Krise der Demokratie – welche Krise ?

Joachim Hirsch

Die Krise der Demokratie ist derzeit ein Topthema in Feuilletons, Veranstaltungen und Gesprächsrunden. So hat das „Exzellenzcluster“ mit dem etwas sperrigen Titel „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Frankfurter Goethe-Universität kürzlich zu einer Buchvorstellung eingeladen. Der Titel: „Wie Demokratien sterben“, geschrieben von Daniel Ziblatt. Höchste Alarmstufe also? Die Frage ist allerdings, was sich nun genau in der Krise befindet. „Die“ Demokratie heißt es, aber welche? Grundsätzlich wird davon ausgegangen, Demokratie sei eben das, was derzeit als politische Form hierzulande existiert. Es gäbe also einiges vorab zu klären, auch ob es sich möglicherweise weniger um eine Krise „der“ Demokratie als um eine der herrschenden Politik handelt.

Als alarmierend wird insbesondere die Ausbreitung rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen in Europa und darüber hinaus in großen Teilen der Welt gesehen. Dabei ist die Lage gar nicht so eindeutig. Gerade in der letzten Zeit haben große Demonstrationen stattgefunden, und dies keineswegs nur von rechts. Es gibt zudem eine Menge sehr aktiver zivilgesellschaftlicher Initiativen und Projekte. Man kann also ein verbreitetes politisches Engagement feststellen, was in demokratietheoretischer Hinsicht eigentlich begrüßt werden müsste. Ist es aber möglicherweise so, dass außerinstitutionelles politisches Handeln mit den herrschenden Demokratievorstellungen gar nicht vereinbar ist? In der deutschen Verfassung ist jedenfalls eine direkte Äußerung des „Volkswillens“ nicht vorgesehen. Liegt vielleicht eher da eine Ursache für das, was als „ Krise der Demokratie“ gehandelt wird?

Große Befürchtungen weckt auch die Tatsache, dass inzwischen viele der Ansicht sind, dass von dieser Staatsform nichts Gutes zu erwarten ist und dass autoritäre Einstellungen zunehmen. Als Gründe dafür werden oft Abstiegsängste, gesellschaftliche Ausgrenzung, soziale Spaltung oder eine um sich greifende Vereinzelung angeführt. Abhilfe wird unter anderem von mehr Bürgernähe der Politik, einer Stärkung des wie auch immer begriffenen „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ und einer verbesserten Kommunikation erwartet. Man müsse den Bürgerinnen und Bürgern halt überzeugender erklären, warum die herrschende Politik gut, richtig und in ihren Grundzügen eigentlich auch alternativlos sei. Gelegentlich wird immerhin darauf hingewiesen, dass das alles irgendwie mit dem herrschenden Neoliberalismus zusammenhängt. Dann bliebe allerdings die Frage, ob dessen Auftreten möglicherweise mit grundlegenden kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten zusammenhängt.

Wenn man die Krise der Demokratie, wie derzeit üblich, als ein neues und zeitbedingtes Phänomen sieht, wird indessen systematisch unterschlagen, dass sich ihre herrschende, liberal-kapitalistische Form strukturell in einer Krise befindet. Die bürgerlich-kapitalistische Demokratie ist bekanntermaßen durch eine Trennung von Staat und Gesellschaft, von Politik und Ökonomie gekennzeichnet. Das bedeutet, dass ganz grundsätzliche, die gesellschaftliche Entwicklung prägende Entscheidungen in den Händen privater Investoren liegen und die staatliche Politik in wesentlichem Grade von deren Handeln abhängig ist. Der sich aus Steuern finanzierende Staat ist, soll er bestands- und handlungsfähig bleiben, davon abhängig, dass die Wirtschaft floriert, unter kapitalistischen Bedingungen also wächst. Und darüber entscheiden zuallererst die Unternehmen. Gegen deren grundlegende Interessen darf also staatliche Politik nicht verstoßen, ohne sich selbst den Boden wegzuziehen. Bestenfalls ist der Staat in der Lage, dem Kapital das aufzuzwingen, was zu dessen Erhalt auf längere Sicht erforderlich ist, also als „ideeller Gesamtkapitalist“ zu handeln, wie Friedrich Engels das nannte. Das kann gegebenenfalls auch zu sozialpolitischen Interventionen führen, wie Marx anhand der Auseinandersetzungen um die Arbeitszeitbegrenzung in England gezeigt hat. Dabei können auch demokratische Bewegungen ins Spiel kommen, wenn sie einen entsprechenden Druck ausüben. Das funktioniert allerdings nicht immer, wie die Erfahrung, aktuell im Fall des Umgangs mit dem Klimawandel zeigt. Nämlich dann, wenn mächtige Kapitalgruppen aus kurzfristigem Kalkül das verhindern, was eigentlich im gesamtkapitalistischen Interesse liegen müsste. Damit kommt noch eine andere Ebene ins Spiel, nämlich der Einfluss, den das „große Geld“ in der Regel auf die staatliche Politik nimmt, sei es durch mächtige Lobbys, sei es durch direkte finanzielle Zuwendungen.

