Bewegung der Plätze und Beziehungen der Sorge

Über das transformatorische Potenzial der spanischen 15M-Bewegung

Von Susanne Hentschel

Heute sind es die Straßen und Plätze in Chile, Irak, Libanon, Katalonien und Hong Kong, auf denen die Menschen gegen die Herrschenden revoltieren. Die Formen, Forderungen und die Heterogenität der Proteste erinnern stark an die Demokratiebewegungen im Jahr 2011: Tahrir, Syntagma, Zuccotti, Puerta del Sol – diese zentralen Plätze in Ägypten, Griechenland, New York und Spanien blieben in diesem Jahr über Monate besetzt. Die Platzbesetzungen wurden schnell zum Symbol eines Jahres, in dem die Menschen der kapitalistischen Ordnung an den Kragen wollten: Ausgehend vom sogenannten „Arabischen Frühling“ breitete sich die Protestwelle weltweit aus. Zwanzig Jahre nach dem proklamierten „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) stand die Ordnung auf dem Kopf: Der angeblich endgültige Sieg der liberalen Marktwirtschaft wurde von den massenhaft Protestierenden zur Disposition gestellt. Nach anfänglicher Euphorie äußerten viele jedoch schnell ihre Enttäuschung über die Bewegung der Plätze: Sie sei so schnell gegangen wie sie kam und hätte doch nicht viel geändert. 

In meinem Text möchte ich diese Einschätzung widerlegen und am Fall der spanischen 15M-Bewegung eine Deutung der Proteste vorschlagen, welche die konstruktiven und emanzipatorischen Momente in den Vordergrund rückt. Im Fokus der Bewegung stand nämlich nicht das Ziel die Macht im Staat zu erringen. Das Besondere war vielmehr, dass die Beteiligten neue Formen des Zusammenlebens jenseits von Markt und Staat erprobten. Auf den Plätzen und auch in den darauffolgenden Protesten wurden politische Praxen entwickelt, in deren Zentrum die Neuorganisation von Sorgebeziehungen stand. Gemeinsam putzte man den Platz, kümmerte sich umeinander, erfand Strukturen, um die alltägliche Reproduktion zu vergemeinschaften. Die Kollektivierung von Sorgearbeiten im Zuge der Platzbesetzungen und die Zentralität körperlicher Grundbedürfnisse stellen den Kern der Proteste dar: Die Platzbesetzungen sind Antworten auf die wachsende Sorgekrise und machen die steigende Prekarisierung des körperlichen Lebens sichtbar, indem „affektive Bezogenheit und Praxen der Solidarität“ im Vordergrund standen (Lorey 2016a: 271, vgl. Butler 2017). Zentral waren die jenseits von Markt und Staat neu entstandenen Formen der Sorge sowie die solidarischen Beziehungsweisen, die Aufschluss darüber geben können, welche Konstruktion von Geschlechtlichkeit im Rahmen der Proteste zutage traten (vgl. Adamczak 2017).

Der rote Faden, der diese Analyse durchzieht, ist die Frage nach unterschiedlichen Transformationsstrategien. Ob der Weg zur gesellschaftlichen Emanzipation über die Institutionen und den Staat führen, über die Zerschlagung des Staates oder aber die Alltagskämpfe und Beziehungsweisen letztlich ausschlaggebend sind, ist eine viel diskutierte Frage, die ich am Beispiel der 15M-Bewegung erneut aufwerfen möchte. Es gilt, die klassische linke Erzählung der Platzbesetzungen 2011 anders zu erzählen als es häufig geschieht: Die Proteste seien zwar stark, radikal und zahlreich gewesen, aber letztlich gescheitert und ohne strukturelle Systemänderungen versandet. Gegen diese ‚linke Melancholie’ (Brown 1999) des Scheiterns schlage ich ein Verständnis von der spanischen 15M-Bewegung vor, das die großen Brüche nicht im Wahlsieg einer linken Partei oder der Destruktion der herrschenden Gesellschaft sucht, sondern in den konstruktiven Momenten des Aufbaus anderer, solidarischer Beziehungsweisen auf den Plätzen, in den Vierteln und in den Initiativen.

¡Democracia Real Ya! Die Platzbesetzungen des 15M

Porque no somos mercancía en los manos de políticos y banqueros.“ (Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankiers.)[1]

Nachdem die ersten Jahre der globalen Vielfachrise (Demirovic et al 2011) zwar durch Frustration geprägt waren, die aber keine Übersetzung in die politische Praxis erfuhr, wurde 2011 zum Jahr der widerständigen gesellschaftlichen Mobilisierungen in Spanien. Initiiert wurde die große Demonstration am 15. Mai 2011, die in der Besetzung der Puerta del Sol in Madrid mündete, unter dem Motto „Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankiers“ von der Plattform ¡Democracia Real Ya! Dem Aufruf folgten etwa 300.000 Menschen in achtzig Städten Spaniens. Unter den Protestierenden waren prekarisierte Jugendliche, Arbeitslose, Zwangsgeräumte, Linke, aber auch Unpolitische. 

Sie gingen nicht nur gegen die europäische Austeritätspolitik auf die Straße, die der spanische Staat bereitwillig umsetzte und damit eine Neoliberalisierung sowie einen weitreichenden Abbau sozialstaatlicher Leistungen vorantrieb, sondern auch gegen die Krise der Demokratie, auf die der viral gegangene Protestslogan „Lo llaman democracia y no lo es“ (Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine) verweist (vgl. Zelik 2018: 55). Damit drückten die Demonstrant_innen ein grundsätzliches Unbehagen sowohl mit der franquistischen Kontinuität in den spanischen Staatsapparaten, als auch mit dem von Korruption geprägten berufspolitischen Betrieb aus (Huke 2017: 139, Zelik 2018: 48f). Außerdem protestierten die Menschen gegen die durch die Vielfachkrise ausgelöste weitreichende Verarmung und Prekarisierung, die es vielen unmöglich machte, überlebensnotwendige Grundbedürfnisse zu befriedigen (Candeias/Völpel 2014: 95). Alle drei Krisendynamiken wurden zum Anlass für die größten gesellschaftlichen Mobilisierungen Spaniens seit der Transición und führten zu einer fundamentalen Hegemoniekrise des spanischen Staats, die sich aus den „individuelle[n] alltägliche[n] Brucherfahrungen“ heraus verdichten konnte (Huke 2017: 221).

