von Rudolf Walther
Die Protestbewegung der „gilets jaunes“ („Gelbwesten“) in Frankreich ist nicht vom Himmel gefallen. Angesichts der Berichte des europäischen Fernsehwesens, das den Protest auf das handliche Format „gewalttätiger Mob“ reduziert, darf jedoch an ein paar Tatbestände erinnert werden, ohne damit die völlig absurde Zerstörungswut von Schlägertrupps, Hooligans sowie rechts- und linksradikalen Ultras rechtfertigen zu wollen. Entstanden ist die Bewegung als Protest gegen die Steuererhöhung auf Benzin und die schwindende Kaufkraft in mittleren und unteren sozialen Schichten und Klassen – und zwar vorwiegend in ländlichen Regionen, entgegen Gerüchten im medialen Betrieb. Im Kontrast zum umtriebigen und auf schnelle Reformen setzenden Präsidenten Macron nannte sich die Bewegung selbst „opération escargot“ („Operation Schnecke“) – eine Namenswahl, die durchaus programmatisch zu verstehen ist, obwohl die Bewegung selbst über kein ausformuliertes Programm und überhaupt keine institutionalisierten Organisationsstrukturen verfügt.
Die Klagen des „menu peuple“ („des gemeinen Volkes“) – jener überwältigenden Mehrheit, die nicht in den gutsituierten Gegenden der Städte wohnt, sondern in deren Randgebieten, in den trostlosen Vorstädten, auf dem Land oder in den kleineren Städten des schwach besiedelten Landes mit etwa halb so vielen Einwohnern pro km2 wie in der BRD. In einem Land, in dem jeder zweite Einwohner in einer Gemeinde unter 10.000 Einwohnern lebt, zählen Mobilitätskosten zur Arbeit, zu höheren Schulen, zu Ärzten, zu Hospitälern, zu Behörden, Post, Polizei, Sport, Kultur und anderen elementaren Versorgungszentren. 15 Prozent aller Franzosen stehen an jedem Monatsende stark in roten Zahlen – und da wirkt es natürlich als grobe Provokation, wenn der Hausherr im Elysée die Grundausstattung seines Palastes mit feinem Porzellan für 500 000 Euro erneuern lässt, nachdem er eben mal die Vermögenssteuer auf Luxusgüter abgeschafft hat. Diese bescherte den 330.000 wohlhabendsten Bürgern des Landes im Handstreich 3,2 Milliarden Euro – pro Jahr! Macrons Hilfsprogramm zur Stärkung der Kaufkraft von Million Klein- und Geringverdienern kostet 10 Milliarden Euro.
Das Land ist gespalten, es herrscht ein „sozialer Bruch“, wie Jacques Chirac schon 1995 feststellte und mit dem Versprechen, schnell Abhilfe zu schaffen, die Präsidentschaftswahlen gewann. Nachdem er im Amt war, geschah nichts – genau wie unter seinen Nachfolgern Sarkozy und Hollande. Aber die Unzufriedenheit wuchs, und Macrons Ankündigung, die Steuern auf Diesel und Benzin nach den Erhöhungen von Anfang 2018 zum Januar 2019 erneut um acht Cent mehr für Diesel und um 4 Cent für Benzin zu erhöhen, brachte das Fass zum Überlaufen. Innerhalb kurzer Zeit bildete sich ohne Mithilfe von politischen Parteien, Gewerkschaften und anderen Organen der Gesellschaft – getragen und koordiniert von sozialen Medien – die Bewegung „gilets jaunes“.
Macron provozierte mit seinem Regierungstempo und seinem elitär-autoritären Auftreten, das ihm den Spottnamen „Jupiter“ eintrug, die kleinen und langsamen „Schnecken“ mit dem getürkten Argument, die Benzinsteuererhöhung diene der ökologisch notwendigen und wissenschaftlich gesehen dringenden Energiewende. Tatsächlich sind Ökologie und Wissenschaft aber nur die Alibis, um den Staatshaushalt zu sanieren und gegen drohende Sanktionen aus Brüssel abzusichern. Gegen das massenhaft verbreitete Gefühl einer erneuten, sozial unausgewogenen und ungerechten „Reform“ in Gestalt einer Steuererhöhung hatte der Präsident mit dem ökologisch und wissenschaftlich kostümierten Alibiargument, das der Rechtsprofessor Alexandre Viala als „herrschaftlich-schriftgelehrten Scheinbeweis“ („sophisme épistocratique“) charakterisierte, keine Chance. Der politisch zurechnungsfähige Teil der Protestbewegung machte mit Macrons Neujahrsversprechen, der Demokratie „ihre Vitalität wieder zu verschaffen“, ernst und demonstrierte, dass Demokratie auf Mehrheiten beruht und nicht auf vermeintlichen oder wirklichen wissenschaftlichen Einsichten oder den Interessen einer Elite. Nach zwei Monaten Protesten und trotz schlechter Presse steht immer noch eine Mehrheit der Franzosen hinter den Protestierenden, während der Präsident Vertrauen nur bei 28, die Regierung bei 23 und die Parteien bei neun Prozent der Franzosen genießt. Drei Viertel sind der Meinung, der Staat werde „im Interesse von einigen wenigen und nicht im Gesamtinteresse“ regiert.
