Joachim Hirsch
1980 erschien im damals noch existierenden Athenäum-Verlag mein Buch „Der Sicherheitsstaat – Das „Modell Deutschland, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen“. Anlass dazu war der Ausbau der staatlichen Kontroll- und Überwachungsbefugnisse im Zuge des Kampfs gegen die RAF im „Deutschen Herbst“. Das hat die kritische Öffentlichkeit damals stark beschäftigt. Meine Untersuchung sollte zeigen, dass die sicherheitstechnische Aufrüstung der staatlichen Apparatur mehr war als eine aktuelle und situationsbezogene Maßnahme, sondern vielmehr eine Reaktion auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen darstellte. Die politische und gesellschaftliche Stabilität, die die Nachkriegsjahre charakterisiert und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gesichert hatte, schien bedroht. Dies war eine Folge der Krise des als „Modell Deutschland“ bezeichneten, korporatistisch regulierten fordistischen Nachkriegskapitalismus. Die Krise hatte nicht nur ökonomische, sondern erhebliche gesellschaftliche und politische Dimensionen. Dazu gehörten soziale Desintegrationsprozesse – etwas euphemistisch als „Individualisierung“ bezeichnet, die Auflösung traditioneller Sozialmilieus, Normensysteme und Wertorientierungen sowie damit verbunden das Auftreten der sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Die Geschlossenheit der politisch-weltanschaulichen Lager begann zu bröseln und das Funktionieren der bis dahin wirksamen Integrationsmechanismen, insbesondere die Stabilität des Parteiensystems schien bedroht. Die Gründung der GRÜNEN war nur der Anfang einer langfristigen Entwicklung. In kritischen Diskussionen war vom „Bürger als Sicherheitsrisiko“ die Rede. Dieses Argument wurde durch die Tatsache untermauert, dass die Sicherheitsgesetze auch dann nicht aufgehoben wurden, als die RAF keine Rolle mehr spielte. Sie wurden vielmehr im Laufe der Zeit immer weiter komplettiert.
Als Reaktion auf die immer deutlicher werdende Krise der fordistischen Formation und der dadurch verursachten Bedrohung des Kapitalprofits kam es zur Durchsetzung einer neuen ökonomischen Ordnung nach neoliberalen Prinzipien. Diese war vor allem durch eine weitgehende Deregulierung der Waren- und Finanzmärkte gekennzeichnet – auch „Globalisierung“ genannt. Die bisher noch relativ gegeneinander abgeschotteten nationalen Ökonomien transformierten sich in ein System von „Wettbewerbsstaaten“, deren Politik maßgeblich von den Interessen des international operierenden Kapitals bestimmt wurde. Der entsprechende Umbau des politischen Systems war durch eine stärkere Abschottung der politischen Apparatur gegenüber gesellschaftlichen Interessen gekennzeichnet. Infolge der ökonomischen Krise in den 1970er Jahren wurde Massenarbeitslosigkeit wieder zum strukturellen Problem. Die sozialen Sicherheitssysteme wurden demontiert. Formelle demokratische Prozesse drohten unter dem Druck scheinbarer Sachzwänge leer zu laufen. Die dadurch sich ausbreitende „Politikverdrossenheit“ in weiten Teilen der Bevölkerung wurde wegen der damit verbundenen unkalkulierbaren Reaktionen ebenso zum Sicherheitsrisiko wie ein immer stärker auftretendes gesellschaftliches Aufbegehren. Dies war es, was die Entwicklung zum autoritären Sicherheitsstaat vorantrieb. Die Terrorismusbekämpfung bot dafür einen geeigneten Anlass.
Die Thematik des Buches fand breite Resonanz. 1986 kam es zu einer Neuauflage. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 nahm die Entwicklung, die sich zunächst nur angedeutet hatte, immer deutlichere Züge an. Die Sicherheitsgesetzgebung, die eine wesentliche Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und rechtsstaatlicher Normen beinhaltete, wurde – diesmal im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den „islamischen Terrorismus“ nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center 2001 – weiter verschärft. Nimmt man die Notstandsgesetze vom Ende der sechziger Jahre hinzu, so erleben wir heute die vierte sicherheitsstaatliche Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte: Sicherheitsstaat 4.0.
