Demokratie jenseits von Corona

Roland Roth

Ohne volle und unumschränkte Demokratie kann es keinen Wohlstand und keine Gesundheit geben. Rudolf Virchow 1848

Die Corona-Pandemie ist eine einschneidende gesellschaftliche Herausforderung, die alle Lebensbereiche tangiert.  Dieser Beitrag thematisiert nur einen kleinen Ausschnitt1 Zu den einschneidenden Erfahrungen in der Corona-Krise gehört, dass Bürgerbeteiligung und eine aktive Zivilgesellschaft – in besseren Tagen als Grundpfeiler einer vielfältigen Demokratie gefeiert – weithin unter die Räder geraten sind. Beide scheinen Schönwetter-Veranstaltungen, deren Produktivität in Krisenzeiten unter eingeschränkten Bedingungen und bei der Bewältigung unerwarteter Herausforderungen nicht gesehen wird – von der Unterstützung durch Helfer_innen im Zivil- und Katastrophenschutz, von Nachbarschaftshilfen, Tafeln und ehrenamtlicher Sorge einmal abgesehen. Die fatale Botschaft in Corona-Zeiten lautet: Eine vielfältige Demokratie und eine starke Bürgergesellschaft sind „nicht systemrelevant“! Deren Marginalisierung und Beschädigung kann auch in gelockerten Zeiten fortdauern, die entstandenen Demokratieschäden inklusive. Wenn es nicht zu lautstarken Wortmeldungen kommt, wird dies vermutlich so bleiben. Immerhin ist es zu vereinzelten Protesten des Krankenhauspersonals gekommen. Ob es gelingt, nachdrücklich daran zu erinnern, dass die Zivilgesellschaft keine „Folkloreveranstaltung“, sondern eine „politische Größe“ ist, muss offen bleiben.

Es geht auch anders!

Im Rückblick gibt es in jüngerer Zeit zumindest zwei Großereignisse, die diese Perspektive unterstützen:

– In der HIV-Krise ist es in Deutschland in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre weitgehend gelungen, einen seuchenpolizeilichen Umgang mit dem Virus zu vermeiden und – im Unterschied zu einigen anderen westeuropäischen Ländern – solidarische zivilgesellschaftliche Antworten zu entwickeln. Die Schwulenbewegung und ihre Unterstützungsgruppen schufen ein Netz von Aids-Hilfen, die sich um Aufklärung, Prävention und die Unterstützung von Betroffenen kümmerten. Ihre Praxis konnte an ein progressives Verständnis von Gesundheitsförderung anknüpfen, das in der Ottawa-Charta der WHO von 1986 so zusammengefasst wurde: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ Sozialen Bewegungen, vor allem der Gesundheitsbewegung, Selbsthilfegruppen und zivilgesellschaftlichen Initiativen ist es in der Auseinandersetzung mit der Aids-Krise gelungen, menschenrechtssensible Praxisformen und Einrichtungen zu etablieren, die sogar – wie das Beispiel der Hospize zeigt – die Standards in der allgemeinen Gesundheitsversorgung verändern konnten. Sicherlich gibt es zahlreiche Unterschiede in den Herausforderungen der aktuellen COVID-19 Pandemie, nicht zuletzt mit Blick auf die Übertragungswege und die Betroffenengruppen, aber das Anregungspotential der progressiven, zivilgesellschaftlich getragenen Aids-Politik für den Umgang mit Pandemien ist bislang weithin unbeachtet geblieben.

– Dies gilt auch für die Erfahrungen mit der Flüchtlingszuwanderung vom Herbst 2015, die zur bestandenen „Reifeprüfung“ der Zivilgesellschaft wurde. In einer akuten Notlage, die staatliche Institutionen weitgehend unvorbereitet traf und überforderte, sorgten zahlreiche Initiativen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft mit hilfsbereiten Mitmenschen dafür, dass es gelang, eine große Zahl von Geflüchteten zu beherbergen und mit dem Nötigsten zu versorgen. An vielen Orten sind Akteure jener Tage bis heute in der Unterstützung, Integration und Interessenvertretung von zugewanderten Menschen aktiv und – gemeinsam mit den neuen Zusammenschlüssen der Geflüchteten – zu wichtigen Akteuren lokaler Vielfalts- und Integrationspolitik geworden.

Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass Bürgerbeteiligung und Engagement keine Schönwetter-Veranstaltungen sein müssen und dürfen. Sie können erheblich zur demokratisch-menschenrechtlichen Bearbeitung von Krisen beitragen, wenn sie zugelassen und unterstützt werden. Aus Sicht des Mannheimer Oberbürgermeisters Peter Kurz wurde die wichtigste Ressource im Kampf gegen die Pandemie „das verständige und besonnene Verhalten einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung … beständig unterschätzt“. Noch vor den Einschränkungen durch die Politik hatte sich eine gut informierte Bevölkerung Achtsamkeit auferlegt: „Tatsächlich steht die Politik … einer Öffentlichkeit gegenüber, die noch nie so informiert war und gleichzeitig mit den Verantwortungsträgern aus weitgehend denselben Quellen ihre Schlussfolgerungen zieht … Dieser demokratietheoretisch geradezu als einmalig anzusehende Idealzustand einer interessierten und informierten Öffentlichkeit wird jedoch nicht genutzt. Klare Maßstäbe für den Erfolg und Kriterien für weitere Öffnungen wurden erst nicht benannt und dann ständig verändert“. Auch wer die optimistische Sicht von Peter Kurz nicht in allen Aspekten teilt, sollte die Chancen bedenken, die ein stärker diskursiv und beteiligungsorientierter Umgang mit der Virus-Pandemie geboten hätte und noch immer bietet.

Demokratiestärkung in Corona-Zeiten

„Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.“ Odo Marquard 1998

Die Corona-Pandemie ist zu einem Lehrstück in Sachen Demokratie und Zivilgesellschaft geworden. Dass beide mit unserem Alltagsleben großflächig unter Quarantäne gestellt wurden, brauchte nur dann nicht zu beunruhigen, wenn es sich um eine unvermeidliche, überraschende und kurzfristige Zumutung handelte. Die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr zur Normalität hat sich nach mehr als einem halben Jahr als trügerisch erwiesen. Zudem sind einige weitere Krisen, wie etwa die Klimakrise oder die „Flüchtlingskrise“ von COVID-19 nur kurzfristig überlagert worden.

Angesichts der multiplen Krisen müssen wir uns von einigen hoffnungsvollen Annahmen verabschieden, mit denen noch vor wenigen Jahrzehnten die Risikodebatte schwungvoll startete. Ulrich Beck hatte seine impulsgebende Analyse der „Risikogesellschaft“ 1986 mit der Aussage verbunden: „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch. Mit der Ausdehnung von Modernisierungsrisiken – mit der Gefährdung der Natur, der Gesundheit, der Ernährung etc. – relativieren sich die sozialen Unterschiede und Grenzen“ (S. 48). Ein „gemeinsames Gefährdungsschicksal“ stärke die Suche nach globalen Lösungen (S. 53).

Nicht erst Corona hat eine gegenteilige Dynamik sichtbar werden lassen. Ökologische Risiken, zu denen letztlich auch Pandemien zu zählen sind, tragen dazu bei, bestehende soziale Ungleichheiten zu verschärfen und neue entstehen zu lassen. Statt ein gemeinsames Gefährdungsschicksal zum Ausgangspunkt transnationalen politischen Handelns zu machen, lässt sich eine Abwertung internationaler Organisationen (etwa der WHO oder der Welthandelsorganisation) beobachten. Nach dem Vorbild „America first!“ dominiert die Suche nach nationalen und lokalen Auswegen und Schutzmechanismen. Das gilt selbst für die Europäische Union, deren Mitgliedsstaaten mit zahlreichen Grenzschließungen auf die Pandemie reagiert haben und dies selbst dann, wenn die Nachbarstaaten niedrigere Infektionsraten vorweisen konnten. Sogar einzelne Bundesländer haben phasenweise ihre Grenzen dicht gemacht. Unter welchen Bedingungen solche Grenzschließungen bei der Pandemiebekämpfung überhaupt hilfreich sind, wird kontrovers debattiert. Als Ersatz für internationale Strategien und Standards im Umgang mit der Pandemie taugen sie jedenfalls nicht.