In der Nacht zum 16. Mai blieben die Puerta del Sol in Madrid und der Plaça Catalunya in Barcelona mit Zelten besetzt. In den kommenden Tagen kamen Protestcamps in 50 weiteren Städten hinzu (Huke 2017: 231). Dort kollektivierten die Besetzer_innen alltägliche Aufgaben des Kochens, des Putzens und des Schutzes vor Übergriffen. Die Vollversammlungen (Asambleas) wurden zu einem Symbol der Bewegung: Entscheidungen wurden meist basisdemokratisch getroffen, Horizontalität[2] galt als wichtiges Instrument, um die Beteiligung möglichst vieler Anwesender zu ermöglichen. Im Laufe der Mobilisierungen der darauffolgenden Monate entwickelte sich die Bewegung zu einem vielschichtigen sozialen Subjekt (Espinar/Abellán 2011: 137f). Doch trotz der Diversität der Protestierenden und der Inklusivität der Protestformen wurde immer wieder darauf verwiesen, dass es vor allem weiße Menschen mit Universitätsabschlüssen aber einer prekären Zukunftsaussicht waren, die die Proteste trugen. Besonders prekäre Arbeiter_innen, Migrant_innen sowie Arbeitslose fehlten weitestgehend (Huke 2017: 232). 

Nichtsdestotrotz entwickelte sich mit 15M in den kommenden Monaten ein sozialer Raum, der es neben der rasanten Politisierung großer Teile der Gesellschaft ermöglichte, alternative und nicht-repräsentative Formen der Demokratie zu erproben (Zelik 2018: 76, Lorey 2012a). Die Form der „Politik der ersten Person“ der Platzbesetzungen ermöglichte eine Wiederaneignung des Politischen außerhalb staatlicher Institutionen sowie das „Einbrechen des privaten Alltags in öffentliche Aushandlungsprozesse“ (Huke 2017: 253ff).

Die sozialen Proteste nach dem 15M

„Seguimos sin casa, sin curro, sin pensión y… ¡sin miedo!“ (Wir machen weiter ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Pension und … ohne Angst!)[3]

Auch wenn die Protestcamps auf den Plätzen nach einigen Monaten im Spätsommer wieder geräumt wurden, sei es aus Erschöpfung, Enttäuschung oder dem nicht zu stemmenden Arbeitsaufwand, den die Aufrechterhaltung der Camps gekostet hätte, bedeutete dies nicht das Ende des 15M: „Nach der Räumung der Plätze streut die Bewegung in die Barrios (die Nachbarschaften) – ohne sich zu zerstreuen“ (Candeias/Völpel 2014: 105). Gemeinsam mit sozialen Bündnissen, Gewerkschaften und linken Parteien mobilisierte die 15M-Bewegung zu vielen Protesttagen, -aktionen und Streiks, an denen häufig mehrere Hunderttausende teilnahmen[4]. In folgenden drei beispielhaften Organisierungsformen lebten die sozialen Proteste des 15M-Zyklus nach den Platzbesetzungen fort: 

Die PAH (Platforma de Afectados por la Hipoteca) ist ein Basisnetzwerk für Betroffene von Zwangsräumungen und Hypothekenschulden, das Formen direkter Aktion und reformistische Ansätze miteinander verbindet. Das Netzwerk besteht aus einer landesweiten Struktur von Basisgruppen, die sowohl gegenseitige Hilfe und Unterstützung, als auch die Verhinderung von Zwangsräumungen sowie Protestaktionen vor den Wohnungen von Politiker_innen (sogenannte esraches) organisieren. Mit der PAH entstanden in den Städten selbstorganisierte solidarische Parallelstrukturen und die 15M-Bewegung diffundierte damit in die peripheren und armen Stadtteile (Huke 2017: 236).

Neben den Kämpfen um Wohnraum entstanden besonders im Bildungs- und Gesundheitsbereich Protestbewegungen, die mareas: Die marea verde („grüne Flut“) richtete sich gegen die austeritätspolitischen Kürzungen im Bildungssektor und entfaltete ihre Dynamik anhand basisdemokratischer Vollversammlungen, aus denen heraus sowohl Streiks, als auch selbstorganisierte Strukturen innerhalb der Bildungseinrichtungen organisiert wurden (ebd. 240). Im Gesundheitssektor war es die marea blanca („weiße Flut“), die die Proteste gegen Kürzungen im Gesundheitswesen und die Privatisierung der Krankenhäuser bündelte. Migrant_innen, Patient_innen und Krankenhauspersonal organisierten sich gemeinsam und verhinderten die geplante Privatisierung der Madrider Krankenhäuser, ein Zeichen dafür, dass „Bewegungen auch schon vor dem Gang in die Institutionen durchaus erfolgreich Politik zu machen verstanden und dies bisweilen erfolgreicher als linke Parteien“ (Zelik 2018: 86). 

Aus den sozialen Bewegungen heraus entstanden außerdem die sogenannten munizipalistischen confluencias, die 2015 in die Stadtparlamente, etwa in Madrid (Ahora Madrid) und in Barcelona (Barcelona en Comú), einzogen. Munizipalistische Bewegungen streben danach, „kommunale Regierungen zu übernehmen oder zu beeinflussen, um lokale Institutionen (wieder) gemeinwohlorientiert auszurichten, ein neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu schaffen“ (Vollmer 2017: 147). Das gelang nur teilweise. Die Fallstricke der Institutionen führten oft dazu, dass sich die Stadtregierungen von den sozialen Bewegungen entfernten. Schnell fanden sie sich in wahltaktischen und parteipolitischen Erwägungen wieder und verloren so teilweise ihre basisdemokratische Anbindung aus dem Blick. 

Nichtsdestotrotz lebt in allen drei Bewegungen der Geist der Platzbesetzungen der 15M-Bewegung weiter. Basisdemokratie und Solidarstrukturen wurden von den Aktivist_innen aus den Camps heraus in die Viertel und Organisierungen getragen, Forderungen teilweise erfolgreich institutionalisiert, ohne vollständig von den Institutionen absorbiert zu werden.[5]

Über den (Miss-)Erfolg der Bewegung

„Vamos lento, porque vamos lejos.“ (Wir kommen langsam voran, weil unser Anspruch groß ist.)