Die bürgerlich-liberale Demokratie war und ist also weit davon entfernt, dem „Volkswillen“ Ausdruck zu verleihen. Eher handelt es sich um ein Mitbestimmungsmodell, welches dem „Volk“ gewisse Einflussmöglichkeiten einräumt, eben dergestalt, dass die politisch Herrschenden sich regelmäßigen Wahlen stellen müssen und daher auch, aber keineswegs nur dessen Interessen zu berücksichtigen haben. Das kann durch reale Konzessionen geschehen oder auch dadurch, dass diese mittels ideologischer Manöver verschleiert werden. Sehr charakteristisch ist die oft zitierte Äußerung von Willy Brand, der beim Antritt der sozialliberalen Koalition 1969 sagte, dass es darauf ankomme, „mehr Demokratie zu wagen“. Es sind offensichtlich die politisch Herrschenden, die dieses Wagnis eingehen und das scheint auch gar nicht so ganz einfach und irgendwie riskant zu sein. Was sich also als „Volkswillen“ äußern kann, wird im Rahmen des bestehenden, repräsentativ-demokratischen Systems im Wesentlichen von oben bestimmt.

Die Enttäuschung und der Frust über die Politik haben daher strukturelle Gründe – aktuell äußert sich das grade wieder an den „Gelbwesten“- Demonstrationen in Frankreich, die sich gegen eine „Reformpolitik“ richten, welche darauf abzielt, die internationale Konkurrenzfähigkeit des Kapitals zu verbessern. Genau diese Erfahrungen sind der Nährboden für populistische Bewegungen gegen „die da oben“ einschließlich ihres medialen und wissenschaftlichen Anhangs. Populismus ist also eine der liberalen Demokratie immanente Erscheinung und keineswegs ein Ausnahmefall. Ein Spielraum für den Rechtspopulismus tut sich dann auf, wenn sich „links“ keine plausible Alternative mehr anbietet. Dies kennzeichnet derzeit die politische Situation in immer mehr Ländern.

Die strukturelle Krise der liberalen Demokratie hat sich historisch in unterschiedlichem Maße und auf verschiedene Arten geäußert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Herausbildung liberal-demokratischer Verhältnisse am ehesten in den Teilen der Welt möglich war, die aufgrund imperialistischer Machtverhältnisse eine gewisse wirtschaftliche Prosperität genießen konnten. Blicken wir kurz zurück: In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, der Ära des „Fordismus“, blieb die Demokratiekrise bis in die 1980er Jahre hinein eher latent. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass sich nach den Kriegszerstörungen dem Kapital enorme Investitions- und Profitmöglichkeiten boten und der Ausbau des Sozialstaats ebenso wie eine die Arbeitnehmer begünstigende, korporativ abgestützte, also die Gewerkschaften einbeziehende Einkommenspolitik die Grundlagen dafür schufen, dass die jetzt allgemein durchgesetzte tayloristische Massenproduktion von Konsumgütern auch abgesetzt werden konnte. Dies war die Ära, in der sich die auf eine im Prinzip klassen- und schichtübergreifende Interessenvertretung stützenden „Volksparteien“ herausbilden und das politische System stabilisieren konnten. Sie bezogen sich auf eine Art Gesellschaftsvertrag, der unter der Prämisse einer scheinbaren Interessenidentität von „Arbeit“ und „Kapital“ weite Kreise der Bevölkerung einbezog.

