung von tatsächlicher Herrschaft gesteigerte Macht zugesprochen wird. Antisemitismus ist nach Grigat kein Element rationaler Strategien, keine an konkreten Zielen, an wirtschaftlichem oder politischem Nutzen orientierte und entsprechend kontrollierbare Ideologie. Antisemitismus könne nicht historisch-funktional begriffen werden, denn er habe zu „fast allen Zeiten“, in denen es das Judentum gab, bestanden (Grigat 2007: 278ff.; s.a. Salzborn 2010: 322). Gleichzeitig aber wird daran festgehalten, Antisemitismus kapitalismus-spezifisch als vergebliche Revolte gegen die vermeintlich abstrakte Seite des Kapitals zu bestimmen (Grigat 2007: 330f.). Antisemitismus sei in diesem Sinne Selbstzweck: „Die antisemitische Vernichtung war und ist für die Antisemit(inn)en stets genau Sinn und Zweck des Handelns, das in seinem barbarischen Konkretismuswahn nicht für etwas anderes steht – die antisemitische Tat verfolgt die Vernichtung ob keines anderen Zwecks als der Vernichtung selbst“, so Salzborn (2020: 51), der Antisemitismus auch als „triebbedingtes“ Interesse bezeichnet (2010: 327). Antisemitismus sei „letztlich eine Art zu denken und eine Art zu fühlen […]. Und er ist zugleich Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen.“ (2020: 212)
Derartige Annahmen mystifizieren den Antisemitismus und verselbstständigen ihn zu einer wesenhaften Eigenschaft „unfähiger“ Subjekte. Mit dem Argument, Antisemitismus sei nicht rational oder gesellschaftlich funktional und stattdessen Selbstzweck, wird die Bestimmung des Antisemitismus aus der Analyse der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse herausgelöst. Gegen die von Horkheimer und Adorno formulierte These einer funktionalen Vermittlung von Antisemitismus und Herrschaftsstrategien als Ablenkung von Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf eine Personengruppe wendet Grigat ein, dies setze voraus, dass Herrschende selbst frei von Antisemitismus sein sowie antisemitische Taten immer mit einem objektiv bestimmbaren Interesse der Handelnden zusammenhängen müssten. Ebenfalls mit Verweis auf Adorno und Horkheimer führt er hiergegen an, dass für die Nationalsozialisten Antisemitismus nicht funktional, sondern „Luxus“ gewesen sei (Grigat 2007: 275ff.). Eine solchermaßen instrumentalistisch verstandene Rationalität ist jedoch keine Voraussetzung für eine historisch-funktionale Argumentation, der zufolge Antisemitismus unter Bedingungen der Ausbeutung und Konkurrenz entsteht und zu deren Reproduktion beiträgt (vgl. Opratko 2019: 71ff.). Vielmehr ist einzuwenden, dass sich Antisemitismus auch im Nationalsozialismus als stabilisierendes Element von Herrschaft realisiert hat (Sommer 2014: 82ff.). Die analytische Herausforderung besteht darin, seine Vermittlung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen jeweils konkret zu bestimmen, anstatt ihn sukzessive zu einem von den Verhältnissen entkoppelten Rätsel in den Köpfen werden zu lassen, wie es in der „ideologiekritischen“ Argumentation geschieht.