Dass die Bewegung die Legitimität der herrschenden Ordnung untergraben konnte, zeigen unter anderem die Umfragewerte nach Ausbruch der Proteste: Etwa 80% der Bevölkerung teilten die Forderungen des 15M nach dem Ende der Austeritätspolitik und einer radikalen Demokratisierung (Zelik 2018: 77). Dennoch stellt sich die Frage nach dem transformatorischen Potenzial der Platzbesetzungen: So wird kritisiert, die Bewegung könnte „Plätze erobern, aber sie nicht halten“ und die Hegemonie des Neoliberalismus sei ungebrochen (Kastner 2012: 81). Demgegenüber halten Mario Candeias und Eva Völpel, beide Teil der institutionellen Linken, in Bezug auf Gramsci den Demokratiebewegungen zugute, dass sie dazu beigetragen haben, dass die Neoliberalen wohl noch in einer „herrschenden“, jedoch nicht mehr in einer „führenden“ Position seien (2014: 13). Für sie sind die Bewegungen „erfolgreich gescheitert“, da die „Ströme zivilgesellschaftlicher Organisierung“ zwar große Terraingewinne erringen, „die soliden Bastionen der Herrschaft“ jedoch nicht erreichen (ebd. 225). Sie kritisieren, dass sich die „Leidenschaften der Vielen eher um die alltagsnahen Kämpfe eines prekären Lebens, um die individuelle und soziale Reproduktion“ drehen, als die Hauptquartiere der Macht zu adressieren (2014: 235). Huke beschreibt die 15M-Bewegung als „destituierendes Ereignis“ (proceso destituyente), das verdrängt und zurücknimmt, anstatt eine neue Ordnung zu setzen, und sieht erst in den munizipalistischen Stadtregierungen eine Verschiebung hin zur konstituierenden Macht (proceso constituyente) (2017: 226, vgl. auch Möller 2015: 289). 

Die kritisierte strategische Schwäche der Bewegungen – ihre fehlende Orientierung auf die Hauptquartiere der Macht – möchte ich ihr jedoch zugutehalten. Wenn auch 15M nicht die Macht im spanischen Staat eroberte, kam es doch zum größten gesellschaftlichen Bruch mit dem spanischen Staat seit der Transición und zur Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsens. In den Protesten wurden neue Formen des Zusammenlebens, der Sorge und der Demokratie entwickelt und gelebt, eine Erfahrung, die nachhaltig prägend ist und von den Plätzen in die Gesellschaft diffundieren konnte (Zelik 2014). Wer die Platzbesetzungen jedoch als destituierendes Ereignis versteht, übersieht schnell die komplexen gesellschaftlichen Sorgebeziehungen, die im Rahmen der Proteste geknüpft wurden.

Eine solche Bewertung der Proteste geht über die Deutung von 15M, die sich bei Candeias und Völpel und in Ansätzen auch bei Huke finden, hinaus. Ihnen ist gemeinsam, wenn auch in verschiedenen Schattierungen, dass sie das transformatorische Potenzial in erster Linie in der Institutionalisierung politischer Forderungen oder gar der Eroberung der institutionellen Macht suchen und der Erprobung anderer Weisen des Zusammenlebens und Politikmachens weniger Wichtigkeit zusprechen. Doch genau aus der Alltagsnähe und der Zentralität von Fragen der Sorge, der Reproduktion, der Gesundheit und des Lebens entsteht das transformatorische Potenzial der Bewegung. Dass dies jedoch als Mangel kritisiert wird, ist kein Zufall, sondern hat strukturelle Gründe: Die Aberkennung der zentralen politischen Dimension von Alltagskämpfen und Fragen der Reproduktion, wie sie bei Candeias und Völpel hervorscheint, entspricht einem androzentrischen Verständnis von Transformation. Dieser Einordnung der Proteste werde ich eine systematisch feministische entgegensetzen, und zeigen, welches das transformatorische Potenzial die 15M-Bewegung aufweist, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Sorge und der Geschlechterverhältnisse betrachtet. 

Von der Sorgekrise zur Sorgegemeinschaft auf den Plätzen

„Wir denken Unabhängigkeit hieße, sich um niemanden sorgen zu müssen. Das stimmt nicht, wir hängen alle voneinander ab. (Precarias a la deriva, 2017)

Die Logik des Marktes mit dem Ziel des Profits und die Logik der Sorge[6] mit dem Ziel das Leben zu erhalten sind zwei antagonistische Logiken kapitalistisch-patriarchaler Gesellschaften, beschreibt das feministisch-aktivistische Kollektiv Precarias a la deriva, das in militanten Untersuchungen Facetten der Prekarität und feminisierten Arbeit in Spanien untersucht hat. Zum Zweck der Kapitalakkumulation wird die Logik der Märkte stets priorisiert, womit die Bedürfnisbefriedigung der Menschen einem Risiko ausgesetzt ist. Sorgetätigkeiten definieren die Precarias a la derivaals „Praktiken, die auf die Lebensführung sowie auf die alltägliche Erhaltung von Leben und Gesundheit ausgerichtet sind und die sich der sexualisierten Körper annehmen“ (dies. 2014: 64).[7] Historisch wie auch gegenwärtig ist die Sorge im Kapitalismus auf Frauen und Haushalte verwiesen. Sorgearbeiten sind die notwendige Basis des Überlebens, sie müssen dementsprechend stattfinden, werden jedoch als quasi natürliche Arbeiten unsichtbar gemacht und aus der öffentlichen Sphäre verbannt. Diese Konstruktion der Sorge als unsichtbares Kontinuum ermöglicht es, die Abhängigkeit von der Sorge zu verdecken: Frauen gelten als ‚abhängige Personen’, wobei „normalerweise die Abhängigkeit von der Sorge verschwiegen wird. […] In diesem Sinn sind die Männer absolut von den Frauen abhängig“ (Carrascro zit. n. Precarias a la deriva 2017: 40f). Die Abwertung der Sorge korrespondiert mit dem bürgerlich-männlichen Ideal des unabhängigen, sich selbst versorgenden und autonomen Individuums. Dem setzen die Precarias a la deriva allseitige Abhängigkeit und Interdependenz als Grundlage gesellschaftlichen Seins entgegen.

Mit dem Auseinanderbrechen des fordistischen Familienarrangements sowie dem Rückbau des Wohlfahrtsstaats kommt es zu einer Sorgekrise, welche sich durch eine „Zunahme des Sorgebedarfs, die auf eine wachsende Schwierigkeit stößt, diese Bedürfnisse zu befriedigen“, auszeichnet (ebd.). Durch die Vielfachkrise seit 2007 spitzt sich die Sorgekrise in Spanien weiter zu: Zahlreiche sozialstaatliche Unterstützungen fallen der Austeritätspolitik zum Opfer und die familiären Solidaritäts- und Sorgenetzwerke erfahren eine Überlastung. Für viele Menschen ist es unter diesen Umständen unmöglich, überlebenswichtige Grundbedürfnisse zu sichern. 