Die „Corona-Krise“ und die Form des Umgangs mit ihr bezeichnet nicht nur eine weitere, sondern auch sehr einschneidende Etappe dieser Entwicklung. Sie weist einige hervorstechende Merkmale auf, die sie von früheren sicherheitsstaatlichen Entwicklungen unterscheiden. Dazu gehören ein neuer Umgang mit der Verfassung und rechtsstaatlichen Prinzipien sowie der Einsatz ganz neuer Informations- und Überwachungstechniken. Ich beschränke mich hier auf die Entwicklung in Deutschland. In anderen vergleichbaren Ländern stellt sich die Situation zum Teil anders dar. Das hängt unter anderem mit dem jeweiligen Parteiengefüge, dem Zustand der Gesundheitssysteme und den Lebensumständen der Bevölkerung zusammen. Vor allem die beiden zuletzt genannten Faktoren sind ein maßgeblicher Grund dafür, dass die Pandemie in Italien, Spanien. Großbritannien und in den USA einen sehr viel schwereren Verlauf annahm als hierzulande. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen sind aber ähnlich.
Neu ist, dass im Gegensatz zu früher – etwa bei den stark umkämpften Grundgesetzänderungen beim Erlass der Notstandsgesetze – die Verfassung einfach nicht mehr beachtet wurde. Wesentliche Grundrechte wurden unter Ausschaltung des Parlaments per Regierungsdekret faktisch außer Kraft gesetzt. Dies unter Rückgriff auf ein Seuchengesetz, das exekutive Ermächtigungen nur sehr vage definiert. Das im März 2020 neu gefasste Infektionsschutzgesetz enthält eine Generalklausel ohne jegliche Spezifizierung und bietet der Exekutive einen fast unbeschränkten Spielraum. Das ist nach den herrschenden Verfassungsgrundsätzen eigentlich unzulässig. Außer Kraft gesetzt wurden nicht nur Freiheits- und Eigentumsrechte, sondern auch das Demonstrationsrecht und damit ein zentrales Moment politischer Beteiligung. Eine bei Grundrechtseinschränkungen notwendige Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen fand nicht statt. Ein vom Grundgesetz überhaupt nicht vorgesehenes, aus der Kanzlerin und den Ministerpräsident*innen bestehendes Gremium wurde zum Gesetzgeber. Heraus kam ein autoritärer Staat unter Beibehaltung eines institutionell-demokratischen Beiwerks.
Die zumindest erhebliche Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts wurde im Fall der Demonstration der „Seebrücke“ in Frankfurt deutlich, die von der Polizei aufgelöst wurde, obwohl alle Auflagen eigehalten wurden. Das war allerdings nur ein öffentlich bekannter gewordener Fall. Dazu zitiere ich aus den Informationen des Komitees für Grundrechte und Demokratie Nr.2, 2020: Die Polizei „löste in vielen Bundesländern jegliche Ansammlungen mit politischer Ausdrucksform auf. Selbst Menschen, die in den laut Kontaktsperre erlaubten Zweiergruppen unterwegs waren und Plakate zeigten oder mit Kreide auf den Boden malten, wurde dies verboten. Transparente und Plakate wurden von der Polizei aus dem öffentlichen Raum entfernt mit der Begründung, diese verleiteten Passant*innen zum Stehenbleiben. Gegen Beteiligte wurden nicht nur Bußgelder verhängt, sie wurden sogar teils in Gewahrsam genommen oder es wurden Strafverfahren eingeleitet… Beispielsweise wurde in Berlin ein Autokorso gestoppt, bei dem Einzelpersonen politische Botschaften im Auto befestigt hatten. In Lüchow im Wendland wurden sogar Einzelpersonen festgenommen, die T-Shirts mit politischen Aufdrucken zum Einkauf anzogen“. Auch wenn in diesen Fällen die Polizei vielleicht – wie es so schön heißt – „überreagiert“ hat, zeigt es doch, wohin es führt, wenn die Exekutivorgane sich im Notstand von rechtlichen Beschränkungen frei fühlen können.