Antisemitismus wird in diesem Verständnis zu einer selbstbezüglichen Denkform. Einmal in der Welt, scheint er sich durch fortwährenden Rückbezug auf sich selbst zu reproduzieren. Unterstrichen wird diese Selbstbezüglichkeit durch die Betonung von Unberechenbarkeit und Irrationalität in Verbindung mit einer identitären (essentialistischen) Konstruktion eines nationalen Charakters: „Bei aller Unwahrscheinlichkeit kann man nie ausschließen, daß ein Staat und seine Volksgemeinschaft (insbesondere die deutsche) unter Umständen auf internationale Kapitalverflechtungen und politische Verpflichtungen keine Rücksicht nehmen, wenn es ihnen darum geht, Juden umzubringen, um der Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung zu huldigen. Der irrationale Antisemitismus läßt sich nicht durch rationale ökonomische oder politische Argumente von seinen Verbrechen abhalten.“ (Grigat 2007: 293)
Israel als jüdischer Schutzraum
Der gleichen Logik, die Antisemitismus aus dem Fetischismus ableitet, folgt schließlich die Bestimmung von „Antizionismus als geopolitische Reproduktion des Antisemitismus“, der sich gegen den „kollektiven Juden“ Israel richte (Grigat 2007: 320). Auch der „Hass gegenüber Israel“ entspringe der Warenform (Grigat 2007: 329). Israel als jüdischer Staat sei die notwendige Reaktion auf den Antisemitismus. Die Parteilichkeit für diesen Staat sei für jedwede materialistische Kritik zwingend. Folgerichtig wird Zionismus als Bewegung zum Schutz aller Jüd*innen vor Vernichtung und der Staat Israel als Emanzipationsgewalt der Jüd*innen bestimmt, der sich als bewaffnetes Verteidigungskollektiv behaupte. Der postulierte Staatszweck zur Verhinderung der Vernichtung kulminiert in einem kategorischen Imperativ:
„Alles, was der israelische Staat in Ausübung seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist, als kollektiver Organisator widerstrebender Interessen, als Herrschafts- und Gewaltinstanz gegenüber seinen Untertanen, als Moderator der Ressentiments seiner Bürger und Repressionsapparat gegenüber den auf seinem Territorium lebenden Nicht-Bürgern, als Organisator der demokratischen Legitimation seiner Machtausübung und Ideologe des Allgemeinwohls tätigt, alles also, was dem Materialismus Anlass und Grund für Kritik liefert, ist in Israel auf diese Funktion [Verhinderung der Vernichtung, d.A.] rückbezogen, die außerhalb jeder Kritik steht und dem Materialismus Anlass und Grund für emphatische Parteilichkeit ist.“ (Grigat 2007: 334)
Wird Israel in dieser Form als jüdischer Schutzraum bestimmt, dann ist es zweitrangig, wie dieser politisch – von liberal-demokratisch bis faschistisch-theokratisch – gestaltet ist, da alles einer Funktion untergeordnet wird. Dass Israel ein jüdischer Staat zu sein habe, bedeutet in diesem Zusammenhang für alle Nicht-Juden auf dem Territorium dieses Staates, unabhängig davon, wie lange sie schon dort leben, dass sie keine gleichberechtigten Bürger sein können. Die Bestimmung von Antisemitismus als irrationale Gefahr macht in diesem Rahmen die Kontrolle des Nicht-Jüdischen notwendig, da Antisemitismus jederzeit, wie schon im Nationalsozialismus, als (Vernichtungs-)Wahn ausbrechen könnte. Solange es eine nicht-jüdische Bevölkerung gibt, wird diese demzufolge unterdrückt werden müssen. Doch selbst die vollständige Unterwerfung dieser Bevölkerung könnte die von ihr ausgehende potentielle Gefahr nicht bannen, da der antisemitische Fetischismus latent weiter bestehen würde. Ein gleichberechtigtes Zusammenleben wird dadurch unmöglich, die Vertreibung oder gar Vernichtung der nicht-jüdischen Bevölkerung ist in dieser Logik angelegt.
Der gleichen Logik zufolge ist Antizionismus, selbst wenn er von Jüd*innen vertreten wird, auch im Effekt gleichbedeutend mit Antisemitismus, da er die Abwehrkräfte des jüdischen Staats beeinträchtigt und diesen der Vernichtung aussetzt. Dementsprechend wird Zionismus von Grigat als notwendig falsches Bewusstsein von Jüd*innen bestimmt, das aber in diesem Fall auch ein richtiges Bewusstsein sei. Notwendig falsch sei der Zionismus, insofern er aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehe, die er zugleich ideologisch überdecke, wodurch sie als natürlicher Zustand erscheinen würden (vgl. Grigat 2007: 337). Für Jüd*innen sei dies aber zugleich richtiges Bewusstsein, da sie nationalistisch sein müssten, wenn sie überleben wollten. Die „Ideologiekritik“ rechtfertigt hier also falsches Bewusstsein als notwendig richtiges Bewusstsein.
Unter den genannten theoretischen Prämissen müsste sich überdies der fetischbedingte gesellschaftliche Wahn auch unter Jüd*innen und in der kapitalistisch verfassten israelischen Gesellschaft Bahn brechen können. Die Frage, gegen wen sich in diesem Fall die ‚irrationale Vernichtungswut‘ von Jüd*innen richten würde, wenn nicht gegen ‚den Juden‘, wird jedoch nicht gestellt.[8] Trotz anderslautender Behauptungen wird dem Fetisch einzig ein antisemitischer und gegen Jüd*innen gerichteter Inhalt zugewiesen. Die Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus erklärt den Antisemitismus indes zu einem Phänomen, das sich gegen bestimmte – zionistische – Jüd*innen richtet und dabei auch von Jüd*innen ausgehen kann. Die Bestimmung von Antisemitismus wird folglich von der Frage der Judenfeindschaft gelöst und an einer Haltung gegenüber dem zionistischen Israel festgemacht.