Es kann also eine Tendenz der „Prekarisierung der Existenz“ festgestellt werden, „die eine elementare Ungewissheit in Bezug auf einen nachhaltigen Zugang zu jenen Ressourcen bedingen, die für die volle Lebensentfaltung eines Subjekts grundlegend sind“ (dies. 2005 zitiert in 2014: 57). Dieser weite Prekarisierungsbegriff meint nicht nur die „mangelnde Absicherung durch Lohnarbeit“ oder unsichere Arbeitsplätze, sondern umfasst „die gesamte Existenz, den Körper und die Subjektivierungsweisen“ (Lorey 2012b: 13; Butler 2009).[8] (Über-)Leben ist prekär, da es von Beginn an von „sozialen Netzwerken […], von Sozialität und der Arbeit anderer abhängt“ (Lorey 2012b: 33). Und umgekehrt: „Leben hängt, weil es prekär ist, in entscheidendem Maße von Sorge und Reproduktion ab“ (ebd.). 

Feministisch-aktivistische Theoretiker*innen, wie Isabell Lorey, Judith Butler und die Precarias a la deriva plädieren deshalb dafür, die geteilte Erfahrung des Prekärseins zum Ausgangspunkt für Kämpfe zu machen, der Einsicht folgend, dass „Prekärsein nichts allein Individuelles“ ist, sondern „jederzeit relational und deshalb geteilt mit anderen prekären Leben“ (Lorey 2012b: 25). Die Antwort auf diese Einsicht ist eine strategische Aufwertung der Sorgearbeit in feministischer Absicht, anhand derer sowohl ein Verständnis von Relationalität und Abhängigkeit als Mangel zurückgewiesen wird, als auch der wachsenden Unsicherheit des Lebens und Überlebens in der Krise etwas entgegengesetzt werden soll.[9] Die Precarias a la deriva schlagen eine „Sorgegemeinschaft“ als Lebensform vor, in deren Zentrum die Sorge und das kollektive Leben und Arbeiten sowie die Infragestellung von Unterwerfungsverhältnissen steht. 

Feminisierung der Politik?

La revolución será feminista o no será.“ (Die Revolution wird feministisch sein oder sie wird nicht sein.)[10]

Neben der öffentlichen Inszenierung der körperlichen Bedürfnisse, deren Befriedigung mit der Krise zunehmend unsicher wurde, entstanden auf den spanischen Plätzen neue Beziehungen und Formen des Zusammenlebens. Indem man sich kollektiv organisierte, brach man aus der neoliberalen Individualisierung aus. Weiblich konnotierte und im Privaten unsichtbar gemachte Sorgearbeiten wurden vergemeinschaftet und damit eine andere Organisierung gesellschaftlicher (Reproduktions-)Arbeiten für den Moment der Platzbesetzungen möglich. 

Da Sorgearbeiten, Prekarität und Relationalität den Mittelpunkt der Protestform bildeten, spricht die spanische Linke häufig von einer „Feminisierung der Politik“, anhand derer es gelang, für den Zeitraum der Besetzungen patriarchale Geschlechterstereotype abzubauen (Galcerán 2017: 108). Diese Tendenz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass während der 15M-Bewegung von Aktivist_innen mehrfach kritisiert wurde, dass es von männlichen Aktivisten häufig Widerstand und Unverständnis gegenüber feministischen Positionen gab und ein Reflexionsprozess über (hetero-)sexistische Herrschaftsverhältnisse erst durch die feministische Kommission angestoßen werden musste (vgl. Galcerán 2012).

Die Zentralität von Sorgearbeiten und alltäglichen körperlichen Bedürfnissen blieb auch in den sozialen Protesten im Anschluss an die Platzbesetzungen erhalten und verschwand nicht mit den Zelten. Sie fand sich wieder in den Nachbarschaftsinitiativen, in den Kampagnen gegen Zwangsräumungen der PAH, in den mareas im Bildungs- und Gesundheitsbereich (beides Arbeitsbereiche, in denen vornehmlich Frauen unter prekären Bedingungen beschäftigt sind) und nicht zuletzt in den munizipalistischen confluencias. Durch lokale Verankerung und Horizonatlität versuchte man auch weiterhin „Macht zu verteilen, anstatt sie zu konzentrieren“, um nicht in die Falle repräsentativ-demokratischer Entpolitisierung oder der Herausbildung männlicher Führungsfiguren zu treten (Galcerán 2017: 106). 

Eine Loslösung von der Idee des autonomen unabhängigen Individuums hin zu einer „Praxis der Verbundenheit mit anderen“ sehen Lorey und Butler in den Platzbesetzungen der Demokratiebewegungen 2011 verwirklicht (Lorey 2017: 117; vgl. Butler 2012). Im gemeinsamen Putzen des Platzes, Kochen, der Kollektivierung reproduktiver Arbeiten und der Besetzung des öffentlichen Raums durch überlebenswichtige Infrastrukturen (wie z.B. Zelte als Dach über dem Kopf) entstand eine neue Form der Politik, durch welche zumeist privatisierte Tätigkeiten der Sorgearbeit sichtbar gemacht wurden: „Die Körper handelten gemeinsam, sie schliefen aber auch in der Öffentlichkeit, und sie waren in diesen zwei Modalitäten gleichermaßen vulnerabel und fordernd, gaben elementaren körperlichen Bedürfnissen eine politische und räumliche Organisation“ (Butler 2012).

So kann die 15M-Bewegung sowohl als Bewegung „für eine andere Form von Demokratie und auch Ökonomie“ gefasst werden, als auch als „Kämpfe der heterogenen Prekären für eine neue Weise sozialer Reproduktion“ (Lorey 2017: 119). Indem die Protestierenden die „Grundbedürfnisse des Körpers [ins] Zentrum der politischen Mobilisierungen“ (Butler 2017: 51) stellten, machten sie auf die durch die multiple Krise verschärfte Prekarisierung ihrer Existenz aufmerksam: Wenn ihr uns aus den Häusern zwangsräumt, werden wir die Zelte in der Stadt aufschlagen. Wenn unser Lohn so mies ist, dass wir uns nicht mal mehr Essen leisten können, teilen wir es mit anderen. Wenn das Gesundheitssystem so marode ist, dass wir daran zugrunde gehen, kümmern wir uns gegenseitig um unsere Gesundheit. 