Gleichzeitig wurden ganz neue, IT-gestützte Überwachungstechniken entwickelt. Die Tracing-App, die den Kontakt mit infizierten Personen anzeigen soll, war zunächst zumindest bei professionellen Datenschützern sehr umstritten. Auf eine zentrale Speicherung der Daten, die einen direkten Zugriff der Sicherheitsbehörden auf Bewegungsprofile ermöglicht hätte, soll nun verzichtet werden. Das ist allerdings nach aller Erfahrung keine Garantie dafür, dass dieser doch stattfinden kann. Zumal die Daten bei Google und Apple natürlich gespeichert werden. Ähnliche Probleme bestehen bei dem von Gesundheitsminister Spahn ebenfalls favorisierten elektronischen Gesundheitsausweis, der Nicht-Infizierte kenntlich machen soll und damit weiter erhebliche Freiheitsbeschränkungen ermöglichen würde. Auch die SPD hatte diesem Verfahren zunächst zugestimmt. Nach Protesten hat Spahn diesen Plan vorerst zurückgezogen. Sein Vorhaben verfolgt er dennoch weiter (vgl. SZ vom 11.5.2020). Und dies, obwohl nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen keine Gewähr dafür besteht, dass gesundete Personen nicht weiter ansteckend sein können. Inzwischen arbeitet eine ganze Reihe von einschlägigen Firmen an weiteren elektronischen Überwachungsinstrumenten, die sie bei den Regierungsbehörden wohl nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg abzusetzen hoffen. Völlig illusionär wäre die Annahme, entwickelte Überwachungstechniken würden nach einem Ende der Pandemie wieder abgeschafft.
De facto wurde also eine Art von Notstands- oder Ausnahmestaat eingeführt, begründet mit der Gesundheitsbedrohung durch die Pandemie. Eine genaue und empirisch abgestützte Prüfung der Sinn- und Zweckhaftigkeit sowie der rechtsstaatlichen Zulässigkeit getroffenen Maßnahmen fand nicht statt. Und es wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen, die Einhaltung von Schutzmaßahmen den Leuten zu überlassen, was angesichts der insgesamt verbreiteten Einsicht in ihre Notwendigkeit durchaus sinnvoll gewesen wäre. Auch dies ist ein Aspekt des autoritären Staates.
Die Frage ist, welche Interessen hinter dieser Entwicklung standen. Dies ist nicht ganz einfach zu beantworten, zumal man nicht davon ausgehen kann, dass hinter der Entwicklung ein planmäßig operierender Akteur steht. Vielmehr handelt sich um einen Komplex von Interessen, die in ihrem Zusammenspiel eine eigene Dynamik entstehen ließen.
Wichtig ist zunächst, dass die Behörden auf eine Pandemie völlig unvorbereitet waren. Schutzkleidungen und entsprechende organisatorische Vorbereitungen fehlten. Von Bedeutung ist dabei auch das Informationsdefizit, das von Anfang an die Entwicklung bestimmt hat. Das Virus ist neu und weder seine Herkunft noch seine wirkliche Gefährlichkeit oder seine Verbreitungswege waren und sind bisher bekannt. Für die Politik war das eine ziemliche Herausforderung und machte sie abhängig von der Expertise von Virologen, die sich indessen sehr oft uneins waren. Ihre Aussagen stützten sich in der Regel auf Daten, deren Grundlagen höchst zweifelhaft sind. Ein Beispiel sind die Angaben über die Zahl der Infizierten und ihre Zunahme, die schon deshalb ungenau war, weil dabei die vom Virus Betroffenen nicht berücksichtigt werden konnten, die nicht getestet worden oder davon überhaupt nichts gemerkt haben. Ein anderes ist die Zahl der Todesfälle. Vereinzelt wurde zwar darauf hingewiesen, dass es sich dabei sowohl um die „mit“ als auch „am“ Virus Verstorbenen handelt. Der Unterschied blieb aber in der öffentlichen Darstellung unbeachtet. Bei der Ermittlung von Daten über die Ausbreitung und (tödlichen) Wirkungen spielten die Johns-Hopkins-Universität und das deutsche Robert-Koch-Institut eine besondere Rolle, wobei die eine wesentlich von der Gates-Stiftung und der Pharmaindustrie finanziert wird und das andere eine staatliche und damit weisungsgebundene Behörde darstellt. Für die Virologen ergab sich die Möglichkeit, sich als „systemrelevant“ in der Öffentlichkeit zu präsentieren, was nicht nur prestigeträchtig, sondern auch für die Einwerbung von Forschungsgeldern hilfreich ist.