Die gerne beschworene Hoffnung auf rein technologische oder pharmazeutische Lösungen für globale Risiken dürfte illusionär sein.  Mit der Ausdehnung von Globalisierungsprozessen und der Zurückdrängung von naturgeprägten Landschaften wird dieser Prozess weiter vorangetrieben. Menschen und Wildtiere rücken näher zusammen. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Viren, mit denen die Tiere unbeeinträchtigt leben, zu einer Gefahr für Menschen werden. Eine zentrale Aufgabe ist es deshalb, demokratische Lösungen für globale Risiken zu finden.  COVID-19 bietet dazu einige Anstöße.

1. Die nationale und internationale Risikovorsorge gegen Pandemien ernst nehmen und zivilgesellschaftlich stärken

Der historische Rückblick belehrt darüber, dass Pandemien keineswegs überraschend kommen, sondern eher zur wiederkehrenden Normalität von Gesellschaften gehören, die durch Austauschbeziehungen miteinander vernetzt sind. „Geschichte leistet Kontingenzbewältigung, indem sie darauf aufmerksam macht, dass Epidemien einen unausrottbaren und beständig wiederkehrenden Teil der Menschheitsgeschichte ausmachen, dessen Vernachlässigung sich nicht so sehr dem medizinischen Fortschritt verdankt als vielmehr der eigenen Borniertheit, und dies bis in die jüngste Vergangenheit“ (Sabrow 2020).

Gilt diese Aussage auch für das Corona-Virus und seine weltweite Ausbreitung? Wie viel Borniertheit und Ignoranz ist im Spiel, wenn es um die Vorgeschichte der aktuellen Notlage geht? Haben wir es – in den Bildern der Risikoanalyse gesprochen – mit einem schwarzen, grauen oder weißen Schwan zu tun? In der internationalen Fachdebatte über globale Gesundheitsrisiken besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich bei der aktuellen Pandemie um ein durchaus erwartbares und in Teilen vermeidbares Ereignis handelt: „Sars-CoV-2 ist kein schwarzer Schwan, also kein unvorhersehbares extremes Ereignis mit enormen Auswirkungen. Die Pandemie ist auch kein grauer Schwan, sprich: kein folgenschweres und seltenes, aber letztlich vorhersehbares Ereignis. Nein, das Corona-Virus ist vielmehr ein gewöhnlicher weißer Schwan – ein Ereignis, das, so hat es der Philosoph und Trader Nassim Taleb beschrieben, mit Gewissheit irgendwann eintrifft. Alle, die es wissen mussten, haben es gewusst, wissenschaftliche Institute, Epidemiologen, Behörden und natürlich: Regierungen. In der Tat wurden in den letzten Jahren unzählige Studien, Risikoanalysen, Notfallpläne zu möglichen Pandemien erarbeitet, ja es wurden sogar einschlägige Hollywood-Blockbuster-Filme und – Serien in großer Zahl gedreht“ (Scheu 2020). Mit Pandemien und den damit verbundenen gesellschaftlichen Risiken und Folgekosten ist also auch in Zukunft zu rechnen, auch wenn weder das jeweilige Virus noch der konkrete Zeitpunkt vorhersehbar sind.

Bereits 1948 wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegründet, der aktuell 196 Staaten angehören. Mit 7.000 Beschäftigten im Genfer Hauptquartier und rund 150 nationalen Büros ist die WHO der stärkste internationale Akteur in der globalen Gesundheitspolitik. Zu seinen zentralen Aufgaben gehört die Pandemievorsorge und -bekämpfung. Ihr zentrales Rechtsinstrument sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV), die in den 1990er Jahren deutlich gestärkt wurden. Maßgeblich war dafür die Angst vor der globalisierungsbedingten Ausbreitung von Pandemien und die Wiederkehr besiegt geglaubter, hochansteckender Krankheiten wie Pest und Cholera. Mit der Übernahme der Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005 in nationales Recht am 27. Juli 2007 hat die Bundesrepublik weitgehende Verpflichtungen zur Pandemievorsorge und –bekämpfung übernommen, die in einem weiteren Durchführungsgesetz im März 2013 konkretisiert wurden. In Artikel 2 der IGV heißt es: „Zweck und Anwendungsbereich dieser Vorschriften bestehen darin, die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, davor zu schützen und dagegen Gesundheitsschutzmaßnahmen einzuleiten, und zwar auf eine Art und Weise, die den Gefahren für die öffentliche Gesundheit entspricht und auf diese beschränkt ist und eine unnötige Beeinträchtigung des internationalen Verkehrs und Handels vermeidet.“ Dazu sollen Melde- und Informationspflichten gegenüber der Weltgesundheitsorganisation und vielfältige nationale Maßnahmen zum Gesundheitsschutz beitragen. In Artikel 12 wird dem Generaldirektor der WHO auf Grundlage der vorliegenden Informationen das Recht eingeräumt, „eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ festzustellen. Ein Notfallausschuss überwacht die in den betroffenen Ländern getroffenen Maßnahmen und gibt Empfehlungen.

Die Vertragsstaaten verpflichten sich völkerrechtlich verbindlich zu einer Reihe von Gesundheitsschutzmaßnahmen. So heißt es in Art. 13: „Jeder Vertragsstaat schafft, stärkt und unterhält baldmöglichst, jedoch spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten dieser Vorschriften für diesen Vertragsstaat, die Kapazitäten …, um umgehend und wirksam auf Gefahren für die öffentliche Gesundheit und gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite zu reagieren Es blieb nicht bei der bloßen Umsetzung in deutsches Recht. Mehrfach wurde von Bundesbehörden der Schutz vor Pandemien geübt, etwa in der Lükex-Übung von 2007. Nachgeordnete Behörden wie das Robert-Koch-Institut (RKI) und eine zwischenzeitlich aufgelöste Schutzkommission haben entsprechende Expertisen und Pläne für das Risikomanagement erarbeitet. Zentral ist eine Risikoanalyse aus dem Jahre 2012, die 2013 dem Bundestag vorgelegt wurde (BT-Ds. 17/12051). In der Pandemievorsorge sollten zudem mögliche Kollateralschäden (in den Bereichen Bildung, Arbeit, Versorgung etc.) beachtet und „Kritische Infrastrukturen“ krisenfest gemacht werden. Zahlreiche der dort festgehaltenen Empfehlungen, wie z.B.  die Bevorratung von Schutzausrüstungen wurden vor der Corona-Pandemie nicht angemessen realisiert. Bei genauer Betrachtung entsteht ein Bild organisierter Verantwortungslosigkeit. So findet sich auf der Netzseite des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) der am 26.03.2020 veröffentlichte Hinweis zu Pandemievorsorge: „Ob und welche Maßnahmen in den Ländern auf Grundlage der Risikoanalyse 2012 getroffen wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Fortschreibung, Übung und Bereitstellung der nötigen Ressourcen liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Behörde, jedes einzelnen Unternehmens, so z.B. auch und vor allem der Unternehmen, die zur Kritischen Infrastruktur zählen“.

Vor diesem hier nur grob skizzierten Hintergrund ist zweierlei festzuhalten.