Die Vertrauenskrise des Präsidenten hat sich zur Krise der Demokratie ausgewachsen. Das Vertrauen zum Präsidenten war von Anfang an nur geliehen: ganze 25 Prozent betrug der Wähleranteil Macrons im ersten Wahlgang. Dass er im zweiten Wahlgang eine Zweidrittelmehrheit erreichte, ist allein den Leihstimmen jener zu verdanken, die unbedingt die von vorherein aussichtslose Rechtspopulistin Marine Le Pen verhindern wollten. Nur dank des vordemokratischen Wahlrechts gewann Macron mit einem Viertel der Franzosen hinter sich 70 Prozent der Mandate im Parlament! Die mediale Blase vom triumphalen Wahlsieg Macrons platzte schnell und der operettenhafte, nächtliche Einmarsch des obersten Marschierers der Nation in den Hof des Louvre bei der Amtseinführung erwies sich als herrschaftliche Inszenierung für ein Publikum, das gelernt hat, Theater mit Politik zu verwechseln.
Jetzt demonstrieren Menschen, dass Politik weder vor laufenden Kameras noch in Büros und Salons gemacht wird, sondern an Verkehrskreiseln und auf öden Parkplätzen riesiger Einkaufszentren außerhalb von Ortschaften. Mit „Benzinwut“, wie die Boulevardpresse hierzulande Proteste gegen Steuererhöhungen auf Benzin gern „erklärt“, hatten die „gilets jaunes“ von Anfang an nichts am Hut. In ihrem Protest artikulierte sich politischer, rational unterlegter Zorn über die „Reformen“ des „Präsidenten der Reichen“. Ein Beiname, den sich Macron durch seine Politik redlich verdient hat. Ein Teil der Bewegung, die ihren Schwerpunkt in der Provinz hat und nicht in den großen Städten, erwägt die Teilnahme an den nächsten Kommunalwahlen. Anspruchsvoller ist das politische Projekt, den institutionell-verfassungsrechtlichen Rahmen der Fünften Republik zu erweitern durch die Einführung von Volksabstimmungen (Plebisziten) bis hin zur Abstimmung über die Amtsenthebung des Präsidenten durch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Das Projekt, dessen Umrisse noch so unklar sind wie seine Haltbarkeit und politische Durchsetzbarkeit, heißt „Référendum d’inititative citoyenne“ (RIC), was man mit „Volksentscheid durch Initiativrecht für Bürger“ übersetzen könnte. Das Projekt lehnt sich an die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild an, verzichtet aber auf die dort übliche verfassungsrechtliche Trennung zwischen Referendum, d.h. der Volksabstimmung gegen Entscheidungen von Parlament und Regierung, und Initiativen, d.h. Anträgen und Abstimmungen für Verfassungsänderungen. Gegen das Projekt meldeten sich erwartungsgemäß wie immer und überall die Bedenkenträger von rechter und konservativer Seite, aber auch von Politikwissenschaftlern und Regierungsberatern à la mode: „Volks- entscheide, die nur Ja und Nein kennen, killen die Demokratie“ (Claus Leggewie, taz v. 22.1.2019) – was aber nur für „Demokratien“ gilt, die so gut wie ohne Volk auskommen und für Regierungen, die das Volk auswechseln möchten, wenn es unzahm wird.
Nach fast zwei Monate andauernden Protesten und neun Protestwochenenden wurde deutlich, dass Macron nicht nur zu finanziellen Konzessionen bereit ist. In seiner Rede zu Sylvester kündigte er an, „unserer Demokratie ihre ganze Vitalität wiederzugeben“. In einem ersten Schritt legten 5000 Bürgermeister nach dem Vorbild von 1789 „Beschwerdehefte“ („Cahiers de doléance“) aus, in denen die Bürger ihre Forderungen und Nöte zu Protokoll geben können – seit dem 21.Januar auch auf einer Netzplattform. Danach sollte landesweit eine „Große Debatte“ dezentral ablaufen. Der Pferdefuß: Nach Macrons Vorgabe waren lediglich vier Themen für die Debatte vorgesehen, also gerade keine offene Debatte, zumal eine ehemalige Ministerin mit deren Kanalisierung betraut wurde. Als öffentlich wurde, dass diese für ihre präsidial programmierte Zuarbeit ein Monatsgehalt von rund 14 500 Euro einstreichen sollte, trat sie entnervt zurück.