Eine ganz zentrale Rolle spielte Kanzlerin Merkel, die schon früh auf rigide Schutzmaßnahmen drängte. Es lässt sich vermuten, dass es ihr auch darum ging, die Fehler nicht zu wiederholen, die die Flüchtlingskrisenpolitik 2015 gekennzeichnet hatten. Für die Politik insgesamt war wohl wichtig, auf jeden Fall nichts zu tun oder zu unterlassen, für das man hätte die Verantwortung hätte tragen müssen. Die weitgehend ungeprüft übernommenen und in ihrem jeweiligen Zusammenhang kaum bewerteten Horrorzahlen aus China und Italien gaben dazu einigen Anlass.
Die rigiden Eingriffe in die Verfassung und die Grundrechte mit ihren schwerwiegenden und längerfristig noch kaum absehbaren gesellschaftlichen und politischen Folgen mussten legitimiert werden. In der „heute-show“ des ZDF vom 24.4.2020 wurde aus einem Strategiepapier des Bundeinnenministeriums zitiert, in dem festgestellt wurde, dass es darauf ankäme, in der Bevölkerung Ängste zu wecken, um die Bereitschaft zur Hinnahme der Beschränkungen zu erhöhen. Diese Information wurde in den Medien nur vereinzelt aufgegriffen, aber auch nicht dementiert. Das verweist auf einen Umstand, der schon länger feststellbar ist: Wichtige politische Informationen bekommt man heutzutage am ehesten noch aus Kabarettsendungen. Aber unabhängig davon, ob die ZDF-Darstellung richtig ist beleuchtet sie sehr schön das tatsächliche Handeln der Regierung, und dies in weitgehender Zusammenarbeit mit praktisch allen Medien. Die permanenten Extrasendungen von ARD und ZDF sind ein Beispiel dafür. Eine wirkliche Panik entstand daraus nicht, aber die Verunsicherung war groß. Der spanische Ministerpräsident Sanchez hatte noch versucht, kritische Berichte und Kommentare in der Presse zu verhindern. Derlei Zensur war hierzulande überflüssig.
Aus dieser Art von Berichterstattung entwickelte sich eine eigene Dynamik, die darin bestand, dass die Politiker*innen angesichts der ausgemalten Bedrohungsszenarien immer neu Entschlossenheit und Tatkraft zeigen mussten, was sich in Überlegungen und Maßnahmen zu immer weiteren Beschränkungen niederschlug. Behauptet wird, dass diese Maßnahmen zum Rückgang der Infektionen geführt haben. In welchem Umfang dies der Fall ist und was gewirkt hat, bleibt indessen mangels genauerer Analysen eine Vermutung. Als insbesondere auf Druck der Wirtschaft und angesichts sinkender Infektionszahlen einige Beschränkungen gelockert wurden, wurde dies durch die Pflicht zum Tragen von Schutzmasken begleitet, obwohl deren Wirkung und mögliche Gefährlichkeit selbst unter Virologen einigermaßen umstritten war. Davon ist heute nicht mehr die Rede. Und es wurde ohne empirische Evidenz die Möglichkeit einer zweiten großen Infektionswelle an die Wand gemalt, was die Folge hatte, den Ausnahmezustand sozusagen auf Dauer stellen zu können.