Deutlich wird, dass die Platzbesetzungen des 15M sowie die darauffolgenden Mobilisierungen aus dem Blickwinkel der alltäglichen Kämpfe um Sorge, Leben, Reproduktion und Solidarität erhebliches transformatives Potenzial entwickeln konnten. Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle auch auf zwei Probleme dieser Deutung der Proteste hindeuten. Das erste Problem besteht darin, dass konsens-orientierte horizontale demokratische Formen neue Ausschlüsse begründen, etwa derjenigen, die keine Zeit oder keine Produktionsmittel haben, um sich daran zu beteiligen (Demirovic 2014). Horizontalität und offene Diskussionsrunden ohne Verfahren, die die Beteiligung aller sowie die Verbindlichkeit von Entscheidungen sichern, reichen nicht aus für ein demokratisch-transformatorisches Projekt und sind nur schwer verallgemeinerbar. Sowohl Lorey als auch Butler laufen in ihrer Analyse Gefahr, das demokratische Potenzial der Bewegung zu überhöhen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass durch den Fokus auf die Praxen der sozialen Bewegungen leicht eine Fetischisierung ihrer Formen geschehen kann. Folge ist, dass die Emanzipation mehr in den Praxen und Formen, als in der tatsächlichen Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse gesucht wird. 

Transformation als synaptische Konstruktion

„Statt Einheit des Zwangs und bindungsloser Differenz kann das Gemeinsame dann als das erscheinen, was die Vielen miteinander teilen. Als Gleiche und Freie in Solidarität.“ Bini Adamczak 2017: 285)

„Die Leute in der Nachbarschaft entwickeln andere Beziehungsformen, sie zeigen Solidarität mit ihren migrantischen Nachbar_innen. Wenn sie im Vorübergehen zufällig einen rassistischen Polizeiüberfall sehen, dann bleiben sie stehen und intervenierten“ (zit. n. Weibel 2012: 105), berichtet Die Aktivistin Martha Viniegra über ihr Viertel Lavapiés in Madrid. Wie viele andere beschreibt sie die gesellschaftliche Veränderung während und nach den Platzbesetzungen auf der Ebene der Beziehungen. Ein Transformationsverständnis, in dessen Zentrum Beziehungsweisen stehen, führt die marxistische Queertheoretikerin Bini Adamczak in ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution“ (2017) aus. Im Zentrum ihrer Revolutionstheorie steht der Begriff der Beziehungsweise: Beziehungsweisen umfassen sowohl Weisen der Produktion als auch der Reproduktion, Nah- und Fernbeziehungen. Revolutionen sind nach Adamczak Prozesse sozialer Transformation, innerhalb derer neue Beziehungsweisen geknüpft werden: „Dort, wo die am stärksten verdinglichten und verfestigten Beziehungsweisen, jene, die kaum überhaupt als Beziehungen erscheinen, reflexiv zur Disposition gestellt werden, lässt sich von Revolution sprechen“ (2017: 245). Indem sie die Beziehung und nicht etwa das Kapital, den Staat oder das Subjekt ins Zentrum ihrer Revolutionstheorie stellt, versucht sie gleichzeitig einen theoretischen Ausweg aus der „Strukturfixiertheit“ des klassischen Marxismus und der Alten Linken einerseits und der „Singularitätsfixiertheit“ der Postmoderne und der Neuen Linken andererseits zu finden (ebd. 250). 

Der revolutionäre Prozess entspricht einer synaptischen Konstruktion: Er ist konstruktiv, indem er neue Beziehungsweisen entstehen lässt und mehr schafft als zerschlägt. Er ist synaptisch, da er nicht aus dem Nichts erschafft, sondern bereits Bestehendes neu verbindet. Solidarität wird zu oft auf einen Effekt oder ein Mittel der Revolution reduziert, auch wenn es eigentlich „die Konstruktion solidarischer Beziehungsweisen [ist], um derentwillen die revolutionäre Aktion überhaupt unternommen wird (ebd. 265)“. Da Revolutionen im Sinne Adamczaks immer auch soziale Transformationsprozesse sind, in denen die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Trennung der Sphären in Öffentlich und Privat, Produktion und Reproduktion, Rationalität und Emotionalität zur Disposition steht, befinden sich Geschlechterverhältnisse nicht in der Peripherie, sondern „im Herzen der Revolution, im Zentrum der Neugestaltung der Gesellschaft“ (ebd. 108).

Mit ihrer Revolutionstheorie schafft Adamczak einen theoretischen Ausweg aus den Schwächen und Widersprüchen der Deutungen der 15M-Bewegung, die sowohl bei Candeias und Völpel und in Ansätzen auch bei Huke, als auch bei Butler und Lorey zutage traten. Ein Verständnis von Transformation, wie es Candeias und Völpel stark machen, das auf die Zentren der Macht orientiert, lässt sich mit Adamczak als zentralistisch kritisieren. Ein solches Denken schätzt Veränderungen der Subjektivierungsweisen, der alltäglichen Lebensformen und der Reproduktion zu gering. Adamczak schlägt vor, stattdessen die Konstruktion befriedigender und solidarischer Beziehungsweisen in den Mittelpunkt zu rücken und damit die Revolution zu dezentrieren (und auch zu entmaskulinisieren). Die Gefahr, die Praxen der Bewegungen zu fetischisieren, die sich aus der Perspektive Butlers und Loreys ergeben kann, sieht Adamczak auch in einer Fetischisierung der Revolution, die sie vom Mittel zum Zweck macht. Anstatt die Revolution um der Revolution willen zu machen, schlägt sie vor, die solidarischen Beziehungsweisen als dasjenige zu sehen, wegen der die Anstrengung unternommen wird. In diesem Sinne besteht das eigentliche Dilemma, das Butlers und Loreys Theorien aufwerfen, jedoch in der Frage, wie die im revolutionären Moment praktizierten solidarischen Beziehungsweisen verallgemeinert und über den Ort und die Zeit der Besetzungen und Initiativen hinweg gerettet werden können, dass sie mehr zur gesellschaftlichen Realität werden und nicht nur als Möglichkeit besonderer Momente erscheinen. 

Die sorgenden Beziehungsweisen der 15M-Bewegung

„Die Verbindungen unter den Leuten, die sich nicht kannten, waren greifbar. […] Etwa 130.000 Personen hatten in allen Winkeln des Landes die Straßen erobert. Sie ließen die Körper vor Empörung erzittern und zerschlugen ihre Atomisierung und soziale Impotenz“(Javier Toret zit. n. Weibel 2012: 98f).