Erstens haben es Bundesregierungen und zuständige Behörden versäumt, eine den eigenen gesetzlichen Verpflichtungen entsprechende Pandemie-Vorsorge zu betreiben. Fehlender Mundschutz, knappe Hygiene- und Desinfektionsmittel und fehlende Schutzkleidung haben die Reaktionen auf die ersten COVID-19 Fälle geprägt, zu unnötigen zusätzlichen Belastungen bei Patienten und Krankenhauspersonal geführt und härtere Einschränkungen (Quarantäne, Lockdown etc.) erforderlich gemacht. Auch Ärztinnen und Ärzte mussten zu Beginn in Krankenhäusern und Praxen oft ohne ausreichende Schutzkleidung arbeiten. Entsprechend hoch war der Anteil des Krankenhauspersonals an den Infizierten. Differenzierte, an Zielgruppen orientierte Strategien mit niedrigeren Sterberaten und geringeren ökonomischen Kosten wären durchaus möglich gewesen, hätte man die eigenen gesetzlichen Verpflichtungen ernster genommen. Erst im umfangreichen Krisenpaket der Bundesregierung vom 3. Juni 2020 ist ein Betrag von einer Milliarde Euro für eine gesetzlich verankerte nationale Reserve von Schutzausrüstungen vorgesehen.

Um für künftige Pandemien und Katastrophenfälle besser gerüstet zu sein, wird es darauf ankommen, dieses Politikversagen in der Pandemievorsorge aufzuarbeiten. Dass die Bevölkerung der Bundesrepublik (zunächst) noch vergleichsweise glimpflich davon gekommen ist, sollte die kritische Aufklärung der Corona-Politik nicht verhindern. Es tröstet nicht, dass es auch in vielen anderen OECD-Ländern an der nötigen Pandemievorsorge fehlte. Selbstzufriedenheit und Ignoranz sind nicht gestattet, denn „die Bewältigung von Risiken und der von ihnen antizipierten Katastrophen ist zu einer zentralen Aufgabe der Gemeinwohlsicherung des Staates avanciert“ (Klafki 2017: 3). Auch wer im Geiste einer kritischen Staatsanalyse diese Annahme nicht teilt, wird die Sicherung der allgemeinen Produktionsbedingungen als genuine staatliche Aufgabe ansehen. Bei der Aufarbeitung der Corona-Erfahrungen geht es nicht zuletzt darum, den bekannten Kurzschluss von Panik und Vergessen zu durchbrechen, der regelmäßig die Pandemievorsorge gelähmt hat.

Zweitens sind Initiativen für eine reformierte und gestärkte WHO unabdingbar. Der Eklat um die Austrittsankündigungen von Trump und seines brasilianischen Kollegen Bolsonaro darf eine Reformdebatte nicht verhindern, die sich mit den vermeintlichen und realen Unzulänglichkeiten und Fehlentscheidungen der WHO befasst. Es braucht internationale Antworten, denn Pandemien sind globale Herausforderungen. Nationale und lokale Antworten, wie z.B. Grenzschließungen, sind nicht nur kostspielig, sondern erzeugen jene enormen politischen, ökonomischen und sozialen Kollateralschäden, die nationale und europäische Hilfsprogramme ausgelöst haben.

Angesichts wachsender globaler Ungleichheiten ist gerade in der Pandemie-Vorsorge und Bekämpfung mehr transnationale Solidarität gefordert, denn Pandemien wirken wie ein Brandbeschleuniger und verschärfen zusätzlich die vorhandene ungleiche Gesundheitsversorgung. Dafür könnte die WHO einen politischen Rahmen bieten.

Wie in anderen internationalen Organisationen setzen jedoch die Mitgliedsstaaten der WHO enge Handlungsgrenzen. Das gilt nicht nur für ihre notorische Unterfinanzierung mit den bekannten Folgen. In der Frage der erreichten Pandemievorsorge z.B. muss sich die WHO bislang weitgehend auf die Staatenberichte verlassen. Dass dabei absurde Erzählungen kommuniziert werden, hat die aktuelle Pandemie noch einmal klar gemacht. Die beiden Staaten mit dem angeblich besten Pandemieschutz sind danach ausgerechnet die USA und Großbritannien – die nun zu dem am härtesten betroffenen Länder der OECD-Welt gehören. Dieser zu Beschönigung und Eigenlob verführenden Berichtspraxis könnte ein Verfahren etwas entgegensetzen, das sich bei anderen völkerrechtlichen Verträgen mit Berichtspflicht (z.B. der UN-Kinderrechtskonvention) bewährt hat. Neben dem Staatenbericht wird ein Schatten- oder Gegenbericht von zivilgesellschaftlichen Akteuren angefordert, der auch vorhandene Mängel sichtbar macht. Beide Berichte sind dann Grundlage von Empfehlungen. Diese Berichtsaufgabe einer „National Coalition“ zivilgesellschaftlicher Organisationen mit eigenen Recherchemöglichkeiten in einem breit verstandenen Feld der Pandemie- und Gesundheitsvorsorge könnte das Selbstbewusstsein und die Wächteraufgabe der Zivilgesellschaft stärken und so ein Gegengewicht zur bislang behördlich gesteuerten Katastrophenvorsorge und ihren Unzulänglichkeiten bilden.

2. Für einen demokratisch ausgestalteten Infektions- und Katastrophenschutz

Ein neues, grundrechtsorientiertes Pandemierecht und entsprechend veränderte Katastrophenschutzpläne, die Grundrechtseingriffe begrenzen und Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft eine Chance geben, sind dringend erforderlich. Die vorhandenen rechtlichen Grundlagen, vor allem das Infektionsschutzgesetz, scheinen weitgehend ungeeignet, um angemessen auf Pandemien zu reagieren. Wer den umfangreichen Bericht des Whistleblowers aus dem Bundesinnenministerium über die behördliche Corona-Schutzpolitik liest, muss sich unbehaglich fühlen, auch wenn dessen Einschätzung eines geringen Gefahrenpotential des Virus irrig ist (Kohn 2020). Die beschriebenen behördlichen Unzulänglichkeiten und Versäumnisse sind zu groß, um auf Lösungen aus dem Innern des Apparats zu vertrauen. Die nächste Pandemie kommt bestimmt und wann die aktuelle enden wird, wissen wir nicht. Eine demokratisch-bürgerrechtlich angemessene Präventions- und Krisenpolitik ist auch mit Blick auf andere bedrohliche Entwicklungen, wie die Klimakrise unabdingbar.

Die Aufgabe ist keineswegs einfach, geht es doch immer wieder darum, berechtigte Schutzwünsche gegen den bürgerschaftlichen Anspruch auf Selbstverantwortung abzugleichen. Wenn sich Mitmenschen leichtfertig und rücksichtslos im öffentlichen Raum bewegen, liegt es nahe, auf die ordnende und im Zweifel auch strafende Hand des Staates zu setzen. Aber das Vertrauen in die staatliche Vorsorge durch Ordnungsrecht ist nicht unbegrenzt und erfolgsabhängig. Zudem wird es den Ansprüchen einer selbstbewusster auftretenden Bürgerschaft nicht gerecht. Eckpunkte für eine Alternative finden sich bei Frankenberg (2020:4). Er plädiert für ein „schneller lernendes Recht“: „In dieses ließen sich mit Selbstbestimmung und Freiwilligkeit Maßstäbe einstellen, ohne die auch der verbotsgestützte und mit Zwang durchgesetzte Infektionsschutz letztlich nicht auskommt. Beim nicht ganz nebensächlichen Händewaschen etwa, wohl auch beim Abstandhalten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müsste nach den Erfahrungen dieser Wochen reanimiert und neu eingeschärft werden. … Nach der Logik von Vernunft, Verzicht und Solidarität, wenn dies denn die Komponenten des Merkel‘schen Programms sein sollten, könnte das Infektionsschutzrecht von Zwang, der sich mit der Zeit wund scheuert, auf trial and error und von Strafen auf Anreize umgestellt werden. Mit ‚Regeln’ statt Verboten und Aufklärung statt Zwang wäre das Experiment (nicht der Exit!) zu wagen, COVID-19 mit einem angebotsorientierten, die Betroffenen beteiligenden Recht beizukommen“. Ziel ist auch im Bereich der öffentlichen Gesundheitsvorsorge eine Vertrauensbeziehung zwischen staatlichen Behörden und Gesundheitseinrichtungen einerseits und der betroffenen Bevölkerung andererseits, die auf Information, Transparenz und vor allem Mitsprache gründet.