Am schwerwiegendsten ist allerdings, was die Corona-Krise über den Zustand der Zivilgesellschaft hierzulande aussagt (vgl. dazu auch den Beitrag von Christine Resch auf dieser Webseite). Dass die Beschränkungen ohne größeren Widerstand hingenommen wurden, ist angesichts der vermittelten Bedrohungslage verständlich. Widerstand wäre angesichts des faktischen Demonstrationsverbots und der Schwierigkeiten einer Mobilisierung via Internet ohnehin kaum organisierbar gewesen. So blieb der Ärger im Privaten, ist aber dort recht verbreitet, wie sich inzwischen zeigt. Dazu hat beigetragen, dass die Notfallmaßnahmen nicht unbedingt einsehbar und oft höchst widersprüchlich waren, etwa wenn Kirchen geschlossen, Baumärkte aber offen blieben, oder wenn ein Baumarkt und ein benachbarter Discounter Blumen verkaufen durften, der dazwischen liegende kleine Blumenladen aber schließen musste. Davon abgesehen war der Umfang des freiwilligen Mitmachens erstaunlich. So etwa bei der Ablieferung von Gesundheitsdaten beim Robert-Koch-Institut. Nicht unerheblich war wohl auch der Umfang der Denunziation von Unfolgsamen bei der Polizei. Auch dies ist ein Aspekt der real existierenden Zivilgesellschaft.
Antonio Gramsci hat auf den widersprüchlichen Charakter der bürgerlichen „società civile“ hingewiesen, der darin besteht, dass sie einerseits das Feld ist, auf dem Selbstorganisation und öffentliche Kritik der Herrschaftsverhältnisse stattfinden, sie andererseits aber auch deren Bollwerk und Bestandsgarantie sein kann. In der Corona-Krise hat sie sich ganz massiv als Letzteres erwiesen. Dass bürgerschaftliches politisches Engagement praktisch zum Erliegen gekommen ist, darf angesichts der Demonstrations-, Kontakt- und Versammlungsverbote nicht verwundern. Dieses erschöpfte sich nun im Nähen von Gesichtsmasken, Hilfsangeboten für Angehörige von „Risikogruppen“, die Unterstützung der von der Pleite bedrohten Stammkneipe oder das Beifallklatschen für die Gesundheitsarbeiter*innen, was allerdings an deren miesen Arbeitsbedingungen nichts ändert. Der eigentliche Skandal war das Verhalten der meisten Medien, insbesondere auch derer, die sich selbst als „qualitativ“ bezeichnen. Diese hielten es für angemessen, den Kurs der Regierungen umstandslos zu unterstützen, durch die Verbreitung von Warnungen, dem Ausmalen von Bedrohungen oder die Veröffentlichung von Zahlen, deren Problematik nicht einmal thematisiert wurde. Die diversen Extrasendungen der TV-Anstalten begnügten sich damit, diese immer wieder zu wiederholen und im Übrigen zu zeigen, wie sich die Leute wunderbar in den Beschränkungen einrichteten oder sogar „kreativ“ damit umgingen. Vereinzelt abgedruckte kritische Stimmen, in der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel von Prantl, Nolte oder Papier gingen in diesem Getöse praktisch unter und hatten auf jeden Fall keinen Einfluss auf die allgemeine Berichterstattung. Wenn inzwischen das Aufblühen von Verschwörungstheorien beklagt wird, dann sollte beachtet werden, dass das Verhalten von Regierungen und Medien dazu einiges Material geliefert hat. Wohl unter dem Eindruck dessen und der stark abnehmenden Bereitschaft zur Hinnahme der Freiheitsbeschränkungen wurde erstmals am 11. Mai in einem Kommentar der SZ die Erkenntnis geäußert, dass wohl die Zweck- und Rechtmäßigkeit des Regierungshandeln besser geprüft und öffentlich diskutiert werden müsse. Das kam ziemlich spät und bedeutet mehr als es nur besser zu „erklären“, wie die Justizministerin einen Tag zuvor noch meinte.