Infolgedessen erklärt Grigat alles, was er aus materialistischer Perspektive als kritikwürdig benennt, zu etwas Richtigem, wenn es um die Rechtfertigung des zionistischen Israels geht. Entgegen der ansonsten mit Radikalität vorgetragenen Staats-, Nationen- und Kapitalkritik behauptet er schließlich auch, dass Israel kapitalistisch sein müsse, da es sonst in einer Welt kapitalistischer Staaten nicht bestehen könne (Grigat 2007: 336). Daraus folgt logisch, dass Israel nicht sozialistisch sein bzw. werden kann. Antikapitalistische Bewegungen innerhalb Israels werden auf diese Weise ebenso wie der Antizionismus zu einer existenziellen Gefahr für das Judentum. Gleiches gilt für Bewegungen, die universelle Gleichheit für alle Menschen auf dem Gebiet des historischen Palästinas einfordern, da sie dadurch das jüdische Primat in Frage stellen.
Konstruktion einer Legitimationslegende
Mit der vermeintlichen Bedingtheit von Antisemitismus durch den Fetisch wird die Totalität der Bedrohung begründet. Da Antisemitismus nicht mit Mitteln des Verstandes erfasst werden könne, könne ihm auch nicht mit solchen begegnet werden. Sozio-historische Bedingtheiten werden negiert, Antisemitismus wird aus den gesellschaftlichen Verhältnissen herausgelöst und schließlich auf sich selbst zurückgeführt. Das Jüdische wird damit selbst zum Referenzpunkt der Antisemitismustheorie: Weil es Jüd*innen gibt, scheint es Antisemitismus zu geben. Die Verknüpfung des Antisemitismus mit dem Warenfetisch und die sukzessive Verselbständigung als Denkform mündet in dem Schluss, dass nur eine jüdisch und kapitalistisch verfasste Suprematie den notwendigen Schutz gegen die latente Gefahr der Vernichtung bietet. Zugleich bringt das zionistische Israel der „ideologiekritischen“ Argumentation zufolge selbst Antisemitismus hervor, indem es wie oben zitiert die „Verwertungsimperative des Kapitals und die Herrschaftsimperative des Staates“ durchsetzen müsse, die als Quelle des Antisemitismus bestimmt wurden.
Vor diesem Hintergrund kann gefragt werden, warum die genannten logischen Widersprüche nicht zu einer kritischen Revision führen. Die Totalität des Antisemitismus und die entsprechende Determiniertheit des Subjekts durch den Fetisch dienen der Begründung eines irrationalen und unberechenbaren Charakters des Antisemitismus. Beide Behauptungen werden relativiert, da sonst keine Kritik und Bekämpfung des Antisemitismus möglich wäre. Nichtsdestotrotz werden die theoretischen Prämissen nicht revidiert. Zwei ineinandergreifende Funktionen der Theorie unterliegen diesem Umstand. Zum einen können die Prämissen weiterhin gegen historisch-funktionale Erklärungsansätze des Antisemitismus in Stellung gebracht werden. Zum anderen erfüllen sie die Funktion, Israel als kapitalistischen und jüdischen (zionistischen) Staat zu rechtfertigen, der prinzipiell gegen alles verteidigt werden muss, das diesen Charakter des Staates herausfordert.
Unter Bezugnahme auf marxistische Theorie wird so eine Legitimation für eine kapitalistisch verfasste jüdische Suprematie konstruiert, in die Unterdrückung, Vertreibung und Enteignung eingeschrieben sind. Insofern kann diese Antisemitismuskritik als eine Legitimationslegende begriffen werden, die die reale Diskriminierung, Vertreibung und Tötung von Palästinenser*innen als Abwendung einer totalen Gefahr ‚rational‘ zu erklären sucht. Sie rechtfertigt die sukzessive Ausweitung der israelischen Kontrolle über das gesamte Territorium und die lebenswichtigen Ressourcen des historischen Palästinas (vgl. Pappé 2009), die mit der Verabschiedung des Nationalitätengesetzes im Jahr 2018, wonach die nationale Selbstbestimmung in Israel „einzig für das jüdische Volk“ gilt, auch formell festgeschrieben wurde (vgl. Asseburg 2021; HRW 2021).
