Wie konnte das passieren? Die Demobilisierung der Bevölkerung und der Aufstieg der extremen Rechten in Argentinien

Adrián Piva (Buenos Aires)

Der Aufstieg der extremen Rechten und die Übernahme der Regierung in Argentinien haben die Linke und emanzipatorische Bewegungen erschüttert. Der Wahlsieg von Javier Milei ist das Ergebnis tiefgreifender Veränderungen in der argentinischen Politik. Er stellt nicht nur eine lange Tradition von selbstorganisierten sozialen Kämpfen in Frage, sondern bedroht die bürgerliche Demokratie.

Der Wahlsieg war das Ergebnis eines Prozesses der Auflösung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit, die das Fundament der argentinischen Gesellschaft nach der Krise von 2001[1] bildeten und Wirtschaft und Politik miteinander verbanden. Er bedeutet daher das Ende einer Epoche und den Eintritt in eine Phase der Unsicherheit.

Die Auflösung globaler Grundlagen

Die globale Krise von 2008 leitete 2009 nach der Rezession eine Phase schwachen weltweiten Wachstums[2] ein, die begleitet war von einem allgemeinen Druck zur Umstrukturierung und zur Steigerung der Produktivität[3]. Hinzu kamen eine Koordinationskrise nationaler Antworten auf die globalen Prozesse[4] sowie geopolitische Spannungen.[5]

Diese unterschiedlichen Krisendimensionen der gegenwärtigen kapitalistischen Phase sind über die Krise des Neoliberalismus miteinander verkoppelt. Der Neoliberalismus verband eine Strategie politischer Dominanz (Disziplinierung der Arbeiterklasse über den Markt), eine faktische Koordination nationalstaatlicher Politiken (Washington-Konsens) und eine Ordnung (Hierarchie) im imperialistischen System (informelles Imperium) miteinander.

Die Krise des Neoliberalismus begann in großen Teilen Südamerikas bereits Anfang des neuen Jahrhunderts – also vor der globalen Krise 2008. In Argentinien wurde sie durch den Volksaufstand im Dezember 2001 markiert. In diesem Sinne war die letzte expansive Phase des Neoliberalismus auf globaler Ebene (die Periode zwischen 2002 und 2008) Teil der Ermöglichungsbedingungen für einen Zyklus links-populistischer Regierungen in der Region, zu denen auch die kirchneristischen Regierungen zwischen 2003 und 2015 in Argentinien gehörten. Insbesondere die Verbesserung der Terms of Trade, bedingt durch die hohen Preise für Industrie- und Agrarrohstoffe, die Argentinien exportiert, bildeten die Grundlage für eine Phase wirtschaftlichen Wachstums mit Leistungsbilanzüberschüssen – eine Seltenheit für die argentinische Wirtschaft, die durch die Verbindung von wirtschaftlicher Expansion und außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten gekennzeichnet ist. Der externe Überschuss verschaffte dem Nationalstaat die finanzielle Autonomie, die es den kirchneristischen Regierungen ermöglichte, eine graduelle, fragmentierte, aber kontinuierliche Politik der Befriedigung von Forderungen der subalternen Klassen umzusetzen.

Das erklärt das scheinbare Paradoxon, dass das Ende des Zyklus links-populistischer Regierungen in Südamerika mit der globalen Krise des Neoliberalismus zusammenfiel – und insbesondere mit dem Beginn der Verlangsamung des Wachstums in China. Mit dem Eintritt in die aktuelle Phase des Kapitalismus lösten sich die globalen Grundlagen des lateinamerikanischen Linkspopulismus auf.