Von diesen Überlegungen ausgehend möchte ich abschließend zwei Fragen hinsichtlich der Analyse der spanischen 15M-Bewegung und der anschließenden sozialen Proteste stellen: Einerseits soll untersucht werden, inwiefern das Knüpfen neuer und solidarischer Beziehungsweisen im Rahmen der Bewegung eine synaptische Konstruktion im Sinne Adamczaks relationaler Revolutionstheorie darstellt. Darüber hinaus möchte ich analysieren, welche geschlechtlichen Konstruktionen sich in den geknüpften Beziehungsweisen wiederspiegeln und ob sie den Ansprüchen einer queerfeministischen Transformationstheorie gerecht werden können. 

„Die Tatsache, dass wir uns umeinander kümmern, schafft eine völlig andere Form von Beziehung“ sagt die Aktivistin Lucía in einer Asamblea in Madrid (zit. n. Waibel 2012: 201). Schenkt man den Stimmen der Besetzungen, der Versammlungen und Nachbarschaftsinitiativen Glauben, die ähnliches beschreiben wie Lucía, ist es der 15M-Bewegung gelungen, neue Formen des Zusammenlebens, des sich-umeinander-Kümmerns und der Beziehungsweisen im Sinne Adamczaks zu konstituieren. Im Zentrum der Mobilisierung stand nicht das Ziel, die Staatsmacht zu erringen, es wurden weder Anführer zur Repräsentation gewählt, noch wurde ein konkreter Forderungskatalog verabschiedet. Im Zentrum stand auch nicht die Subversion auf der Ebene des Subjekts. Im Zentrum stand der Versuch, andere Formen von Gemeinschaftlichkeit und Demokratie zu erproben, die sich den herrschaftlichen Strukturen widersetzen und dabei die Möglichkeit einer anderen, solidarischen Gesellschaft erfahrbar machen. Es ging weder um das Einzelne noch das Ganze, sondern um „jene Verbindungen, aus denen die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft besteht“ (Adamczak 2017: 246). So war die 15M-Bewegung trotz ihrer radikalen Herrschaftskritik und ihrem lauten „So nicht!“ mehr konstruktiv als destruktiv, mehr konstituierend als destituierend. Die in den Besetzungen und Initiativen geknüpften Beziehungsweisen waren Beziehungen der Sorge und der gemeinschaftlichen Organisierung alltäglicher und körperlicher Bedürfnisse, die durch die austeritätspolitisch und neoliberal verschärfte Prekarisierung der Existenz einer Vielzahl an Menschen verwehrt blieb. 

Drei wichtige Momente dieser geknüpften solidarischen und sorgenden Beziehungsweisen möchte ich nennen, die die herrschende Ordnung unterlaufen und in Teilen vielleicht sogar aufkündigen konnten. Erstens wurde in den Besetzungen die Sphärentrennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Produktion und Reproduktion, Rationalität und Emotionalität aufgebrochen. Überlebensnotwendige Dinge wie Ernährung, Gesundheit, Ordnung, die traditionell aufs Private und Weibliche verwiesen sind, wurden öffentlich inszeniert und kollektiviert. So wie der Begriff der Beziehungsweise theoretisch diese Grenzen überwindet, schaffte die 15M-Bewegung jene Überwindung auf praktischer Ebene. Das gelang zweitens dadurch, dass die Kriterien der Abwertung der privaten Sphäre und der Sorgearbeiten zu allgemeinen Charakteristika des Sozialen erklärt wurden: Abhängigkeit und Relationalität galten nicht mehr als Mangel, sondern als Bedingung menschlichen Seins und wurden auf diese Weise emanzipatorisch gewendet. Der Versuch einer demokratischen Gestaltung der gegenseitigen Abhängigkeit, die im Kapitalismus sonst über Tauschwert und Märkte bestimmt ist, ist auf den Plätzen und in den darauffolgenden Mobilisierungen gelungen. Ein dritter Moment ist, dass die 15M-Bewegung in ihrer Praxis einen Weg aus der Isolation, der Individualisierung und künstlichen Verarmung der neoliberalen Subjektivierungsweisen fand. Durch Gemeinschaftlichkeit, Kollektivität und Solidarität wurde die für den Neoliberalismus paradigmatische Auflösung von Beziehungen unterlaufen. In allen drei Momenten sehe ich die eine radikale soziale Transformation hin zu solidarischen Beziehungsweisen. 

Ohne dass feministische Forderungen zentraler Motor für die Mobilsierungen waren oder es einen feministischen Konsens innerhalb der Bewegung gab, realisierte die Bewegung auf ihre Art eine feministische Praxis: Sowohl die Infragestellung der Sphärentrennung in öffentlich/privat als auch die Aufwertung der gegenseitigen Abhängigkeit und Bezogenheit sind basale feministische Anliegen, die ohne als solche kommuniziert zu werden auf den Plätzen und in den Vierteln verwirklicht wurden. Praxen der Sorge, der Solidarität und der Affektivität gaben der Bewegung ihre Form und stellten ihren feministischen Kern dar. In diesem Sinne stimmt die in der spanischen Linken oft geäußerte These, es handele sich um eine „Feminisierung der Politik“.

Dennoch sollte man nicht unkritisch den Beschränkungen der Demokratiebewegungen 2011 und dem 15M gegenüber bleiben, auch in Bezug auf Geschlechterverhältnisse: Denn selbst wenn durch die widerständigen Praxen elementare feministische Forderungen im Hier und Jetzt realisiert wurden, klagten Frauen und Queers häufig über den Machismo der 15M-Bewegung. Und auch wenn über die Proteste feministische Forderungen gesellschaftlich verbreitet wurden, sitzt das Patriarchat noch fest im Sattel. Das weist auf ein grundsätzliches Dilemma hin: Die Entwicklung einer neuen, emanzipatorischen Ordnung, bedeutet im Umkehrschluss nicht das Ende der herrschenden. Darüber hinaus gibt es Gründe, warum der Begriff der Revolution, so wie ihn Adamczak verwendet, auf die angestoßenen Prozesse nicht zutrifft.