Jetzt wurstelt Macron persönlich mit in der „Große Debatte“. Er hat auf jeden Fall geringe Aussichten, den Protest, der in der letzten Woche wieder stärker geworden ist, mit seinem Gesprächsangebot zu bändigen. Für die Protestbewegung kann man nur die Hoffnung haben, dass sie den langen Atem hat für einen Umbau der Fünften Republik. RIC ist ein Demokratisierungsprojekt und mit Sicherheit kein „Angriff auf Staat und Demokratie“ oder ein „Umsturzplan“, wie der notorisch laute Regierungssprecher Benjamnin Griveaux meint.
Von Erfolgen oder gar vom Sieg der Protestbewegung der „gilets jaunes“ zu reden, wäre verfrüht – trotz der Zugeständnisse, die sie Macron abgerungen hat. Eines zumindest hat sie erreicht: die restlose De-legitimierung Macrons. Dagegen hat die Protestbewegung nach zwei Monaten des Protests noch über 50 Prozent der Franzosen hinter sich – trotz der negativen medialen Resonanz auf politisch sinnlose, nicht zu rechtfertigende Gewaltexzesse.
Dreierlei hat die Bewegung obendrein aufgedeckt. Erstens haben die Proteste Risse zwischen Präsident Macron und seiner Regierung deutlich gemacht. Zweitens hat die Protestbewegung trotz ihrer diffusen Struktur politische Probleme artikuliert, die weit über ihre Anfänge als Kampagne gegen eine Benzinsteuererhöhung hinausweisen. Und Drittens lenkte der Protest die Gesellschaft auf soziale, fiskalische, territoriale und kulturelle Brüche und Schieflagen, die sich seit mindestens 30 Jahren vergrößert und verschärft haben.
Präsident, Regierung und politische Klasse bilden keinen einheitlichen Block, sondern gruppieren sich um Verständnis und Tolerierung bis zu entschiedener Härte gegenüber dem Protest. Mounir Mahjoubi, Staatssekretär für Digitalisierung im Innenministerium, plädierte dafür, die Forderungen der „gilets jaunes“ ernst zu nehmen, denn sie stünden für „größere soziale und fiskalische Gerechtigkeit“ und bildeten deshalb „eine Chance für Frankreich“. Die überwiegende Mehrheit der Protestierenden sei „weder gewalttätig noch aufrührerisch, noch rassistisch, antisemitisch oder homophob“. Gleichlautend äußerte sich die Kommunikationsbeauftragte des Präsidenten.
Auf der Gegenseite stehen Hardliner wie Innenminister Christophe Castaner, der der „Hypergewalt“ der Gelbwesten mit der „Hyperentschlossenheit“ der Regierung entgegentreten möchte genau wie sein Kollege, der Budgetminister Gerald Darmanin: „Gegen Ultragewalt braucht man Ultrastrenge“. Irgendwo zwischen dem Verständnis Mahjoubis und der Härte Castaners und Darmanins bewegen sich Premierminister Philippe und Präsident Macron. Philippe möchte ein „Anti-Schläger-Gesetz“, das der Polizei gegen Demonstranten etwa dieselben Kompetenzen gibt wie gegen vermutliche Terroristen: Leibesvisitationen, Identitäts- und Gepäckkontrollen in definierten Sicherheitsbereichen. Hinzukommen sollen Demonstrationsverbote für Personen, analog zu den Stadionverboten für Hooligans. Vor allem aber möchte Philippe Schläger („casseur“) als Zahler („payeur“) für die von ihnen verursachten Schäden heranziehen. Ob Gerichte dabei mitspielen, die an Gewaltakten irgendwie Beteiligten oder auch nur Zuschauenden kollektiv zur Schadensregulierung zu verurteilen, ist ebenso umstritten wie offen. Vor allem aber setzt Philippe auf demonstrative Präsenz. Für das IX. Protestwochenende vom 12.Januar etwa mobilisierte er 80 000 Polizisten gegen weniger als halb so viele Demonstranten.
Die des Extremismus nicht verdächtige Zeitung „Le Monde“ (23.1.2019) spricht von einer „nie dagewesenen Krise“, der nur eine „ganz neue Antwort“ gerecht werden könne. Dazu gehören die „große Debatte“, wenn sie nicht zur präsidialen Maskerade verkommt und folgenlos bleibt, und eine gründliche Reform der Verfassung der V. Republik unter der Berücksichtigung der Einführung von Volksentscheiden, wie sie die Protestbewegung fordert. Wenn es Macron wirklich ernst wäre mit „Reformen“, wie er sie unentwegt beschwört, müsste er die Europawahlen vom 26. Mai ergänzen um eine nationale Abstimmung über Verfassungsänderungen zu „einem neuen Vertrag für die Nation“ (Macron).