Darüber hinaus war das Auslaufen des lateinamerikanischen Linkspopulismus eine der Ursachen der entstandenen Leere, was progressive politische Alternativen betraf. Tatsächlich muss die Krise des Neoliberalismus als ein historischer Prozess verstanden werden, der von immer neuen Wellen globaler Aufstände durchzogen ist. Die Aufstände Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts – zu denen die großen Antiglobalisierungsproteste gehörten – hatten ihr Epizentrum in Südamerika und führten als Ergebnis zum lateinamerikanischen Linkspopulismus. Eine neue weltweite Welle des Klassenkampfes ereignete sich zwischen 2010 und 2012 und war geprägt vom Arabischen Frühling und der Erfahrung von Syriza in Griechenland. Doch das Auslaufen des lateinamerikanischen Linkspopulismus, das Scheitern von Syriza und das blutige Niederschlagen des Arabischen Frühlings kennzeichneten den Charakter der dritten globalen Protest- und Rebellionswelle der Jahre 2018–2019 – wahrscheinlich der globalsten der drei, die durch das völlige Fehlen von progressiven Alternativen geprägt war.

Schwache Wachstumsraten, permanenter Umstrukturierungsdruck, politische Krisen, geopolitische Spannungen, Proteste und das Fehlen progressiver Alternativen – bilden den Rahmen für den Aufstieg der neuen Rechten, der extremen Rechten und der zunehmenden Ausbreitung autoritärer Regime. Man kann sagen, dass diese politischen Phänomene Teil der Versuche sind, die globalen Kräfteverhältnisse zu transformieren und zu stabilisieren. Diese Stabilisierungsversuche, unterschiedlich je nach Region und in den Nationalstaaten verankert, führten dazu, dass es keinen Ausweg, aus der mit der Weltwirtschaftskrise 2008 eröffneten Phase, gab. Hinter diesen Versuchen stehen die herrschenden Klassen, die traditionellen politischen Eliten, gesellschaftliche Gruppen, die mit dem Staatsapparat verbunden sind, und auch neue Führungspersonen und politische Kräfte, die versuchen, eine konservative und autoritäre Antwort auf die Krise, die Unsicherheit und den Widerstand der Subalternen zu organisieren.

Die Auflösung der nationalen wirtschaftlichen Grundlagen

Seit 2012 durchläuft Argentinien eine lange Phase von Krisentendenzen und wirtschaftlicher Stagnation. Neben den globalen Ursachen – schwachem Weltwirtschaftswachstum und Druck zur produktiven Umstrukturierung – sind auch lokale Ursachen zu nennen:

Erstens die Tendenz zur Zahlungsbilanzkrise. Die Kapitalakkumulation in Argentinien führt regelmäßig zu externen Engpässen (Devisenmangel), bedingt durch die technologische und finanzielle Abhängigkeit der Akkumulation. Trotz der zuvor erwähnten Verbesserung der Terms of Trade führten zwischen 2010 und 2011 der Importanstieg einer abhängigen Industrie, die Gewinnabführung ausländischer Unternehmen und die Kapitalflucht des lokalen Großbürgertums in die bereits bekannte Sackgasse des argentinischen Wirtschaftswachstums.

Zweitens verschärfte das Ende der lokalen Produktivitätsbasis den globalen Druck zur Umstrukturierung. Die letzte große Umstrukturierung des Produktionsapparates Argentiniens fand in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. Infolgedessen hat sich die relative Produktivität der argentinischen Wirtschaft verschlechtert.

Infolgedessen reichten fiskalische Anpassungen und Währungsabwertungen nicht aus, um die Kapitalakkumulation neu zu beleben. Sie führten – in Abwesenheit einer produktiven Umstrukturierung – lediglich zu Rezessionen und einer sich aufschaukelnden Spirale zwischen Abwertung und Inflation. Der Kern der Erklärung für die Dynamik und die zeitliche Ausdehnung der Stagnationsphase seit 2012 liegt in einem Kräfteverhältnis, das die aufeinanderfolgenden Versuche zur Umstrukturierung blockiert hat.