Dies änderte sich mit der Krise der fordistischen Formation, die Ende der 1970er Jahre einsetzte. Der implizite Gesellschaftsvertrag wurde aufgekündigt. Ein Grund dafür war, dass sich die im tayloristischen Produktionsmodus enthaltenen Rationalisierungsreserven erschöpften und damit die bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse – gekennzeichnet durch starke Gewerkschaften und sozial-reformistisch orientierte Volksparteien – den Kapitalprofit zu bedrohen begannen. Das Wachstum wurde schwächer und es gab wieder Massenarbeitslosigkeit. Gleichzeitig hatte sich das Kapital in der fordistischen Phase in erheblichem Umfang internationalisiert und wurde daher von einzelstaatlichen Politiken unabhängiger. Das war die Voraussetzung dafür, dass das Argument der „Standortkonkurrenz“ seine Wirksamkeit entfalten konnte. Auf die Krise des Fordismus reagierten die Staaten mit einer neoliberalen Politikwende, und zwar ziemlich unabhängig von der politischen Ausrichtung der jeweils regierenden Parteien. Es galt, die Profitmöglichkeiten des Kapitals unter den veränderten Bedingungen zu sichern. Dies bedeutete unter anderem eine weitgehende Liberalisierung des internationalen Waren- und Kapitalverkehrs, was die Konkurrenz der Standorte deutlich verschärfte. Dadurch wuchs der Druck auf die Löhne und der Sozialstaatsabbau setzte ein. Die ökonomische Deregulierung begünstigte zugleich die Durchsetzung neuer Technologien vor allem im IT-Bereich. Dadurch und durch großangelegte Privatisierungen sowie umfassende Steuersenkungen eröffneten sich dem Kapital neue Investitionsräume, während gleichzeitig die Kosten reduziert wurden. Damit waren die Profite gesichert und das Wachstum nahm zunächst wieder an Fahrt auf.

Dies war eine „Politik des Kapitals“, die weitgehend zu Lasten einer Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere der Lohnabhängigen ging. Wenn heute eine zunehmend ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, Prekariserung und Gesellschaftsspaltung beklagt werden, so ist diese Entwicklung nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer strategisch angelegten staatlichen Politik, die auf eine kapitalistische Krise reagierte. In diesen Zusammenhang gehört auch der Ausbau der Europäischen Union, die – ungeachtet ihrer in Festreden gerne gefeierten Etikettierung als Friedensprojekt – vor allem wirtschaftlichen Interessen dient und sowohl sozialpolitisch wie demokratisch höchst defizitär ist. Angesichts einer immer schnelleren technischen Entwicklung und der damit verbundenen sozialen Umwälzungen wachsen die Unsicherheiten in Bezug auf die Lebenslage, den Arbeitsplatz und auch den sozialen Status. Dasselbe gilt für die häufig als Ursache der Demokratiekrise angeführte Vereinzelung und Entsolidarisierung. Es ist eine Entwicklung, die durch die alle gesellschaftlichen Bereiche umgreifende Konkurrenzmobilisierung und die Verbreitung neoliberaler Verhaltensmuster und Gesellschaftsvorstellungen bis in die kleinsten sozialen Verästelungen hinein hervorgerufen wurde.

Der soziale Konsens, der bis in die 1970er Jahre die relative Stabilität der liberalen Demokratie ermöglicht hatte, beruhte auf der verbreiteten Wahrnehmung, dass der allgemeine Wohlstand immer weiter wachsen und auf jeden Fall „die Kinder es einmal besser haben“ würden. Das hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt, und zwar bis weit in die sogenannten Mittelschichten hinein. Der Blick in die Zukunft eröffnet nicht mehr Hoffnung, sondern Unsicherheit und Angst.

Die neoliberale Offensive zeitigt insgesamt komplexe Folgen. Sie hat zur Krise des Volksparteiensystems geführt, weil die relativ homogenen Interessenblöcke der Nachkriegszeit erodiert sind und die Versprechen, die dieses legitimiert haben, nicht mehr eingehalten werden konnten. Wenn über die Krise der Demokratie geredet wird, darf auch nicht vergessen werden, wie grundlegend sich die liberale Öffentlichkeit verändert hat. Nicht zuletzt der durch die neuen „sozialen Medien“ verursachte Strukturwandel der Öffentlichkeit hat ebenso wie Misstrauen und Enttäuschung über die herrschende Politik ganz wesentlich zur Erstarkung rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien beigetragen. Deren Aufstieg macht das Regieren schwieriger und führt dazu, dass sich faktisch die Notwendigkeit einer Art großer Koalition der etablierten demokratischen Parteien abzeichnet. Es prägt sich also noch deutlicher aus, was Johannes Agnoli schon frühzeitig als „virtuelle Einheitspartei“ bezeichnet hat. Auch das ist ein Aspekt der aktuellen Demokratiekrise.