Selbstverständlich ist es die Aufgabe der Regierenden, für einen ordentlichen Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu sorgen. Dazu hätte viel beigetragen, wenn beispielsweise das Personal in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen von Anfang an mit ausreichender Schutzkleidung ausgestattet worden wäre. Daran fehlt es im Übrigen stellenweise noch heute. Das hätte viele Infektionen und Todesfälle verhindert. Ansatzweise wird inzwischen auch die Erkenntnis geäußert, dass die Sparpolitik im allgemeinen Gesundheitswesen doch keine so gute Idee war. Dort zu investieren wäre erheblich billiger gewesen als jetzt Billionen für die Rettung von Unternehmen auszugeben. Ein Licht auf das Verhalten der Behörden werfen die erst Anfang Mai bekannt gewordenen hohen Infektionszahlen in einigen Fleischfabriken, die damit zusammenhängen, dass die dort – meist osteuropäischen – Beschäftigten in ziemlich menschenunwürdigen Sammelunterkünften untergebracht sind. Den Behörden musste dies bekannt gewesen sein. Sie haben nicht eingegriffen, wohl nicht nur wegen administrativem Versagen, sondern weil dadurch die Konkurrenzfähigkeit der Industrie beeinträchtigt worden wäre, wie jedenfalls deren Sprecherin betonte. Es blieb bei den Kontaktbeschränkungen für die allgemeine Bevölkerung.
Zusammenfassend: Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen wenn man vermutet, dass die Pandemie von einigen Akteuren dazu benutzt wird, den Sicherheits- und Ausnahmestaat auszubauen und nach Möglichkeit auf Dauer zu stellen. Die bevorstehende schwere Wirtschaftskrise mit ihren noch kaum abschätzbaren gesellschaftlichen Folgen dürfte dazu einigen Anlass geben. Ganz abgesehen von den sozialen Verwerfungen, die der Lockdown selbst auf längere Sicht nach sich ziehen wird. Es bedarf gar nicht einer zweiten Infektionswelle ab dem Herbst 2020: Die nächste Grippewelle kommt mit Sicherheit. Ein Indiz dafür ist wiederum der Umgang mit Zahlen. Angesichts abnehmender Infektionsfälle wird nun wieder die sogenannte Reproduktionszahl, die das Verhältnis zwischen bereits Infizierten und neu Infizierten bezeichnet. Diese muss tendenziell steigen, je weniger Infizierte es gibt. Ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin wenig aussagekräftig ist, solange die effektive Zahl der Infizierten gar nicht bekannt ist. Ihre Größe hängt wesentlich davon ab, in welchem Umfang getestet wird. Jetzt soll sie dazu herhalten, bereits bestehende Lockerungen wieder rückgängig machen zu können.
In der Öffentlichkeit herrscht die Argumentation vor, dass der Ausnahmestaat zwar unerfreulich und demokratisch problematisch, aber in einer besonderen Notlage eben unverzichtbar sei und dass die eingeführten Beschränkungen eines Tages wieder aufgehoben würden. Das ist in Anbetracht der historischen Erfahrungen nicht eben plausibel und wird die Bemühungen in Frage gestellt, diesen nach Möglichkeit zu verlängern. Heribert Prantl hat das anhand des Umgangs mit den früheren Sicherheitsgesetzen recht schlüssig dargelegt (SZ, 25./26.4.2020). Dass die entwickelten Überwachungstechniken einfach wieder abgeschafft werden, ist unwahrscheinlich. Kaum zu erwarten ist, dass das Infektionsschutzgesetz mit seiner Generalklausel wieder geändert wird. Es wäre also auch zukünftig anwendbar, wenn sich entsprechende Situationen einstellen oder im schlimmeren Falle konstruiert werden. Möglicherweise noch schwerer wiegen die Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein, die sich im Zuge der getroffenen Maßnahmen und ihrer Begründung eingestellt haben dürften: Gewöhnung an den Ausnahmefall. Dann hätte, um noch einmal Prantl zu zitieren, das Virus endgültig den Rechtsstaat befallen. Die jüngste Entwicklung hat gezeigt, wie brüchig der demokratische Firnis in diesem Lande ist. Darin besteht die eigentliche Bedrohung. Es wäre deshalb höchste Zeit, dass die „Zivilgesellschaft“ wieder aktiviert wird, als demokratische. Es fragt sich, wo eigentlich parlamentarische oder außerparlamentarische Initiativen zu einer Revision des Seuchengesetzes bleiben. Das wäre auch eine Sache der Opposition, die sich bisher eher durch Schweigen ausgezeichnet hat. In der politischen Öffentlichkeit wird inzwischen wenigstens ansatzweise wieder über den Umgang mit der Verfassung und den Grundrechten diskutiert. Es wird sich zeigen, was daraus wird.