Der Rassismus in der „antideutschen“ Antisemitismuskritik
Durch die Herauslösung aus den gesellschaftlichen Verhältnissen wird Antisemitismus essentialisiert. Er wird in einer bestimmten psychischen Disposition verortet, die das Denken und Fühlen der Individuen bestimme. Im Folgenden skizzieren wir anhand von Schriften Salzborns, wie diese Essentialisierung mit einer Kulturalisierung verknüpft wird und sich in der Form eines pro-jüdischen und spiegelbildlich anti-palästinensischen Rassismus ausdrückt, der mit einer Rhetorik des Kulturkampfes verbunden wird.
Salzborns Parteinahme für Israel ist gekennzeichnet durch die Gegenüberstellung einer im ‚Juden‘ verkörperten fortschrittlichen Kultur und einer im ‚Palästinenser‘ verkörperten regressiven Kultur. Israel beschreibt Salzborn durchgängig als einen „Staat der Aufklärung, ein an Freiheit und Gleichheit orientiertes politisches System, das die demokratische Kontroverse hoch achtet und in dem Minderheitenrechte wie in kaum einer anderen Demokratie weltweit etabliert und realisiert“ seien (Salzborn 2020: 143). In Israel dürfe „der Mensch Individuum und Subjekt sein“ und könne „in Freiheit und Gleichheit leben“ (Salzborn 2020: 160). Diesem Staat stellt er palästinensische Organisationen gegenüber, die „die individuellen Freiheits- und Menschenrechte miss- und verachten und stattdessen ein totalitäres System einer islamistischen umma installieren möchten. […] Die palästinensischen Bewegungen hatten von Anfang an die Vernichtung Israels als zentrales Ziel […]. Der Kern ihrer Politik ist Antisemitismus.“ (Salzborn 2020: 154f.; s.a. Grigat 2007: 349) Menschen setzten sich weltweit für das „Existenzrecht Israels“ gegen den „palästinensischen Terrorismus“ ein, „weil sie dies aus rationalen Gründen der Überzeugung für eine liberale und aufgeklärte Welt oder in der verstandesmäßig erlangten Auffassung tun, dass ein demokratisches Staatswesen besser ist als ein autokratisches oder ein totalitäres (zwischen diesen Polen schwankt ja de facto die Wahlmöglichkeit, wenn man Fatah und Hamas als ‚politisch‘ unterschiedliche Optionen begreift)“ (Salzborn 2020: 159f.).
Mit der Idealisierung Israels als eine der fortschrittlichsten Demokratien der Welt wird jede gegenläufige Position als unvernünftig markiert. Ausgeschlossen wird, dass es auf historischem wie aktuellem Unrecht beruhende rationale Gründe für Protest und Widerstand geben könnte. Entsprechend leugnet Salzborn auch die Nakba – also die im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 erfolgte Vertreibung von Palästinenser*innen aus ihren Dörfern und Städten – ebenso konsequent wie das diskriminierende Staatsbürgerrecht und alle durch Israel begangenen Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts (vgl. Salzborn 2020: 150ff.).
Die rassistische Charakterisierung palästinensischer Bewegungen geschieht dabei zum einen über die ihnen pauschal unterstellte regressive politische Ausrichtung, die als islamistisch markiert wird. Diese Homogenisierung unterschlägt, dass palästinensische Organisationen wie die PLO säkular ausgerichtet sind und auch christliche Palästinenser*innen der Bewegung angehören. Zum anderen erfolgt die rassistische Charakterisierung mit der impliziten Zuschreibung, dass Palästinenser*innen nicht in der Lage seien, rational zu denken, indem behauptet wird, dass jeder „verstandesmäßig“ ausgestattete Mensch zu dem Schluss kommen müsse, dass Israel als ein „demokratisches Staatswesen besser“ sei als jedes palästinensische Projekt. Wer dies nicht erkennt und sich nicht auf der Seite Israels positioniert, verfügt demzufolge über keinen Verstand und entspricht damit dem von Salzborn gezeichneten antisemitischen Subjekt, das sich durch die Verachtung von Verstand, Rationalität und Intellektualität auszeichne, die es mit „dem“ Juden verbinde: „Gegen eine weltoffene Rationalität stellt der/die Antisemit/in seine/ihre völkische Emotionalität, nicht der Verstand zählt, sondern das zum Affekt degradierte Gefühl.“ (Salzborn 2020: 159) Salzborn konstruiert eine abstrakte Figur des Antisemiten, der Israel aufgrund dessen Verkörperung von Moderne und Aufklärung hasse. Die Verknüpfung von Antisemitismus mit den Palästinenser*innen wird dabei auch assoziativ hergestellt, da beide in der Darstellung immer wieder durch die gleichen Attribute gekennzeichnet werden.