Dies erfordert einige Veränderungen. Künftiger Pandemieschutz und die dafür zuständigen Gremien sollten wissenschaftlich wesentlich breiter aufgestellt sein, um auch die gesellschaftlichen Folgen von Schutzmaßnahmen in wichtigen Lebensbereichen abwägen zu können und Kollateralschäden nach Möglichkeit zu vermeiden. Der Menschenrechtsschutz von Bevölkerungsgruppen in besonders verletzlichen Lebenslagen verdient mehr politische Aufmerksamkeit. Größere politische Unabhängigkeit und verbesserte Kritikfähigkeit der beteiligten Gremien wäre ebenfalls wünschenswert. Der deutsche Hang zum Behördenmodell ist dabei wenig hilfreich, erzeugt es doch einen oft beobachteten, aber wenig hilfreichen Opportunismus, der die eigentliche Aufgabe der Einrichtungen, aber auch Beteiligungsansprüche aus der Bevölkerung in den Hintergrund drängen kann. Eine breite zivilgesellschaftliche Beteiligung ist unabdingbar, schon um den Einfluss von Lobbyinteressen entgegenzuwirken und staatlichen Versäumnissen vorzubeugen. Betroffenenvertretungen können dazu beitragen, dass besonders verletzliche Gruppen – von Kindern über Obdachlose und Menschen in Massenunterkünften bis zu Älteren und Pflegebedürftigen, um nur einige zu nennen – eine Stimme haben, wenn es um staatliche Schutz- und Fördermaßnahmen geht.

3. Öffentliche Infrastrukturen sichern, stärken und demokratisch erweitern

„Weil wir ausnahmslos alle abhängig sind von unterstützenden Infrastrukturen und Netzwerken, von Bindungen und Anerkennungsverhältnissen, die uns im Leben halten, weil wir alle angewiesen sind auf ein Gemeinwesen, das sicherstellt, dass alle gut füreinander und für sich selbst sorgen können, gilt es nicht nur, den Politiken der systematischen Verwahrlosung dieser Infrastrukturen entgegen zu treten, es gilt auch, die Strukturen der Unterstützung und Netzwerke des Lebens dort, wo sie fehlen zu schaffen.“ Sabine Hark (2020)

In Krisenzeiten haben nicht alle Lebensbereiche und Einrichtungen die gleiche Bedeutung für das Überleben und Wohlergehen der Bevölkerung. Im staatlichen Katastrophenschutz wurde dafür seit 2009 in Etappen die Strategie der „Kritischen Infrastrukturen“ (KRITIS) entwickelt. Dabei geht es um die verbindliche Kooperation von Ministerien, Organisationen und Branchen in Bereichen, „bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“. Nach dieser interministeriellen Definition gehören dazu Energie, Gesundheit, IT und TK, Transport und Verkehr, Medien, Wasser, Finanz- und Versicherungswesen, Ernährung sowie Staat und Verwaltung. Weite Teile der Zivilgesellschaft, auch des Sozialwesens gehören ebenso wenig dazu wie die bürgerschaftliche Praxis und demokratische Beteiligung über die Parlamente hinaus. Dass sie sehr wohl Teil einer demokratisch erweiterten „Kritischen Infrastruktur“ sein sollten, lohnt schon jetzt die Auseinandersetzung, will man nicht erneut unter Quarantäne gestellt werden.

Der Strategie der Kritischen Infrastruktur ist eine weitere Konstruktionsschwäche eigen. Sie setzt stark auf die Kooperation mit privatwirtschaftlichen Akteuren und deren Eigenverantwortung. Die Erfahrungen der letzten Monate legen eine kritische Überprüfung dieser Idee von Public-Private-Partnerships nahe. Eine deutliche Akzentverschiebung drängt sich auf. Statt auf wenig belastbare Partnerschaften zu setzen, gilt es gerade in der Pandemievorsorge und im Katastrophenschutz, aber nicht nur dort, einen gemeinnützigen, öffentlichen Bereich zu erhalten, zu stärken und auszubauen – allen voran ein öffentliches Gesundheitswesen. Die jüngste Pandemie ist auch ein Lehrstück in Sachen gesellschaftlicher Verantwortung. Trotz all der Debatten über Corporate Social Responsibilty und Corporate Citizenship zeigt sich in Krisenzeiten eindrucksvoll, dass weite Teile der Privatwirtschaft weder fähig noch willig sind, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen: weder für die unternehmensgesteuerten Globalisierungsprozesse mit ihren fragilen Fertigungsketten und volatilen Absatzmärkten noch für die größer gewordenen Segmente deregulierter und ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse im eigenen Land (in der Pflege, in Paketdiensten, der Fleischbranche, auf dem Bau etc.), von der in Deutschland oft Menschen aus Südost- und Osteuropa betroffen sind. Die Arbeits- und Wohnverhältnisse von Vertragsarbeitern minderen Rechts sind selbst zur Quelle besonderer Gesundheitsgefahren geworden – für die Beschäftigten wie für die Region, in der sie leben. Der Ruf nach staatlichen Rettungsschirmen und öffentlichen Mitteln lässt in Teilen der Privatwirtschaft die Umrisse eines Systems organisierter Verantwortungslosigkeit erkennen, das nach einem altbekannten Muster funktioniert: Gewinne privat aneignen, Verluste sozialisieren.

In Pandemiezeiten ist die Verfassung des Gesundheitswesens zentral. Dabei geht es nicht so sehr um das medizinische Leistungsniveau in der Spitze, sondern weit mehr um die Existenz und Ausstattung eines öffentlichen Gesundheitswesens, das für die Grundversorgung der breiten Bevölkerung zuständig ist. Die bedrückenden Erfahrungen in der Lombardei und Schweden geben Stoff zum Nachdenken, denn in beiden Regionen gibt es ein hochentwickeltes Gesundheitswesen. Die Spezialisierung auf kostspielige Eingriffe für solvente Patienten auf Kosten der medizinischen Grundversorgung wird für das Desaster in der Lombardei verantwortlich gemacht. In Schweden ist es das weltweit verbreitete neoliberale Schrumpfen der öffentlichen Gesundheitsversorgung.

„Schweden war zu Beginn der Krise eines der Länder mit der geringsten Anzahl an Notfallbetten pro Kopf in Europa. Seit Anfang der 1990er Jahre wurden dramatische Einschnitte bei den Notfallkontingenten des zivilen Bevölkerungsschutzes vorgenommen. Beispielsweise hatte Schweden 1993 insgesamt 4 300 Intensivpflegebetten mit Beatmungsgeräten, 2018 war die Gesamtzahl auf 574 gesunken“ (Gerin 2020: 1). Für Deutschland fehlt noch eine kritische Analyse und öffentliche Debatte, wie es zu diesem Mangel an Gesichtsmasken und Schutzkleidung zu Beginn der Pandemie kommen konnte. Schweden liefert dazu folgende Antwort: „Fehlende Notvorräte stehen in engem Zusammenhang mit der marktgesteuerten Deregulierung des Apothekensektors im Jahr 2009. Nach der Privatisierung fiel keinem Akteur die Verantwortung für die Haltung nationaler Notvorräte zu. Stattdessen stützte sich das neue deregulierte System auf die Erwartung, dass der private Markt auch in einer Krise stets in der Lage sein würde, den Bedarf zu decken“ (Gerin 2020:1) – eine Illusion, die auch in der zitierten Auskunft des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe spürbar ist.