Mehr als zehn Jahre Stagnation, durchzogen von offenen Krisenphasen, haben jedoch zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter geführt, insbesondere der am stärksten verarmten. Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft schwächt die strukturellen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter als Klasse. Wenn kurzfristig Phänomene der Entbehrung zum Aufschwung von Arbeitskämpfen führen können – vor allem bei bereits bestehender Organisation –, setzt sich langfristig der gegenteilige Zusammenhang durch. Insbesondere durch die Konsolidierung und Vertiefung der Heterogenität der argentinischen Arbeiterklasse, vor allem die Spaltung zwischen formellen und informellen Beschäftigten, wurden die Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigt.[6]

Die Auflösung ihrer politischen Form: Erschöpfung des Kirchnerismus und Scheitern des Antikirchnerismus

Die Auflösung der wirtschaftlichen Grundlagen der seit Ende 2002 begonnenen Wachstumsphase untergrub die Möglichkeitsbedingungen der populistischen Strategie des Kirchnerismus. Seit 2003 vollzog sich der Wiederaufbau staatlicher Macht sowie die Konstruktion und Reproduktion von Konsens auf der Grundlage einer Strategie der schrittweisen Erfüllung von Forderungen der Subalternen. Die Unvereinbarkeit zwischen expansiver Fiskal- und Geldpolitik und einem Akkumulationsprozess, der von Rohstoffexporten industrieller Güter abhängt, nur geringe Produktivitätszuwächse aufweist und zur externen Beschränkung neigt, führte zu einem unausgewogenen Wachstum und dem Eintritt in ein Regime hoher Inflation. Diese Wiederbelebung einer peronistischen Politik mit den entsprechenden Vorstellungswelten aktivierte antiperonistische Reaktionen und Denkmuster, die weiterhin in weiten Teilen der Gesellschaft, insbesondere in den „Mittelschichten“, präsent sind.

Angesichts des Endes der Wachstumsphase versuchte die zweite Regierung von Cristina Kirchner (Dez. 2011 – Dez. 2015, dritte kirchneristische Regierung), einen schrittweisen fiskalischen Anpassungskurs einzuschlagen. Doch die Erosion ihrer Legitimationsbasis zwang sie zum Rückzug und zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Krisenabwehr (Kapitalverkehrskontrollen, teilweise Abschottung der Wirtschaft usw.), um eine Verschärfung der Krise zu verhindern. Der Beginn der Stagnationsphase und die offensichtliche Erschöpfung der politischen Strategie vertieften die Brüche und Abspaltungen innerhalb ihrer politischen Koalition und führten schließlich zum Wahlsieg der rechten Koalition „Cambiemos“.

Die neue Regierung unter Mauricio Macri versuchte eine Wiederherstellung des Neoliberalismus. Zunächst kam sie jedoch nur in Teilen bei der Konsolidierung (Sparmaßnahmen) voran. Später scheiterte der Versuch, eine „dreifache Reform“ (Arbeitsmarkt, Renten und Steuern) durchzusetzen am Widerstand der Bevölkerung an den Mobilisierungen im Dezember 2017. Auf das Scheitern der neoliberalen Restauration folgten zwei Jahre tiefer Krise, die schließlich im Dezember 2019 zur Rückkehr des Peronismus an die Regierung führten.

Die „Frente de Todos“ (FdT) war eine Koalition verschiedener Fraktionen des Peronismus, die sowohl den Druck von oben für die kapitalistische Umstrukturierung als auch den Widerstand von unten gegen eben diese verinnerlicht hatte. Einmal an der Macht, fehlte ihr eine klare Orientierung und Führung – was bestätigte, dass das Auslaufen des Kirchnerismus den Peronismus ohne Strategie zurückließ. Das Ende des Kirchnerismus und das Scheitern des Antikirchnerismus lösten die Achsen auf, die das politische System seit seiner Wiederherstellung nach der Krise von 2001 strukturiert hatten.

Die Demobilisierung der Arbeiter und der Bevölkerung

Mit dem Beginn der Stagnationsphase im Jahr 2012 – und auf der Grundlage einer Kräftekonstellation, die sich nach dem Volksaufstand von 2001 nicht wesentlich veränderte – begann 2012 ein neuer Zyklus von Protesten. Die Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften auf der Plaza del Congreso am 14. und 18. Dezember 2017, die an beiden Tagen über mehrere Stunden andauerten und gegen das Reformprogramm der Regierung von Mauricio Macri gerichtet waren, stellten den Höhepunkt des Mobilisierungsprozesses sowie der Einheit von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen (MS) dar.