Der politische Konflikt wird so zu einem zwischen einer vernunftbegabten und damit demokratisch-liberalen Kultur und einer affektgesteuerten und dadurch autoritären Kultur umgedeutet. Er wird damit entpolitisiert und enthistorisiert. Diese Entpolitisierung durch Verlagerung in die Kultur wiederholt sich auf verschiedenen Ebenen. So heißt es etwa, Israel sei „ungewollt der Beweis dafür, dass das ökonomische Erbe des Kolonialismus und die damit verbundene abhängige und defizitäre Ökonomie aufgrund einer liberalen, demokratischen und universalistischen Haltung zur Welt in einer pluralistischen und streitbaren Gesellschaft auch überwunden werden kann – und das ein manifester Grund für die Fortsetzung des postkolonialen Elends eben auch darin besteht, es, wie im palästinensischen Fall, vorsätzlich manifestieren zu wollen.“ (Salzborn 2020: 106) Israel ist es demzufolge aufgrund einer kulturellen Einstellung gelungen, sich erfolgreich zu entwickeln, während Palästinenser*innen ihr Elend selbst herbeigeführt hätten. Die ökonomische Entwicklung Israels wird nicht auch aus dessen Beziehungen zu Staaten des kapitalistischen Westens, sondern zu einer Einstellungsfrage erklärt. Die nachhaltige Zerstörung der Lebensgrundlagen der palästinensischen Bevölkerung inklusive der Kontrolle über die Wasserquellen und Vernichtung landwirtschaftlicher Bestände im Zuge der israelischen Siedlungspolitik sowie die gezielte Verhinderung wirtschaftlicher Entwicklung (Pappé 2009: 334; Asseburg 90: 140) verschwindet hinter kulturalistischen Zuschreibungen und einer Apologie liberaler Werte.
Die Idealisierung Israels wird schließlich auf das Judentum als Quelle der Emanzipation ausgeweitet. So stelle die hebräische Bibel mit dem Vertragsschluss zwischen Gott und den Israeliten den modernen, auf Freiheit und Vernunft begründeten Vertrag ins Zentrum, der es ermögliche, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Die jüdische Ethik des Tikun Olam („Reparatur der Welt“) stelle zudem die notwendigen Werkzeuge bereit, um Emanzipation im liberalen Sinne zu erlangen (Salzborn 2020: 220). Dem Judentum wird damit ein zeitloser liberaler Kern zugeschrieben, der die Basis für die Entwicklung des mündigen Menschen darstellen soll, der sich aus freien Stücken entscheidet und den Fortschritt in sich trägt. Salzborn affirmiert auf diese Weise die von ihm gezeichnete antisemitische Figur des Juden als (verhasstem) Sinnbild für Modernität, Liberalität und Aufklärung und macht sie zu einer positiven Figur, der das tatsächlich existierende Judentum entsprechen soll. Entgegen der realen politischen und kulturellen Differenzen innerhalb der jüdischen Bevölkerung sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels wird somit eine einheitliche und überhistorische Figur des Juden konstruiert.
Verknüpfung des Rassismus mit einem globalen Kulturkampf
Das Judentum wird also als rationale und homogene Kultur konstruiert, dabei nicht nur mit liberaler Emanzipation identifiziert, sondern zu deren Bedingung erhoben. Die gleiche Bedingungskonstellation wird schließlich auch für „den Westen“ behauptet: „Denn entgegen mancher postkolonialer Utopien kann eine solche Emanzipation nicht ohne und schon gar nicht gegen den Westen geschehen.“ (Salzborn 2020: 28) Schließlich wird der Kampf zwischen Emanzipation und Antisemitismus mit der Rhetorik eines globalen Kulturkampfs artikuliert. Die Anschläge des 11. September 2001 werden als Auftakt einer globalen antisemitischen Revolution gedeutet, durch die die „wichtigste Kostbarkeit der Zivilisation“, „das Leben des freien Menschen“, auf dem Spiel stehe (Salzborn 2020: 28f.). Am Werk sei eine „antisemitische Internationale“ (Salzborn 2020: 43, 55), deren Ziel „eine Revolution des irrationalen Glaubens ist, die sich gegen Rationalität, Vernunft und Verstand“ richte (Salzborn 2020: 51). Dieser „globale Antisemitismus“ würde im Erfolgsfall in der „Vernichtung […] des Menschseins selbst münden“ (Salzborn 2020: 55).