Ganz entscheidend aber ist ein in dieser Entwicklung liegender grundlegender Widerspruch. Die neue, „postfordistische“ Form des Kapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass der weiteren Ausdehnung der Produktionskapazitäten aufgrund der verschobenen Einkommensverteilung keine entsprechende Zunahme des Massenkonsums entspricht. Dadurch entsteht im globalen Maßstab ein Kapitalüberschuss, dessen Folge die „Finanzialisierng“ des Kapitalismus und die Entwicklung spekulativer Blasen ist. Die neoliberale Offensive gerät dadurch an ihre Grenzen und eine weitere große Wirtschaftskrise ist sehr wahrscheinlich geworden. In Deutschland wird im Übrigen dieser Widerspruch, nicht zuletzt begünstigt durch die Einführung des Euro, derzeit durch die Anhäufung immer größerer Exportüberschüsse zu Lasten anderer Länder kompensiert, was aber auf die Dauer nicht gut gehen kann. Zugleich wurden die mit der neoliberalen Offensive verbundenen Wohlstands- und Prosperitätsversprechen in keiner Weise eingelöst. Eine sich verstärkende ideologische Krise des herrschenden Gesellschaftsmodells ist die Folge. Dies wiederum wird von rechten Parteien und Bewegungen ausgenutzt, und zwar in der Weise, dass nicht nur – oder eigentlich eher weniger – gegen den Neoliberalismus als solchem, sondern mit autoritären, nationalistischen und rassistischen Tönen gegen die liberale Gesellschaftsverfassung, Demokratie und Rechtsstaat überhaupt angegangen wird. Verschärft wird diese Tendenz noch, wenn „demokratische“ Parteien glauben, den Rechtspopulisten nachlaufen zu müssen. Das ist ein zentraler Aspekt der aktuellen Erscheinungsform der Demokratiekrise.

Die Frage ist, wohin diese Entwicklung führen wird. Offensichtlich ist, dass autoritäre Tendenzen angesichts der Enttäuschungen über die herrschende Form der Demokratie selbst im Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung deutlich zunehmen. Und es ist sicher, dass die aktuell auf Partei- und Regierungsebene diskutierten und eher kosmetischen Maßnahmen zur Rettung der Demokratie wenig bewirken werden. Wenn etwas gegen Spaltung, Ängste und Frust unternommen werden soll, dann stehen dem die herrschende ökonomische Struktur und die sie stützenden Machtverhältnisse entgegen. Bei den Parteien gibt es praktisch keinen Ansatz zu einer grundlegenderen Veränderung. Dabei spielt der Niedergang der sozialdemokratischen Parteien eine wichtige Rolle, den sie ihrer neoliberalen Wende zu verdanken haben. Offensichtlich fällt es ihnen schwer, auch nur noch ansatzweise ein alternatives Gesellschafts- und Ökonomiekonzept zu entwickeln. Die Demokratiekrise hat sehr viel mit der Schwäche der linken Parteien zu tun. Und eine emanzipative soziale Bewegung, die Druck auf weiter reichende gesellschaftliche Veränderungen entwickeln könnte, ist derzeit ebenfalls nicht in Sicht. Die aktuellen Mobilisierungen beziehen sich vornehmlich auf einzelne Problemfelder und Unzumutbarkeiten, sei es Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Naturzerstörung oder Wohnungsnot. Der Kapitalismus scheint tatsächlich als alternativlos wahrgenommen zu werden. Die linke Philosophin Nancy Fraser hat darauf hingewiesen, dass die den Rechtspopulismus begünstigende Situation auf einer Art Allianz zwischen dem Finanz- und IT-Kapital sowie neuen sozialen Bewegungen wie Feminismus, Antirassismus und Multikulturalismus beruht, eine Konstellation, die sie „progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.2, 2017). Es ginge also darum, vor allem diese Allianz aufzubrechen. Dafür gibt es indessen kaum Ansätze. Aber das kann sich ja noch ändern. Die Geschichte ist bekanntlich voller Überraschungen.

Max Horkheimer hat einmal gesagt, wer aber vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen. Das gilt auch, wenn es um die Krise der Demokratie geht. Das Zitat von Horkheimer findet sich übrigens in dem Aufsatz „Die Juden in Europa“, Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt 1939. Also aus einer Periode, in der die Demokratiekrise ganz verheerende Folgen hatte. Und dies aus denselben strukturellen Gründen.