Offensichtlich blieben die Ereignisse von 2011 in ihrer welthistorischen Schlagkraft beschränkt. Ein Grund dafür ist meines Erachtens die Schwierigkeit, wie die transformatorischen Ereignisse, in denen solidarische Beziehungsweisen geknüpft und gelebt werden, über die Momente des Ereignisses herausreichen und wie die erprobten Beziehungsweisen zu gesellschaftlich verallgemeinerbaren Beziehungsweisen werden können. In Adamczaks Vokabular geht es um das Verhältnis von Revolution und Postrevolution, in Loreys um das Verhältnis von konstituierender und konstituierter Macht. Letztere bleibt in Loreys und Butlers Theoretisierung der 15M-Bewegung unterthematisiert, bei Candeias und Völpel wird sie zu sehr verstanden als institutionelle und Staatsmacht. Mit Adamczak kann man für 15M feststellen, dass die Bewegung in den Momenten der Besetzungen und der darauffolgenden sozialen Proteste einen konstruktiven Prozess der Transformation von Beziehungsweisen anstießen und verwirklichten, es jedoch schwerfiel die neuen Beziehungsweisen auf Dauer zu stellen und zu verallgemeinern. Die Diffusion der Proteste in die Gesellschaft blieb eine Diffusion und wurde nicht zu einer Umwälzung. So erschien die Gesellschaft nach den 15M-Protesten nur in kleinen Teilen „als Ensemble solidarischer Beziehungsweisen“ (Adamczak 2017: 265). Dennoch, und das ist meines Erachtens nach die größte Hoffnung, lässt sich an diesen Prozess anknüpfen. Die Erfahrung, dass eine andere Gesellschaft möglich ist und Beziehungen der Solidarität untereinander geschlossen wurden, lässt sich so einfach nicht tilgen. Und selbst wenn der 15M nicht die Revolution war, die sich viele erhofft hatten, lässt sich sowohl praktisch als auch theoretisch an die sorgenden Beziehungsweisen der Bewegung anknüpfen. Diesen sollten wir mehr Aufmerksamkeit schenken, um über Fragen der Institutionalisierung und Verallgemeinerung sorgender Beziehungsweisen nachzudenken sowie darüber, wie diese in der Theorie und Praxis in neue Formen des Regierens jenseits von Parteipolitik und Repräsentation übersetzt werden können. 

Literaturverzeichnis

Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.

Brown, Wendy (1999): Resisting Left Melancholy. In: boundary 2  26 (3). S. 19-27. 

Butler, Judith (2009): Frames of War. When is Life Grievable? London: Verso. 

Dies. (2012): Körper in Bewegung und die Politik der Straße. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/koerper-in-bewegung-und-die-politik-der-strasse/ (14.09.2018)

Dies. (2017): „Wir sind das Volk“: Überlegungen zur Versammlungsfreiheit. In: Badiou, Alain/Butler, Judith/Didi-Huberman, Georges/Khiari, Sadri/ Ranciére, Jacques: Was ist ein Volk? Hamburg: Laika. S. 39-55.

Candeias, Mario/Völpel, Eva (2014): Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland. Hamburg: VSA Verlag. 

Coppens, Julian/Nichols, Dick (2018): „Wenn wir streiken steht die Welt still“ – Wie der spanische Frauenstreik zum Erfolg wurde. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wenn-wir-streiken-steht-die-welt-still/ (14.09.2018)

Cooper, Melinda/Federici, Silvia (2012): Von der Hausfrau zur Leihmutter. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus. In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 4/12. S.18-28.

Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hrsg.) (2011): Vielfachkrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg: VSA Verlag.

Demirovic, Alex (2014): Kontrovers: Partizipation und Demokratie. Ein neues Projekt der Demokratisierung. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-partizipation-und-demokratie/ (14.09.2018)

Dück, Julia/Hajek, Katharina (2019): Editorial: Krisen der Reproduktion. „A women’s work is never done“ – Soziale Reproduktion in der Debatte. In: PROKLA 49 (4), S. 500-514.

Espinar, Ramón/Abellán, Jacobo (2011): „Lo llaman democracia y no lo es“ Eine demokratietheoretische Annäherung an die Bewegung des 15. Mai. In: PROKLA 42 (1). S. 135-149.

Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler.

Galcerán, Montserrat (2012): Demokratie, Gouvernementalität und das „Gemeinsame“ in der spanischen 15M-Bewegung. Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald: Inventionen 2. Exodus. Immanenz. Territorium. Maßlose Differenz. Biopolitik. Zürich: Diaphanes. 

Dies. (2017): Die Zukünfte des Munizipalismus. Feminisierung der Politik und demokratische Radikalisierung. In: Brunner, Christoph/Kubaczek, Niki/Mulvaney, Kelly/Raunig, Gerald (Hrsg.): Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte. Wien: transversal texts. S. 105-111.

Huke, Nikolai (2017): Die repräsentieren uns nicht. Soziale Bewegungen und Krisen der Demokratie in Spanien. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Kastner, Jens (2012): Platzverweise. Die aktuellen sozialen Bewegungen zwischen Abseits und Zentrum. In: Kastner, Jens/Lorey, Isabell/Raunig, Gerald/Waibel, Tom: Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen. Wien: Turia + Kant. S. 50-86.

Lorey, Isabell (2012a): Praktizierte Demokratie in den Besetzungen: Eine konstituierende Macht. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/praktizierte-demokratie-in-den-besetzungen-eine-konstituierende-macht/ (14.09.2018)

Dies. (2012b): Die Regierung der Prekären. Wien: Turia + Kant.

Dies. (2016a): Präsentische Demokratie. Radikale Inklusion, Jetztzeit, konstituierender Prozess.  In: Demirovic, Alex (Hg.): Transformationen der Demokratie – demokratische Transformationen

Dies. (2016b): Von Regimen der Prekarisierung zur Cuidadanía. Für ein sorgegeleitetes Verständnis des sozialen Bandes. In: Bedorf, Thomas/Herrmann, Steffen: Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs. Frankfurt a.M.: Campus.

Dies. (2017): Sorge im Präsens. Verbundenheit, Sorge, _Mit_. In: Bärtsch, Tobias/Drognitz, Daniel/Eschenmoser, Sarah/Grieder, Michael/Hanselmann, Adrian/Kamber, Alexander/Rauch, Anna-Pia/Raunig, Gerald/Schreibmüller, Pascale/Schrick, Nadine/Umurungi, Marilyn/Vanecek, Jana (Hrsg.): Ökologien der Sorge. Wien: tranversal texts. S. 113-122. 

Möller, Kolja (2015): Formwandel des Konstitutionalismus. In: ARSP 101 (2). S. 270-289. 

Precarias a la deriva (2014): Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität. Wien: transversal texts. 

Dies. (2017): Globalisierte Sorge. In: Bärtsch, Tobias/Drognitz, Daniel/Eschenmoser, Sarah/Grieder, Michael/Hanselmann, Adrian/Kamber, Alexander/Rauch, Anna-Pia/Raunig, Gerald/Schreibmüller, Pascale/Schrick, Nadine/Umurungi, Marilyn/Vanecek, Jana (Hrsg.): Ökologien der Sorge. Wien: tranversal texts. S. 25-96. 