Durch die Konstruktion einer „antisemitischen Internationale“, die die Menschheit bedrohe, spiegelt Salzborn das Bild des wahnhaften Antisemiten, der sich die Welt nicht anders als durch eine jüdische Weltverschwörung erklären kann. Das Phänomen des Antisemitismus, das es aus den gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären gälte, wird so zum erklärenden Prinzip für die Gesellschaft und die ihr zugrundeliegenden Konflikte erhoben.[9] Konflikte erscheinen dann als solche zwischen der Menschheit und einem außerhalb der Menschheit stehenden Antisemiten.
Die Zuschreibung eines zeitlosen Wesens, das das Handeln, Denken und Fühlen der Personen bestimme, folgt der allgemeinen Logik des Rassismus, in der soziale Verhältnisse essentialisiert und aus den Subjekten selbst erklärt werden. Damit einher geht die Homogenisierung, die Differenzen zwischen Menschen mit einem vermeintlich gemeinsamen Merkmal (wie Religion) verschwinden lässt und sie stattdessen zu einer einheitlichen Gruppe zusammenfasst. Diese homogene Gruppe wird der eigenen Gruppe als grundsätzlich verschieden und unvereinbar gegenübergestellt. Schließlich wird durch eine Hierarchisierung die hergestellte Differenz geordnet und in eine Rangfolge gebracht, in der das Andere abgewertet und das Eigene aufgewertet wird. Es wird damit ein positives Selbstbild als Spiegelbild zum negativen Fremdbild erzeugt. Rassismus bringt dabei die von ihm Abgewerteten als abstrakte Figur hervor und konstruiert zugleich eine Gemeinschaft all jener, die sich über die Abgewerteten erheben können. Diese Konstruktion des „Anderen“ – die Veranderung – funktioniert auch unabhängig von (vermeintlich) biologischen Merkmalen wie Hautfarbe oder Genen und kommt ohne den Begriff der Rasse aus. Das rassistische Konzept bezieht sich vielmehr stets auf kulturelle bzw. religiöse Differenzkategorien, die als wesenhaft und determiniert aufgefasst werden.[10] Rassismus erfüllt so die Funktion, die soziale Lage der Veranderten aus den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften zu begründen sowie eine Vergemeinschaftung entgegen realer Differenzen und Gegensätze zu erzeugen, um Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse sowie -praxen abzusichern und/oder einen Machtzusammenhang zu reproduzieren (vgl. Opratko 2019).
Die unter Ausblendung der politischen Verhältnisse und der Geschichte erfolgende Darstellung von Palästinenser*innen als ein sich selbst viktimisierendes, antisemitisches Kollektiv regressiver Islamisten, die dem aufgeklärten und fortschrittlichen Israel gegenüberstehen, stellt eine solche über kulturelle Zuschreibungen operierende normative Ordnung her. Sie konstruiert die abstrakte Figur des Palästinensers als regressiven Antisemiten, der der spiegelbildlich konstruierten abstrakten Figur des Juden als emanzipiertem Menschen gegenübergestellt ist. In Ermangelung einer historischen und materialistischen Erklärung für die Entstehung von Antisemitismus wird dieser essentialisiert und im Wesen des Palästinensers als nicht vollständig entwickeltem, zurückgebliebenem Menschen verortet. „Die“ Palästinenser erscheinen somit als Mangelwesen, während „die“ Juden als vollwertig erscheinen, da sie die zur Vernunft entwickelte Menschheit verkörpern. Infolgedessen wird das Konstrukt einer palästinensischen einer jüdischen Kultur hierarchisch untergeordnet und mit dem übergreifenden Konstrukt einer zivilisatorisch überlegenen westlichen Kultur verknüpft.