Gefragt ist eine neue Infrastrukturpolitik, die bestehende Formen einer am Gemeinwesen orientierten Ökonomie erhält und zeitgemäß ausbaut. Notwendig ist zudem der Abschied von einer EU-Austeritätspolitik, die im Rahmen der Haushaltskonsolidierungen den Mitgliedsländern immer wieder Kürzungen im Gesundheitswesen zugemutet hat. Größere Teile des Gesundheitswesens werden in Deutschland von der öffentlichen Hand reguliert und von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben. Auch im Katastrophenschutz spielen sie noch immer eine zentrale Rolle. Weite Bereiche der Zivilgesellschaft und nicht nur die Freiwilligen im Zivil- und Katastrophenschutz sind deshalb mit einigem Recht als Teil einer „Kritische Infrastruktur“ anzusehen. Entsprechende Schutzschirme sind gerade in Krisenzeiten mehr als berechtigt und notwendig. Die Aufwertung dieser Infrastruktur sollte jedoch mit Beteiligungs- und Gestaltungsgarantien verbunden sein.

4. Kommunikative Infrastrukturen stärken, digitale Teilhabe als Grundrecht verankern

Homeschooling, Homeoffice oder Zoomkonferenzen sind in Corona-Zeiten für viele zum Alltag geworden. Digitale Formen der Beteiligung scheinen die einzig verbleibende Antwort. Es ist nicht länger eine individuelle Entscheidung, auf digitale Kommunikationswege zurückzugreifen. Digitale Netze sind auch schon vor Corona zu einer zentralen Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe in vielen Lebensbereichen geworden. Sie haben damit den gleichen Status, wie z.B. Wasserleitungen oder Strom- und Straßennetze.

In der Debatte über eine zeitgemäße Umsetzung der Kommunikationsrechte von Kindern und Jugendlichen gibt es schon längere Zeit ein überzeugendes Plädoyer für ein Recht auf digitale Teilhabe. Zentrale Begründung dafür war und ist, dass sich ein erheblicher Teil des Alltags der nachwachsenden Generation im Netz oder zumindest netzgestützt abspielt. Kinder, die diesen Zugang nicht haben, sind ausgeschlossen und vielfach benachteiligt.

Corona hat deutlich gemacht, wie sehr dies heute – zumindest in Krisenzeiten – auch für viele Erwachsene gilt. Dies spricht für ein Grundrecht auf digitale Teilhabe. Mit der Verwirklichung dieses Rechts sind zahlreiche Aufgaben verbunden, die aus der Debatte über öffentliche Infrastrukturen gut bekannt sind: Es geht zunächst um allgemeine technische Voraussetzungen, um eine garantierte und erschwingliche Versorgung, um sichere und verlässliche Netze. Angesichts der Übermacht der großen Internetkonzerne und ihrer kommerziellen Interessen in den bisherigen Digitalisierungsprozessen stellt sich die Frage, ob die kommunikative Grundversorgung nicht eine Angelegenheit der öffentlichen Hand sein müsste. Dabei können auch die Erfahrungen der zahlreichen Open-Source- und Civic-Tech-Initiativen genutzt werden, die zivilgesellschaftliche Alternativen zu privatwirtschaftlichen digitalen Diensten erprobt und entwickelt haben. Wie stets muss es auch um die Begrenzung von Risiken und Nebenwirkungen gehen – und die gibt es gerade auch in der digitalen Welt in großer Zahl: Themen wie Datenschutz und „darknet“ werden breit diskutiert. Das Recht auf digitale Teilhabe kann zudem ohne individuelle Kompetenzen nicht verwirklicht werden. Auch hier liegt eine Aufgabe der öffentlichen Hand, genauer des Bildungswesens.

Wer sich für ein Recht auf digitale Teilhabe einsetzt, muss dies nicht mit glänzenden Augen tun. Es geht um eine zeitgemäße und inzwischen selbstverständliche kommunikative Möglichkeit, nicht um die Verpflichtung, stets online zu sein. Trotz der „steilen Lernkurven“ in Krisenzeiten gilt es, die sozialen Kosten der digital erzeugten „Ferngesellschaft“ im Blick zu behalten.

5. Bürgerbeteiligung und freiwilliges Engagement sichtbar machen, absichern und stärken

Inzwischen liegen die ersten Studien zur Situation der organisierten Zivilgesellschaft (Krimmer u.a. 2020) und zur Bürgerbeteiligung (bipar 2020) in der Corona-Krise vor. Wesentliche Aktivitäten mussten heruntergefahren werden, blieben aber meist auf einem niedrigeren Niveau erhalten. Neue, in der Regel digital gestützte Ansätze sind hinzugekommen. Im Groben lassen sich folgende Herausforderungen benennen:

– Wesentliche Segmente der Zivilgesellschaft sind in Zeiten des Shutdown auf staatliche Unterstützung angewiesen, um ihre Strukturen zu erhalten. Dazu haben einige Bundesländer Initiativen gestartet und Hilfsprogramme aufgelegt. Auch das milliardenschwere zweite Unterstützungspaket der Bundesregierung, der „Wumms“, sieht Strukturhilfen vor, die teilweise von gemeinnützigen Organisationen genutzt werden können. Diverse gesetzliche Regelungen und Programme enthalten bereits Finanzhilfen für gemeinnützige Organisationen. Es wird darauf ankommen, das Profil dieser Hilfen und ihre Wirkungen auf die Zivilgesellschaft genauer im Blick zu behalten. Vor allem werden solidarische Anstrengungen notwendig sein, um jene „schwächeren“, informellen zivilgesellschaftlichen Akteure zu unterstützen, die von diesem Geldsegen nicht profitieren. Angesichts der erwartbaren finanziellen Restriktionen der öffentlichen Hand sind in Zukunft besonders lokale Solidaritäten gefragt, die auch zu einer gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Agenda beitragen können. Lokale Fonds können dabei helfen, dass wichtige zivilgesellschaftliche Initiativen Corona überstehen.

– Freiwilliges Engagement und Bürgerbeteiligung gab und gibt es auch unter Pandemiebedingungen, teilweise sogar mit neuen Akzenten etwa in der Nachbarschaftshilfe oder in Patenschaften, meist werden jedoch auf reduziertem Niveau bekannte Ansätze weitergeführt. Schon um die öffentliche Sichtbarkeit zu erhalten, ist es notwendig, diese Erfahrungen genauer aufzuarbeiten. Das gilt auch für Proteste und soziale Bewegungen, die es international gerade in Corona-Zeiten in größerer Zahl gegeben hat. Wie widerstandsfähig waren und sind die vorhandenen Ansätze, wer hatte und hat die Chance sich zu beteiligen, welche Vorkehrungen können in Vorkrisenzeiten getroffen werden? So lauten einige der Fragen für eine zukunftsorientierte Debatte über die Corona-Erfahrungen, die zur Stärkung von Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in demokratischer Absicht beitragen will.

– An der Ausgestaltung der Krisenpolitik waren Bürgerschaft und zivilgesellschaftliche Akteure nur ausnahmsweise und hoch selektiv beteiligt. Schon früh wurde auf diese Aufgabe und Chance hingewiesen: „Auch mit Freiwilligen, das lehrt die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge 2015, ist zu rechnen. Vorausgesetzt, die Zivilgesellschaft wird nicht unter Hausarrest gestellt und durch Verordnungen und Allgemeinverfügungen demobilisiert, sondern in die Diskussion über das Notwendige einbezogen“ (Frankenberg 2020: 4f.).  Dies ist bislang nicht oder nur in Ansätzen geschehen. Initiativen, Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen und andere zivilgesellschaftliche Akteure könnten sich zusammentun, um präventiv eine eigene, zivilgesellschaftlich fundierte Agenda im Umgang mit Pandemien und anderen Krisen zu entwickeln, die vor uns liegen. Eine Perspektive für das Netzwerk Bürgerbeteiligung und andere zivilgesellschaftliche Akteure könnte es z.B. sein, einen beteiligungsstarken Pandemie- und Katastrophenschutz in kommunalen Beteiligungsleitlinien zu verankern und ihre Verbreitung fördern.