Seit 2018 begann jedoch ein Prozess der Demobilisierung. In diesem Prozess spielte der Einfluss der Krise auf die strukturellen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiterklasse eine zentrale Rolle. Aber auch die institutionelle Kanalisierung des Konflikts nach der relativen Entinstitutionalisierung im Jahr 2017 trug wesentlich dazu bei. Dies zeigt sich am Scheitern der Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat, an der zunehmenden Mobilisierung der Arbeiter auf den Straßen und an den Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Dabei war insbesondere die Bildung der „Frente de Todos“ (FdT) und die Erwartung eines Wandels durch Wahlen von Bedeutung. Der Machtantritt des Peronismus vertiefte die Institutionalisierung des sozialen Konflikts und die Demobilisierung der Bevölkerung. Dies geschah gleichzeitig mit – und auf der Grundlage des Rückgangs der Reallöhne und dem Anstieg informeller Arbeitsverhältnisse, die die strukturellen Grundlagen des Protests untergruben.

Die Mobilisierung der Rechten

Eines der bedeutendsten Phänomene der letzten zwei Jahrzehnte in Argentinien war der Beginn der antikirchneristischen (antiperonistischen) Mobilisierung des Bürgertums ab den Jahren 2006 und 2007. Es handelte sich um den faktischen Bruch des Bündnisses auf den Straßen, das den Aufstand vom Dezember 2001 ermöglicht hatte, als sich die Straßen- und Brückenblockaden der verarmten Arbeiter mit den „Cacerolazos“ (Topfschlagen) der Mittelschicht vereinten. Die massive Einreihung dieser sozialen Gruppen hinter der Agrarbourgeoisie während der Steuerrevolte 2008 zeigte eine qualitative Wende.[7] Es war die Geburtsstunde einer sozialen Rechten, die zur Grundlage einer rechten politischen Allianz wurde. Doch es bedurfte noch der großen Mobilisierungen (Cacerolazos) in den Jahren 2012 und 2013, die die Ausweitung des Protests der Mittelschicht und das Eindringen der Opposition in Sektoren zeigte, die bis dahin peronistisch gewählt hatten. Zwischen August und Oktober 2019, im Wahlkampf zur Wiederwahl von Mauricio Macri, zeigte die Mobilisierung dieser Basis die Verwandlung der sozialen Rechten in ein politisches Subjekt – was sich in den Protesten gegen die Pandemie bestätigte, zu denen Juntos por el Cambio (ehemals Cambiemos) aufgerufen hatte.

Der Misserfolg der Rechten in der Regierungsverantwortung und die Auflösung der seit 2003 das politische System strukturierenden Achse (Kirchnerismus – Antikirchnerismus) beeinträchtigten die politische Konstitution dieses Subjekts tiefgreifend. Dies zeigte sich im Übergang zu ultrarechten Positionen – zunächst in der Figur von Patricia Bullrich, die eine zentrale Rolle bei den Protesten während und nach der Pandemie spielte, und später – in Reinform – in der Figur von Milei.