In Bezug auf den Konflikt in Israel-Palästina lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass die rassistische Charakterisierung von Palästinenser*innen in dem Dominanzverhältnis angelegt ist, das aus der realen Durchsetzung eines Schutzraumes und der damit einhergehenden Privilegierung von Jüd*innen in Gestalt eines kapitalistisch-zionistischen Staatsprojekts hervorgeht. Die „antideutsche“ Antisemitismuskritik erfüllt in diesem Zusammenhang drei ineinandergreifende Funktionen: Sie legitimiert das kapitalistisch und zionistisch verfasste Projekt auf dem Gebiet des historischen Palästinas, sie kulturalisiert den daraus resultierenden Konflikt und bindet diesen argumentativ in einen globalen Kulturkampf ein, in dem ‚westliche‘ und israelische Interessen als normativ überlegen gefasst und miteinander verbunden werden. Dies fügt sich in die Auffassung ein, wonach der gegenwärtige Krieg ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei sei, sich also keine politischen Bewegungen, sondern Kulturen gegenüber stünden.[11] Angesichts der behaupteten existentiellen Bedrohung für die Menschheit, wird dann auch der „politische, gesellschaftliche, juristische und militärische Kampf“ (Salzborn 2020: 56) gefordert.
Hinzu kommt eine vierte Funktion, die sich auf die gesellschaftliche Linke bezieht. Unter der weitgehend geteilten Prämisse, dass ein exklusiver Schutzraum unbedingt notwendig sei, hat sich mit den „Antideutschen“ eine aus der Linken hervorgegangene Strömung entwickelt, die dem Ziel politischer wie materieller Gleichheit aller Menschen klar widerspricht. Durch den Bezug auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und die Kritische Theorie vermittelt sie ihren Verfechtern ein kritisches Selbstbild und integriert sie in das linke Milieu, während sie offensiv die Rechtfertigung von Ungleichheit und Repression betreibt. Indem sie Kapitalismus und Herrschaft von Entstehungsbedingungen des Antisemitismus zu notwendigen Mitteln zu dessen Bekämpfung uminterpretiert, verwandelt sie die Bekämpfung des Antisemitismus von einem gesellschaftskritischen in ein herrschaftsaffirmatives Anliegen, das bis ins äußerst rechte politische Lager anschlussfähig ist. Antisemitismuskritik wird so zu einer Herrschaftspraktik, deren Ziel es ist, die bestmöglichen Formen der „Prävention, Intervention und Repression“ (Salzborn 2024) zu entwickeln. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse konsequent ausgeblendet werden, kann diese Form der Antisemitismuskritik auch nicht als Herrschaftskritik bezeichnet werden.[12] Sie ist vielmehr eine „Ideologiekritik“ ohne Gesellschaftskritik – und wird damit selbst zu einer Ideologie der herrschenden Verhältnisse.
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitchrift Z • Nr. 141 • März 2025.
Literatur
Asseburg, Muriel (2021): Palästina und die Palästinenser: Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart, München.
Biskamp, Floris (2021): Ich sehe was, was Du nicht siehst. Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel (Zur Diskussion). In: PERIPHERIE 40(3 und 4), 426–40.
Fischer, Leandros (2024): ‘For Israel and Communism’? Making Sense of Germany’s Antideutsche. In: Historical Materialism 32(1), 156–93.
Gallas, Alexander (2004): Ökonomismus und politische Irrwege: Zur Kritik an Moishe Postones Variante marxistischer Antisemitismustheorie. In Wissenschaftlicher Beirat Attac (Hg.): Attac-Reader: Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac, Frankfurt, 48–53.
Grigat, Stephan (2007): Fetisch und Freiheit: Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg.
HRW (Human Rights Watch) (2021): A Threshold Crossed: Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution, New York, https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/israel_palestine0421_web_0.pdf
Levi, Neil (2023): Power, Politics, and Personification. In Historical Materialism 32(2 in print), https://www.historicalmaterialism.org/article/power-politics-and-personification/
Lütten, John (2015): Struktur, Handlung, Herrschaft – Zur Diskussion über Herrschaftsverhältnisse in der Kritik der politischen Ökonomie. In Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (104), 119–29.
Opratko, Benjamin (2019): Im Namen der Emanzipation: Antimuslimischer Rassismus in Österreich, Bielefeld.
Pappé, Ilan (2009): Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main.