6. Robuste Versammlungs-, Protest- und Begegnungsformate entwickeln

Quarantäne und Lockdown haben die digitale Kommunikation enorm beschleunigt. Auch digitales Engagement und digitale Bürgerbeteiligung haben Hochkonjunktur. Es gibt kaum ein Beteiligungsformat (etwa lokale Bürgerversammlungen, informelle Bürgerbeteiligung an Bauvorhaben oder Bürgerinitiativen), das nicht auch digital erprobt worden ist. Möglichkeiten und Grenzen digitaler Teilhabe sind zur Alltagserfahrung von vielen Engagierten geworden. Umso wichtiger ist der Austausch über die dabei gewonnenen Einsichten. Was hat sich bewährt, wer konnte sich beteiligen, wer blieb ausgeschlossen, welche Themen waren besonders geeignet? Dies sind einige der wichtigen Fragen, um den Pandemie induzierten Erfahrungsschatz für die künftige Gestaltung digitaler Beteiligung zu sichern.

Gefragt ist auch eine nüchterne Debatte über die Grenzen digitaler Kommunikation und Beteiligung. „Was die Krise gezeigt hat, ist, wie wichtig uns Nahbeziehungen sind. Sicher, physische Nähe ist nicht alles, sie lässt sich – etwa durch Online-Kommunikation – überbrücken. Viele Menschen haben das Homeoffice schätzen gelernt, und Arbeitsgeber wissen nun, dass ihre Beschäftigten zu Hause oft produktiver sind als im Büro. Das wird sicher Folgen in der Organisation von Arbeitsabläufen haben. Gleichzeitig aber haben die meisten erfahren, wie sehr sie die persönliche Nähe zu anderen Menschen, zu Kollegen, Nachbarn, Freunden schätzen und vermissen … Das Talent zur täglichen Neuerfindung und Selbstpräsentation verkümmert ebenso wie unsere sozialen Fähigkeiten. Dafür gibt es keinen vollgültigen digitalen Ersatz“ (Frevert 2020). Was hier auf allgemeiner Ebene formuliert wird, ist für die besonderen Ansprüche von Bürgerbeteiligung zu präzisieren. Es geht dabei nicht um ein schlichtes Gegeneinander digitaler Beteiligung und direkter Begegnung, sondern um eine Sensibilisierung für die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen. Im Zentrum dürften dabei Varianten der „blended participation“, d.h. der Verknüpfung von on- und offline stehen.

Nach der Öffnung von Kirchen, Supermärkten und Gartencentern sind auch öffentliche Versammlungen, Veranstaltungen etc. unter Sicherheitsauflagen möglich. Die Straße gehört inzwischen nicht mehr nur Corona-Leugnern, wie die großen Proteste gegen Rassismus („Black Lifes Matter“) am ersten Juni-Wochenende gezeigt haben. Wie pandemie- und gesundheitsbewusste Begegnungs-, Protest- und Demonstrationsformate aussehen können, gehört zu den aktuell besonders drängenden Fragen. Für all diese Erfahrungsbereiche der Bürgerbeteiligung unter Pandemiebedingungen dürfte eine Sammlung von innovativen und brauchbaren Formaten sowie die Erarbeitung von Qualitätsmerkmalen verdienstvoll sein.

7. Vertiefte soziale Ungleichheiten thematisieren und gezielt abbauen

Zu Beginn der Pandemie sah es in Westeuropa so aus, als würden vor allem Bessergestellte und global aktive Bevölkerungsgruppen von COVID-19 betroffen sein. Eine der wohlhabendsten Provinzen Italiens und der österreichische Wintersportort Ischgl gehörten zu den ersten Hotspots. Inzwischen sind auch in Westeuropa ärmere Bevölkerungsgruppen, die keine Chance haben den Abstandsauflagen zu folgen und sich im Homeoffice zu schützen, deutlich stärker betroffen. Hotspots im Landkreis Gütersloh und in Göttingen bestätigen diesen Trend. Damit bestätigt sich eine gesicherte historische Erfahrung: Pandemien führen naturwüchsig zur Verschärfung alter und Entstehung neuer sozialer Ungleichheiten. Die sozialen Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung sind aktuell noch wenig sichtbar – versteckt hinter globalen Wirtschaftsdaten und Arbeitsmarktzahlen. Erst im September ist von enormen Einkommensverlusten in den unteren Lohngruppen berichtet worden. Aktuell stehen die unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen der Pandemie und ihre Bekämpfung im Vordergrund. Die in den ersten staatlichen Stützungsprogrammen „Bazooka“ und „Wumms“ enthalten Krisenhilfen und Konjunkturmaßnahmen in bislang unbekannten Dimensionen. Trotzdem werden sich – so ist zu erwarten – ungleiche Lebenslagen und Bildungschancen sowie regionale Ungleichheiten vertiefen. Auch einige der besonders stark betroffenen Gruppen sind bekannt: Kinder, Migranten, Geflüchtete, Eltern, Alleinerziehende, Arme, Obdachlose, „Soloselbständige“, prekär Beschäftigte, Studierende ohne elterliche Unterstützung, „Tafelkunden“, ältere Menschen in Einrichtungen sind nur einige auf einer langen Liste. All diese Gruppen stehen nicht im Zentrum der staatlichen Rettungsprogramme, die damit soziale Schieflagen und Ausgrenzungen noch zu verstärken. Die Corona-Pandemie ist nicht zur Stunde eines inklusiven Garantismus geworden, obwohl die Stimmen für ein garantiertes Grundeinkommen zugenommen haben. Dies gilt auch für die Forderung nach transnationalen Solidaritäten und „weltweiten Sozialstandards“.

Was hat das alles mit Bürgerbeteiligung, freiwilligem Engagement und Demokratie zu tun? Werden hier nicht sozialromantische Gleichheitswünsche aufgefrischt, die nichts mit dem Thema zu tun haben? Wir wissen um das mittelschichtig geprägte Sozialprofil der aktiven Bürgerschaft. Es wird durch die Pandemie vermutlich noch einmal exklusiver. Dass Demokratie auch eine Verteilungsfrage ist und ohne ein Minimum sozialer Gleichheit nicht auskommt, hat kürzlich Stephan Lessenich (2019) in Erinnerung gerufen. Es gibt sicher keine festen Obergrenzen für soziale Ungleichheiten in noch funktionsfähigen Demokratien. In den USA wird eine Publikation aktuell stark diskutiert, die im Titel eine Stimmungslage ausdrückt, auf die wir uns auch zubewegen könnten: „Democracy may not exist. But we’ll miss it when it’s gone“ (Taylor 2019).

Es wird auch die Aufgabe einer aktiven Bürgergesellschaft sein, dafür zu sorgen, dass Bürgerbeteiligung und freiwilliges Engagement jenseits der Nothilfe nicht zu einer Wohlfühlinsel für Bessergestellte werden, die ihre Privilegien fest im Blick haben.

8. Globalisierungsprozesse politisch regulieren und begrenzen.

Ob wir wirklich eine „finale Entzauberung der Globalisierung“ (Menzel 2020) erleben, kann offen bleiben. Dass Globalisierungsprozesse (Lieferketten, Flüge, Kreuzfahrtschiffe etc.) für die schnellere Verbreitung von Virusinfektionen sorgen, ist dagegen unstrittig. Was in Pestzeiten noch Jahre dauerte, vollzieht sich heute in wenigen Tagen und Wochen. Nicht von ungefähr sind Megacities besonders betroffen.

Die Globalisierung frisst in der Pandemie ihre Kinder auf: „Bestimmte Produktionen, etwa die von Medikamenten, sind inzwischen komplett in den asiatischen Raum ausgelagert. Auch die Produktion von Gesichtsmasken findet in Europa kaum mehr statt. Darüber hinaus sind regionale Fertigungsabläufe gestört, weil notwendige Vorprodukte, etwa aus China nicht mehr lieferbar sind. Globale Lieferketten erweisen sich als höchst zerbrechlich, weil viele Branchen komplett auf Lagerhaltung verzichtet haben, weil man bis vor der Pandemie alle benötigten Einzelteile jederzeit und schnell von überall her beziehen konnte. Corona erinnert nachdrücklich an globalisierungsgetriebene Externalisierungen. Dem Wohlstand der Nationen korrespondiert im globalen Maßstab eine dunkle und daher allzu gerne ausgeblendete Seite: der „Übelstand der Nationen“ (Lessenich 2016: 43).