Sánchez Cedillo, Rául (2020): Un Gobierno inevitable. Unas ilusiones prescindibles. In: El Salto vom 15.01.2020. Verfügbar unter: https://www.elsaltodiario.com/gobierno-coalicion/un-gobierno-inevitable.-unas-ilusiones-prescindibles?

Sauer, Birgit (2016): Demokratie, Geschlecht und Arbeitsteilung. In: Alex Demirović (Hrsg.), Transformation der Demokratie – demokratische Transformation. Münster: Westfälisches Dampfboot.  S. 154–173.

Vollmer, Lisa (2017): Keine Angst vor Alternativen. Ein neuer Munizipalismus. In: Suburban 5 (3). S. 147-156.

Weibel, Tom (2012): Das Unmögliche ist unaufhaltbar. Oder: Woran erkennt man eine Revolution? In: Kastner, Jens/Lorey, Isabell/Raunig, Gerald/Waibel, Tom: Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen. Wien: Turia + Kant. S. 87-112.

Zelik, Raul (2014): Elf Thesen zu Podemos und der „demokratischen Revolution in Spanien“. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/thesen-zu-podemos-und-der-demokratischen-revolution-in-spanien/ (14.09.2018)

Ders. (2018): Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart. Berlin: Bertz + Fischer.


[1] Motto der Demonstration am 15.05.2011, die in der Besetzung der Puerto del Sol mündete. 

[2] Candeias und Völpel kritisieren eben diesen oft unhinterfragten Horizontalismus, da er sowohl jede Form von Strukturierung und Organisierung ablehne, als auch dazu führe, dass sich informelle, meist männliche Führer herausbilden (2014: 51). Dem ist entgegenzuhalten, dass in der 15M-Bewegung von Beginn an Arbeitsgruppen und Komitees entstanden, der Horizontalismus deshalb weniger Dogma als „Anfang, von dem aus mit unterschiedlichen Formen von Delegation, abhängigen Mandaten und Räten bis zur Bildung neuer Parteiformen experimentiert“ wurde (Lorey 2016a: 272).

[3] Slogan zur Demonstration am dritten Jahrestag des 15M.

[4] Darunter fallen der globale Aktionstag der „Empörten“, an dem 200.000 Menschen in Spanien auf die Straße gingen, die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform im Februar 2012 mit 450.000 Protestierenden, der Generalstreik im März mit fast einer Million Demonstrant_innen sowie die Aktionen zur „Umzingelung des Parlaments“ im September 2012. Zwei Jahre später, 2014 durchquerten die „Marchas de la Dignidad“ unter dem Motto „Brot, Arbeit, Wohnen, Würde“ drei Wochen lang das Land (Zelik 2018: 81f). Danach waren es die katalonische Unabhängigkeitsbewegung und die feministischen Mobilisierungen, die eine große internationale Strahlkraft entfalten. So streikten im Rahmen eines feministischen Streiks am 8. März 2018 in Spanien sechs Millionen Frauen und Queers (Coppens/Nichols 2018).

[5] Mehrere Jahre nach der 15M-Bewegung regiert seit Januar 2020 eine Linkskoalition, bestehend aus der sozialdemokratischen PSOE und dem Linksbündnis Unidas Podemos (UP), den spanischen Staat. Diese Linksregierung hätte es ohne die Bewegung zwar nicht so gegeben, was für eine erfolgreiche Verschiebung hegemonialer Koordinaten spricht. Entstanden ist sie jedoch als letzte mögliche Option nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen und monatelangem Taktieren. So wird sie in der spanischen Linken mit gemischten Gefühlen aufgenommen, von einigen mit Hoffnung, vielen jedoch mit Skepsis. Transformation entstehe nicht durch die Regierung, sondern in den sozialen Kämpfen um Produktion und Reproduktion; eine Regierung, die das nicht erleichtere sei eine gegnerische Regierung, kommentiert etwa der Aktivist und Übersetzer Sánchez Cedillo (2020).

[6] Neben dem Begriff der Reproduktionsarbeit verwende ich in Anlehnung an die Precarias a la deriva den Begriff der Sorgearbeit. Trotz großer Überschneidungen geht ihr Konzept der Sorgearbeit an einigen Stellen über das der Reproduktionsarbeit hinaus. So ermöglicht es der Begriff der Sorgearbeit außerhalb der Logik von Re-/Produktion auch noch Beziehungsarbeit und damit affektive und emotionale Komponenten mitzudenken (vgl. Sauer 2016: 157). Darüber hinaus überschreitet er die heteronormative und geschlechtsspezifische Unterteilung von Produktion und Reproduktion. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass die (Re-)Produktionsverhältnisse des Postfordismus eine klare Trennung von produktiven und reproduktiven Arbeiten nicht mehr zulassen. Immer mehr Sorgearbeiten zirkulieren als kommodifizierte Dienstleistungen außerhalb der häuslichen Sphäre und sind längst integraler Teil der Mehrwertproduktion geworden (Lorey 2012b: 106f; Cooper/Federici 2012: 19; zur Debatte um soziale Reproduktion allgemein Dück/Hajek 2019).

[7] Konkreter definiert Lorey die Bedürfnisse, welche Sorgearbeiten notwendig machen: „Körper brauchen ein Dach über dem Kopf, Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten, Nahrung, Sexualität, sowie Unterstützung, wenn sie krank werden“ (2016b: 179).

[8] Prekarität, selbst wenn sie mit diesem weiten Verständnis als Existenzbedingung gefasst wird, betrifft nicht alle gleichermaßen, sondern ist entlang vielfältiger Herrschaftsverhältnisse ungleich stark ausgeprägt: Besonders in der Krise leiden Arme, Frauen und Migrant_innen in verstärktem Maße unter der Unsicherheit ihres Lebens und ihrer Arbeit (vgl. Butler 2009: 25).

[9] In dem Text „Was ist dein Streik?“ der Precarias a la deriva folgt aus den Überlegungen zur Sorgekrise und zur Prekarisierung der Existenz der strategische Vorschlag des Sorgestreiks. Im Jahr 2018 haben am 8. März sechs Millionen Frauen ihre Sorgearbeiten niedergelegt und damit einen der größten Streiks der Geschichte Spaniens durchgeführt. Dieser Frauenstreik hängt zwar nicht unmittelbar mit der 15M-Bewegung zusammen, ist jedoch durchaus vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Mobilisierungen im Anschluss an die Platzbesetzungen zu verstehen. Siehe auch Coppens/Nichols (2018).

[10] Spruch auf einem Plakat, das an der Puerta del Sol heruntergelassen wurde.