Wohnungskonzerne enteignen?

von Joachim Hirsch

Wohnen ist ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses dem kapitalistischen Markt überlassen wird. Richtig funktioniert hat das eigentlich nie. Entweder mussten, wie im 19. Jahrhundert, viele unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen oder es kam zu staatlichen, den Markt korrigierenden Eingriffen wie hierzulande in der Nachkriegszeit in Form des sozialen Wohnungsbaus. Dabei wurde privates Bauen unter der Bedingung öffentlich subventioniert, dass die Mieten eine Zeit lang niedriger gehalten wurden. Dem lag die Erwartung zugrunde, dass nach Behebung der Kriegsschäden der Wohnungsmarkt wieder „funktionieren“, d.h. allen eine Wohnung zu bezahlbaren Mieten zur Verfügung stellen würde. Deshalb wurden bereits seit den 80er Jahren die Mittel für den sozialen Wohnungsbau wieder drastisch zurückgefahren und die noch wirksamen  Mietbindungen laufen allmählich aus. Der „Markt“ sorgt indessen keineswegs für ein ausreichendes Angebot an bezahlbaren Wohnungen. Daher können sich viele eine angemessene Wohnung  nicht mehr leisten. Verschärft wurde dies dadurch, dass viele hochverschuldete Kommunen sich unter dem Druck neoliberaler Sparpolitik und der damit einhergehenden Steuersenkungen gezwungen sahen, ihre Wohnungsbestände zu verkaufen, und zwar an private Konzerne, deren einziges Ziel nicht Wohnungsversorgung, sondern Profitmaximierung ist. Dazu kam das völlige Fehlen einer Raumordnungspolitik, was die Entstehung  von Ballungsgebieten und die Entleerung ländlicher Räume zur Folge hatte. Und so ist jetzt “die Situation da“, um Konrad Adenauer zu zitieren. Sie ist in höchstem Maße unhaltbar und trägt die Züge einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

Die anhaltenden Demonstrationen und Proteste haben dafür gesorgt, dass das Problem nicht wie üblich folgenlos beredet wird, sondern konkrete Maßnahmen gefordert werden. Das Berliner Bürger*innenbegehren auf Enteignung eines der großen Wohnungskonzerne  ist nur Ausdruck einer inzwischen verbreiteten Diskussion und findet in der Bevölkerung eine beachtliche Unterstützung. Selbst der Grünen-Chef  Habeck hat Enteignungen – wenn auch höchst verklausuliert – als Möglichkeit angedeutet und dabei riskiert, von der CDU als künftig koalitionsunwürdig eingestuft zu werden. Ebenso wie die CDU ist auch die SPD strikt dagegen, von der FDP gar nicht zu reden. Von den Parteien wurden zwar Enteignungen strikt abgelehnt, aber nicht einmal angedeutet, wie die bestehende Misere nachhaltig behoben werden könnte. Bestenfalls wird eine gewisse Erhöhung der Zuschüsse für den „sozialen Wohnungsbau“ vorgenommen, was viel kostet, aber längerfristig wenig bringt. Angesichts der historischen Erfahrungen müsste dies eigentlich bekannt sein.

Nun ist allerdings richtig, dass ein Enteignungsverfahren schon wegen des damit drohenden Prozessmarathons lange dauern und für sich genommen  kaum den Bau neuer Wohnungen zur Folge haben würde. Statt sich auf die Enteignungsfrage zu konzentrieren, wäre es daher sinnvoll, ganz andere und darüber hinausgehende Maßnahmen zu fordern. Nach dem Grundgesetz sind Enteignungen zwar möglich, aber nur gegen Entschädigung. Die Forderung, dies nicht zu tun, kollidiert mit der Verfassung und ist daher nicht unbedingt aussichtsreich. Der Staat müsste den Konzernen ihre Wohnungen also praktisch abkaufen. Auf alle großen Wohnungskonzerne bezogen wäre dazu ein Betrag notwendig, der bis zu 30 Milliarden Euro gehen könnte. Viel besser wäre es, dieses Geld gleich in den Wohnungsbau zu stecken, und zwar nicht in Form der langfristig wirkungslosen Subventionierung privater Bauherren, sondern durch eine Wiederaufnahme des kommunalen Wohnungsbaus, der die Wohnungsversorgung dauerhaft zu garantieren vermag. Diesen gab es nicht nur in Wien, sondern in der Weimarer Republik auch schon hierzulande. Zusätzliche Mittel könnten durch eine zusätzliche Besteuerung der Mieteinnahmen mobilisiert werden, wie es beim kommunalen Wohnungsbau ebenfalls in der Weimarer Republik in der Form einer „Mietzinssteuer“ schon einmal praktiziert wurde. Weiterhin wäre es dringend notwendig, die Wertsteigerungen von unbebauten Grundstücken zu besteuern, was auch der Bodenspekulation etwas Einhalt gebieten könnte. 

In Bezug auf die privaten Wohnungskonzerne  wären dagegen an ganz andere Maßnahmen als Enteignung  zu denken. Dazu gehörten unter anderem gesetzliche Mietpreisbeschränkungen sowie eine Verschärfung des Mieterschutzes. Damit könnte eine ähnliche Wirkung wie bei einem Eigentumsentzug  erzielt werden. Das Grundgesetz garantiert bekanntlich nicht nur das Privateigentum, sondern enthält auch dessen soziale Verpflichtung. Dem könnte die Gesetzgebung endlich einmal gerecht werden.

Die Enteignungsdebatte ist dennoch sehr wichtig, weil  sie noch auf eine ganz andere Dimension verweist. Sie thematisiert nämlich, dass Wohnen ein Teil der sozialen Infrastruktur ist, wie das links-netz schon seit Langem betont. Sie setzt auf die Tagesordnung, dass Wohnen ein Grundbedürfnis ist, das staatlicherseits garantiert werden muss, wenn auch in diesem Fall nicht wie etwa im Gesundheits- und Bildungsbereich kostenlos, aber zu Preisen, die für alle erschwinglich sind. Wenn es um die Verkehrsinfrastruktur, etwa den Autobahnbau geht, werden Enteignungen durchaus praktiziert, weil dies dem Gemeinwohl diene. Der Wohnungsnot ist aber durch Enteignungen – auch wenn dies auf den ersten Blick plausibel erscheint – nicht wirklich beizukommen, sondern es bedarf einer grundlegenden Neuorientierung der staatlichen Politik. Die Energiewende wurde zumindest in Angriff genommen, während über eine Verkehrswende  – die auch die Fragen der Raumordnung und der Entflechtung  der Ballungsgebiete betrifft – dank Minister Scheuer bestenfalls geredet wird. Eine ganz grundlegende wohnungspolitische Wende wäre ebenso dringend notwendig, wollte sich die Politik wirklich um das kümmern, was in Sonntagsreden Zukunftsgestaltung genannt wird. Davon ist jedoch nichts zu spüren. Umso notwendiger  bleibt der „Druck der Straße“.