Die Forderung nach Ordnung

Doch der Prozess der rechten Radikalisierung konnte nur mit ihrem Eindringen in weite Teile der Arbeiterklasse und mit einer echten Verallgemeinerung der Forderung nach Ordnung enden. Die zeitliche Verlängerung der Krise hatte Auswirkungen, die nur auf mikrosozialer Ebene vollständig erfasst werden können. Die Krise beeinträchtigt letztlich das alltägliche soziale Miteinander, indem sie die soziale Ordnung bis in ihre feinsten Verästelungen durch eine Vielzahl unterschiedlich schwerwiegender Dysfunktionen untergrub. Die zunehmende Unsicherheit im Zusammenhang mit gewöhnlicher Kriminalität und dem wachsenden Drogenhandel ist real und betrifft vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter. In einem Regime hoher Inflation, die das Leben breiter Bevölkerungsschichten erschwert und massive Effekte auf ihre Einkommen hat, weitet sich die Forderung nach Ordnung auf alle Ebenen aus – wirtschaftlich, sozial und politisch – und wird zum verbindenden Element eines breiten Spektrums unterschiedlichster Forderungen. Während der Regierung Macri bildete dies die Grundlage für eine Rhetorik, die versuchte, die Wiederherstellung der Dominanz des Kapitals am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft insgesamt mit der Wiederherstellung einer „ordnungslosen Ordnung“ gleichzusetzen – also einer Ordnung ohne nähere Bestimmung. Mileis Diskurs vertieft diese Identifikation, vollkommen losgelöst von jeder Bezugnahme auf Republik und Demokratie – es bleibt nur die autoritäre Geste.

Die Wahlen

Die Stimme für Milei bündelte all diese Einflussfaktoren. Die Präsidentschaftswahlen in Argentinien bestehen aus drei Instanzen: den offenen und gleichzeitig stattfindenden Vorwahlen, in denen die Kandidaten bestimmt werden, die an den allgemeinen Wahlen teilnehmen dürfen; den allgemeinen Wahlen, an denen alle in den Vorwahlen bestätigten Kandidaten teilnehmen; und – falls keiner der Kandidaten 45 % der Stimmen oder 40 % mit mindestens 10 Prozentpunkten Vorsprung auf den Zweitplatzierten erreicht – einer Stichwahl zwischen den beiden meistgewählten Kandidaten der allgemeinen Wahlen. In allen drei Instanzen besteht Wahlpflicht.

Milei erreichte 30 % der gültigen Stimmen in den Vorwahlen und ebenfalls 30 % der gültigen Stimmen in den allgemeinen Wahlen.[8] Das reichte aus, um in den Vorwahlen den ersten Platz und in den allgemeinen Wahlen mit sieben Prozentpunkten Rückstand auf den peronistischen Kandidaten den zweiten Platz zu belegen. In der Stichwahl erreichte er 56 % der gültigen Stimmen. Zwei Aspekte der Stimme für Milei sind besonders bedeutsam:

Erstens: Milei kämpfte um die peronistische Wählerschaft in deren historischen Hochburgen – dem Arbeitergürtel um die Stadt Buenos Aires und den Provinzen im Norden des Landes, die das niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufweisen. Das zeigt eine Verbindung zwischen dem Anstieg der Stimmen für Milei und der Krise des Peronismus. Der Peronismus war historisch mit der Arbeiterklasse verbunden; die Krise des peronistischen Wahlverhaltens zugunsten der extremen Rechten ist der politische Ausdruck des Prozesses der Auflösung klassenbezogenen Verhaltens, den wir zuvor anhand der Auswirkungen der Krise auf die Klassenstruktur und der Demobilisierung im sozialen Konfliktfeld gesehen haben.

Zweitens gewann Milei die Stimmen von Juntos por el Cambio/Cambiemos in den antikirchneristischen Hochburgen, etwa in den Provinzen Santa Fe und Córdoba im Landeszentrum. Die Konzentration sowohl der peronistischen als auch der antiperonistischen Wähler:innen auf die Figur Mileis zeigt einerseits die Auflösung der politischen Strukturachsen, die das System seit 2003 geprägt haben, wirft aber zugleich die Frage nach der politischen Bedeutung dieser Verschmelzung auf. Eine naheliegende Hypothese – ausgehend von dem, was bisher dargelegt wurde – ist, dass das verbindende Element dieser Wählerschaft die Forderung nach Ordnung ist und dass ein wesentlicher Teil der Stimmen für Milei (natürlich nicht alle) einen autoritären Umschwung eines breiten Teils der Gesellschaft ausdrückt.