Diese hier nur angedeutete Globalisierungskritik, die unter Corona-Bedingungen neue Brisanz gewonnen hat, befördert naturwüchsig regionale und nationalstaatliche Antworten. Die darauf spezialisierten populistischen Kräfte stehen bereit. Aber die Pandemie enthält auch eine andere Botschaft, die überzeugender ausfällt. Gefordert sind neue globale Regulierungen. „Dabei können Risiken, deren Ursachen global entstehen, auf nationalstaatlicher Ebene nicht effektiv bekämpft werden. Vielmehr erfordern globalisierte Risiken eine überstaatliche Bewältigung im Mehrebenensystem“ (Klafki 2017: 2). Neben einer verlässlichen und nachhaltigen regionalen Ökonomie kann es auch angesichts von Corona nicht um eine tiefgreifende De-Globalisierung gehen. Aber ohne eine Relativierung des Primats der Kostensenkung und eine Stärkung von Sozial- und Umweltstandards wird es keine progressiven Wege aus der Krise geben. Dass dieser Wandel ohne eine selbstbewusste und aktive Bürgergesellschaft und soziale Bewegungen zustande kommt, ist – auch dies haben die letzten Monate deutlich gemacht – sehr unwahrscheinlich.

9. Die Chancen von Föderalismus und Kommunalisierung nutzen

„Die Gesellschaft wird nach dieser Krise eine andere sein. Wir haben die Chance, sie zu gestalten,“ so formulierte hoffnungsvoll Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags. Föderalismus und eine starke kommunale Selbstverwaltung können durch unterschiedliche Regelungen und Vorschriften nicht nur zur allgemeinen Verwirrung beitragen (Stichwort „Flickenteppich“), sondern auch lokal angepassten Lösungen ermöglichen. Dafür spricht, dass „die Krisenreaktionsfähigkeit der kommunalen Verwaltung deutlich ausgeprägter“ ist (Ritgen 2020: 204). Einige Bundesländer haben Landesprogramme zur Stärkung der Zivilgesellschaft aufgelegt und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für den sozialen Zusammenhalt in Krisenzeiten betont.

Mitte Mai 2020 wurde eine weitgehende Kommunalisierung der Corona-Politik beschlossen, die Gesundheitsämter von Städten und Landkreisen zu zentralen Akteuren werden lässt. Ob die Gesundheitsämter dieser Aufgabe gewachsen sind bzw. entsprechend ausgestattet werden, ist eine offene, auch sorgenvolle Frage. Mehr als die Hälfte der repräsentativ befragten Gesundheitsämter sah dies im Sommer 2020 nicht so. Gleichzeitig eröffnet die Kommunalisierung der Pandemievorsorge auch Gestaltungschancen. Kommunen wissen nicht erst seit 2015, wie sehr ihre Leistungsfähigkeit vom Engagement der Bürgerschaft abhängt. Spielräume können selbstbewusster mit starker Bürgerbeteiligung genutzt werden. Aus der passiven Hinnahmebereitschaft kann selbstbestimmtes Handeln werden. Lokale Angebote und Lösungen im Umgang mit der Pandemie und ihren sozialen Folgen können neue Sichtbarkeit erzielen. Möglicherweise entsteht auch eine Agenda, die bei der nächsten Pandemie, die kommen wird, den Abschied von ordnungs- und seuchenpolizeilichen Vorstellungswelten begünstigt.

Ein Schritt in diese Richtung kann z. B. die  Bürgerbeteiligung an der Entwicklung von lokalen Pandemie-Plänen sein. Nicht nur der Bund und die Länder sind dazu verpflichtet, solche Pläne aufzustellen, sondern auch die Kreise und kreisfreien Städte. Nach einer Umfrage verfügten zu Corona-Beginn rund vier von fünf Städten mit über 100.000 Einwohnern über einen Notfallplan, bei den Kommunen von 20.000 bis 100.000 waren es noch 42 Prozent. Allerdings waren die meist nach der H1N1-Influenzapandemie von 2009 entwickelten Notfallpläne nur in jeder vierten Kommune „weitgehend“, in zwei von drei Kommunen nur „teilweise anwendbar“. Deshalb müssen sie in vielen Orten mit Blick auf eine mögliche zweite Welle der Corona-Pandemie aktualisiert werden. Hier bietet sich eine Chance zu verhindern, dass Demokratie und Bürgergesellschaft erneut unter Quarantäne gestellt werden.

10. Mehr bürgerschaftliches Selbstbewusstsein zeigen – die Krise als Gestaltungschance wahrnehmen und einfordern

Solche Aufrufe haben paradoxen Charakter. Sie ähneln der Forderung: „Sei spontan!“ Dennoch sind wechselseitige Ermutigungen notwendig, um Wege aus der Angststarre zu finden. Bürgerinnen und Bürger sind keine Mündel eines vormundschaftlichen Staates – auch nicht in Corona-Zeiten. Unbescheidenheit ist erforderlich, um in Krisenzeiten nicht zum Objekt von Ordnungsbehörden zu werden, die uns voreinander schützen. Gefragt ist eine Bürgerschaft, die sich als „demokratischer Antikörper“ gegen eine paternalistische Politik versteht. Die auch unter Pandemiebedingungen entwickelten sozialen und politischen Innovationen können ermutigen, weil sie ein gesellschaftliches Gestaltungspotential sichtbar machen.

Wer meint, die aktuelle Pandemie sei lediglich ein vorübergehendes Ärgernis, das wir möglichst entspannt hinnehmen sollten, um unnötige „Aufregungsschäden“ (Niklas Luhmann) zu vermeiden, könnte sich täuschen. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, die Erfahrungen mit COVID-19 ernster zu nehmen. Die besondere Ansteckungsgefahr in den Fleischverarbeitungsbetrieben ist nur eines von vielen Symptomen: „Dieses Virus ist gefährlich, weil es sehr leicht zu übertragen ist. Nicht, weil es besonders pathogen, also krankheitserregend wäre. Es ist für mich vor allem eine Krankheit unserer Lebensweise … Das Virus macht unsere wunden Punkte sichtbar. Wir haben als Menschheit noch etwas Zeit, aber die Uhr tickt“ (Capua 2020).

Eine kurze demokratiepolitische Zwischenbilanz

Grob lassen sich drei Demokratievarianten unterscheiden, die in Deutschland in den letzten Jahren konkurrieren und eine Antwort auf die Erosions- und Krisenerscheinungen des repräsentativen Modells der Nachkriegsdemokratie bieten wollen (ausführlicher Roth 2019):

(1) Eine rechtspopulistische „Demokratie“ setzt auf autoritäre Führerschaft, befördert politische Polarisierungen und beschwört einen „Volkswillen“, der sich gegen die „alten politischen Eliten“ wendet. Ein aggressiver Nationalismus nach außen und der Kampf gegen kulturelle Vielfalt im Namen „traditioneller“ Werte in der eigenen Gesellschaft gehören zu diesem bislang international erfolgreichsten Nachfolgemodell, das mit sehr unterschiedlichen Akzenten von Trump, Salvini oder Kurz repräsentiert wird. Der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) signalisiert, dass es auch in Deutschland beachtliche Resonanz für dieses „Demokratiemodell“ gibt. Der Aufstieg der AfD hat sich wesentlich über die Krisenkommunikation entlang von Themen wie den „Euro“ und die Flüchtlingszuwanderung vollzogen. Aktuell versucht sie vom Unbehagen und der Wut über die staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu profitieren und sucht den Schulterschluss auf „Hygiene“-Demonstrationen“. Ihre politische Resonanz ist allerdings bislang bescheiden. Wie in einigen anderen westeuropäischen Ländern ist es den rechtspopulistischen Kräften nicht gelungen, eine eindeutige Antwort auf die Pandemiekrise zu finden. Vielmehr schwanken sie zwischen Leugnung und Verharmlosung einerseits und der Anrufung eines starken, schützenden Nationalstaats andererseits. Mit der stark ordnungspolitisch geprägten Regierungspolitik und ihren freiheitsbeschränkenden Maßnahmen war der zweite Pol bereits hinlänglich besetzt. Zumindest in der ersten Phase konnten rechtspopulistische Kräfte in Deutschland keinen unmittelbaren politischen Nutzen aus der Pandemie ziehen. Ob die Krise und die darauf bezogenen politischen Antworten subkutan autoritäre Orientierungen gestärkt haben, lässt sich aktuell nur schwer beurteilen.