Postone, Moishe (2005): Antisemitismus und Nationalsozialismus. In initiative kritische geschichtspolitik, Barbara H. Fried, J. Olaf Kleist, Steffen Küßner, Sebastian Wehrhahn, Gerhard Wolf (Hg.): Deutschland, die Linke und der Holocaust: Politische Interventionen, Freiburg.
Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Frankfurt am Main.
Salzborn, Samuel (2020): Globaler Antisemitismus. Weinheim.
Salzborn, Samuel (2024): Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung, Leipzig.
Sommer, Michael (2014): Falsch, aber wirkungsvoll. Moishe Postones „marxistische“ Theorie des Antisemitismus und der Bruch mit Antikapitalismus und Kapitalismuskritik. In Susann Witt-Stahl und Michael Sommer (Hg.): „Antifa heißt Luftangriff!“: Regression einer revolutionären Bewegung, Hamburg, 57–99.
[1] So beispielsweise durch den Antisemitismusbeauftragten des Bundes Felix Klein: https://www.antisemitismusbeauftragter.de/SharedDocs/pressemitteilungen/Webs/BAS/DE/2024/Berlinale.html
[2] Stellvertretend für eine Vielzahl derartiger Konstruktionen, die mit massiven Einschränkungen von Grundrechten einhergehen, sei die polizeilich erwirkte Auflösung des „Palästina-Kongresses“ in Berlin genannt. Das Verbot wurde von der Bundesinnenministerin mit den Worten: „Wir dulden keine islamistische Propaganda und keinen Hass gegen Jüdinnen und Juden“ gerechtfertigt. Von einer jüdischen Initiative angemeldet, waren auf dem Kongress indes „mehr jüdische Teilnehmer […], als etwa im Vorstand der ‚Deutsch-Israelischen Gesellschaft‘ zu finden sind“, so der Journalist Daniel Bax. Siehe https://taz.de/Palaestina-Kongress-in-Berlin-aufgeloest/!6004209/
[3] Veranderung ist eine Übertragung des Begriffs ‚Othering‘ ins Deutsche und wird in der Rassismustheorie verwendet, um den Prozess der Hervorbringung des ‚Anderen‘ in Abgrenzung zum ‚Eigenen‘ zu bezeichnen (Opratko 2019: 77f.).
[4] Auf eine Darstellung der Genese und Entwicklung der „antideutschen“ Strömung verzichten wir an dieser Stelle und verweisen stattdessen auf die ausführliche Besprechung von Leandros Fischer (2024).
[5] Siehe https://www.dw.com/de/gewalt-und-angst-berlins-juden-in-sorge/a-69150259
[6] Eine erläuternde Diskussion der Rolle und Bedeutung des Fetischs in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Auseinandersetzung mit Postones Argumentation findet sich bei Alexander Gallas (2004).
[7] Für eine kritische Diskussion der Argumentation Postones und dessen Marx-Rezeption, insbesondere der Unklarheit, wie genau die vermeintlich abstrakte Seite des Kapitalismus mit Jüd*innen verknüpft wird, siehe Gallas (2004), Levi (2023) und Sommer (2014). Siehe auch Lütten (2015), der diese Position, die den Fetischismus zum zentralen Ausgangspunkt für die Frage nach Struktur, Handlung und Herrschaft macht, in einem breiteren theoretischen Rahmen diskutiert.
[8] Diese Konsequenz findet sich in der Formel des jüdischen Selbsthasses wieder, die bei den hier besprochenen Autoren jedoch nicht thematisiert wird.
[9] Salzborn plädiert dementsprechend dafür, „eine Politische Theorie des Antisemitismus nicht nur als einen Aspekt bürgerlicher Vergesellschaftung zu begreifen, sondern als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft selbst.“ (Salzborn 2010: 317)
[10] Für eine ausführliche Begründung, weshalb Kultur eine eigenständige rassistische Kategorie darstellen kann, sofern das Objekt der Veranderung konstruktionsgleich mit dem naturwissenschaftlichen bzw. biologischen Rassenkonzept hervorgebracht wird, siehe Opratko (2019: 85ff.).
[11] So bspw. der israelische Premier Benjamin Netanjahu: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/netanyahu-fernsehen-frankreich-israel-100.html
[12] Der Einordnung dieser Theorie als eine herrschaftskritische Theorie, die aus der Erfahrung des Holocausts zu verstehen sei, wie sie beispielsweise von Floris Biskamp (2021) vorgenommen wird, muss daher widersprochen werden.