(2) Die „realexistierende“ Demokratie oder das „realistische“ Demokratiemodell hat in der Pandemiekrise eine überraschende und beachtliche Stärkung erfahren. Was als Retraditionalisierung beschrieben wurde, steht im Zentrum einer Demokratie-Variante, die auf den status quo ante setzt. Eine gewählte politische Führung bewährt sich durch professionelle Politik und verzichtet weitgehend auf zusätzliche Formen der politischen Beteiligung. Gegen entsprechende Forderungen aus der Bevölkerung setzt sie selbstbewusst auf eine „Democracy without Participation“ (Parvin 2018). Hilfreich können aus „realistischer“ Sicht einzig unverbindliche, beratende Formen der Bürgerbeteiligung sein, die einer kleinen Auswahl von Zufallsbürger_innen offenstehen. Sie können legitimatorisch jenes Bürgerwissen zur Verfügung stellen, das von ausgedünnten politischen Parteien und Verbänden nicht mehr erwartet wird. Auch ohne diese konsultative Ergänzung hat Corona bislang in Deutschland in erster Linie das realistische Demokratiemodell gestärkt. An einer starken und selbstbewussten Zivilgesellschaft hat dieses Modell kein Interesse. Dass sie in der Corona-Krise „vergessen“ wurde, ist aus dieser Perspektive kein Zufall. Willkommen sind dagegen „helfende Hände“.

Ob die politische Unterstützung für das „realistische“ Demokratiemodell mit den Lockerungen bröckelt und wieder verstärkt politische Beteiligungsansprüche geltend gemacht werden, ist gegenwärtig offen. Vieles spricht dafür, dass der längerfristige Trend in Richtung verstärkter Teilhabe einer selbstbewussten Bürgerschaft nicht einfach abgewürgt werden kann.

(3) Dieser Beitrag wurde aus der normativen Perspektive einer „vielfältigen Demokratie“ verfasst. Das Modell versteht sich als progressive Antwort auf das schwächelnde Nachkriegsmodell liberaler Demokratie und setzt auf „mehr Demokratie“. Zu den bekannten repräsentativen Formen (Wahlen, Parlamente, Parteien etc.) sollen gestärkte Formen der direkten Demokratie (Bürger- und Volksentscheide, aber auch Bürgerhaushalte und Bürgerfonds) und der dialogischen Bürgerbeteiligung (Bürgerräte, informelle Bürgerbeteiligung etc.) hinzukommen. Vielfältige Demokratie setzt jedoch nicht nur auf diese institutionell verfassten Formen, sondern gewinnt ihre Kraft aus einer vielfältigen, selbstbewussten Zivilgesellschaft und einer aktiven Bürgerschaft.

Sie setzt eigene Themen und kontrolliert das Regierungshandeln. Zu den prominenten politischen Formen „von unten“ gehören Bürgerinitiativen, Proteste und soziale Bewegungen, bürgerschaftliches Engagement und die demokratische Mitsprache und Mitgestaltung in Alltagseinrichtungen von der Kita bis zum Pflegeheim. Dass dieses Modell immer wieder an die Grenzen einer kapitalistisch verfassten Ökonomie und die entsprechenden Herrschaftsstrukturen stößt, kann einen Lernprozess im Sinne eines radikalen Reformismus bewirken. Vor allem immunisiert vielfältige Demokratie gegen autoritäre Zumutungen.

In den letzten Jahrzehnten hat diese partizipative Demokratievariante an Bedeutung und Profil gewonnen. Vielfältige Demokratie hatte in der ersten Corona-Phase kaum Chancen, sich zu entfalten. Davon handelt dieser Beitrag, der auch die politischen Kosten dieser keineswegs notwendigen Geringschätzung bzw. Vernachlässigung verdeutlicht. Er ist als Aufforderung zu verstehen, vielfältige Demokratie zu einer politischen Produktivkraft auch in krisenhaften Zeiten zu machen. Ob aus den Erfahrungen des Lockdown ein dauerhafter Schaden im Sinne einer demokratisch schwindsüchtigen „neuen Normalität“ entsteht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, die durchaus vorhandenen demokratiestärkenden Impulse und Initiativen – von „Black Lives Matter“ bis zu „Fridays for Future“ – aufzugreifen und zu verstärken.

1 Der Beitrag beruht auf einem leicht bearbeiteten Abschnitt aus einem längeren Text. Dort sind auch detaillierte Nachweise und weitere Hinweise zu finden. (https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/68889/ssoar-2020-roth-Demokratie_und_Burgerbeteiligung_in_Zeiten.pdf?sequence=5&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2020-roth-Demokratie_und_Burgerbeteiligung_in_Zeiten.pdf)

Zitierte Literatur

Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Berlin Institut für Partizipation (bipar) 2020: Das verlorene Jahr? Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Bürgerbeteiligung in Deutschland. Berlin: Bipar.

Capua, Ilaria 2020: „Die zweite Welle haben wir selbst in der Hand.“ Interview In: Tagesspiegel vom 2. Juli 2020.

Frankenberg, Günter 2020: COVID-19 und der juristische Umgang mit Ungewissheit. In: www.verfassungsblog.de vom 25. April 2020.

Frevert, Ute 2020: Zwischen Angst und Empathie – kollektive Gefühle in der Coronakrise. In: Tagesspiegel vom 14. Mai 2020, S. 26.

Gerin, Enna 2020: Schluss mit lustig. Die Todeszahlen in Schweden sind erschreckend hoch. Das liegt nicht nur an der aktuellen Corona-Strategie. In: Internationale Politik und Gesellschaft – IPG-Journal vom 27.05. 2020.

Hark, Sabine 2020: Corona und die Politik des Lebens. In: https://www.logbuch-suhrkamp. de/sabine-hark/corona-und-die-politik-des-lebens/, 13.07.2020.

Klafki, Anika 2017: Risiko und Recht. Risiken und Katastrophen im Spannungsfeld von Effektivität, demokratischer Legitimation und rechtsstaatlichen Grundsätzen am Beispiel von Pandemien. Tübingen: Mohr Siebeck.

Kohn, Stephan 2020: Coronakrise 2020 aus Sicht des Schutzes Kritischer Infrastrukturen. Berlin: BMI (inoffizieller Bericht vom Mai 2020), in: https://behoerden.blog/wp-content/uploads/2020/05/Bericht-KM4-Corona-1_geschw%C3%A4rzt.pdf, 13.07.2020.

Krimmer, Holger u.a. 2020: Lokal kreativ, finanziell unter Druck, digital herausgefordert. Die Lage des freiwilligen Engagements in der ersten Phase der Corona-Krise. Berlin: ZiviZ

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Menzel, Ulrich 2020: Der Corona-Schock: Die Entzauberung der Globalisierung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (65) 4, 37-44.

Parvin, Phil 2018: Democracy Without Participation: A New Politics for a Disengaged Era. In: Res Publica (24), 31–52.

Ritgen, Klaus 2020: Passgenaue Vielfalt oder Flickenteppich? Die Corona-Pandemie und der Föderalismus. In: Der Landkreis 5, 203-209.

Roth, Roland 2019: Turbulente Zeiten: Der Kampf um das neue Gesicht der Demokratie. In: spw (Heft 233), 4, 64-71.

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Scheu, René 2020: Warum das Ende der Geschichte nun definitiv zu Ende ist. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Mai 2020.

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