Abschließend: Der autoritäre Kern von Mileis Aufstieg und die zukünftigen Perspektiven

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Demobilisierung der Arbeiter- und Volksbewegung, der Verbreitung der Forderung nach Ordnung und dem Aufstieg Mileis. Es geht um die Auflösung des sozialen Bandes, um die Fragmentierung kollektiven Verhaltens auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene und die Neuzusammensetzung als individualisierte Masse durch die Figur des autoritären Führers. Die Pandemie beschleunigte die Prozesse kollektiver Auflösung und machte die autoritäre Vermittlung als Form der sozialen Rekonstruktion dringlicher – in einem Kontext anhaltender Krise, der Zerstörung des politischen Systems und der Abwesenheit progressiver Alternativen. Doch dieser Prozess kann sich nur durch die staatliche Vermittlung verdichten und fortsetzen.

Aus dieser Perspektive ergeben sich mehrere offene Fragen. Erstens erfordert das autoritäre Projekt Mileis eine Umgestaltung des Staates – die Abschaffung oder Reduzierung bestimmter Funktionen, aber gleichzeitig die Entwicklung oder Schaffung anderer – nicht dessen Minimierung. Wenn Milei versuchen würde, sein ultraliberales Programm radikal umzusetzen, würde er seine eigenen Grundlagen untergraben. Der ökonomische Pragmatismus, den er in seinem bisherigen Regierungsjahr (anderthalb Jahre) zeigte, verweist auf seine Anpassung an die Strömungen, die ihn an die Macht gebracht haben und weiterhin stützen. Die Austeritätspolitik und der brutale Angriff auf die Einkommen der Bevölkerung sowie den öffentlichen Dienst bestehen neben der Beibehaltung von Regulierungen, die von peronistischen Regierungen übernommen wurden. Zweitens zielt Mileis Strategie – objektiv, mehr oder weniger bewusst – auf einen institutionellen Bruch.

Auch wenn die Voraussetzungen dafür derzeit nicht gegeben zu sein scheinen. Die Streitkräfte (FFAA) sind seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 ein schwacher politischer Akteur in Argentinien, und ihre Unterstützung für Milei scheint sich zumindest bislang nicht in eine unmittelbare Mobilisierung zur Unterstützung und Aufrechterhaltung einer radikalen autoritären Wende zu übersetzen. Der Aufbau einer autoritären Gesellschaft verläuft aber prozesshaft und schreitet Schritt für Schritt voran. Die Politik des Sicherheitsministeriums hat die Straßenproteste eingeschränkt, und der Maximalismus der Regierung wurde von einer für einen Präsidenten in Argentinien – zumindest seit 1983 – beispiellosen Rhetorik begleitet: einer Rhetorik, die zur Normalisierung von Antikommunismus, Misogynie, LGTB-Feindlichkeit usw. tendiert; die Anfeindung und politische Verfolgung in sozialen Netzwerken und öffentlichen Institutionen fördert; und die das repressive Vorgehen der Sicherheitskräfte verteidigt – bis hin zur Rechtfertigung des Vorgehens der Streitkräfte während der Militärdiktatur und zur Leugnung ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die grundlegenden Fragen sind daher: Wie weitreichend war der Prozess der Demobilisierung der Bevölkerung? Und in welchem Maß lässt er sich umkehren? Die Zeitabläufe von Mobilisierung – und durch sie die Wiederherstellung der Arbeiter- und Volksmacht – entsprechen nicht zwangsläufig den Zeitabläufen der vom Staat ausgehenden Offensive. Doch diese Wiederherstellung ist selbst die Gegenoffensive – die Wiederherstellung sozialer Bindungen, die die Grundlage der autoritären staatlichen Vermittlung untergräbt.

Der Artikel wurde mit Unterstützung von KI übersetzt und überarbeitet.


[1] Im Jahr 2001 durchlief Argentinien eine allgemeine Krise, deren Höhepunkt der Volksaufstand vom 19. und 20. Dezember war. Die Restrukturierung von Akkumulation und Herrschaft dauerte bis zur Regierungsübernahme des peronisten Néstor Kirchner 2003.

[2] Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der Weltwirtschaft sanken von 3,7 % zwischen 1983 und 2007 – 4,9 % zwischen 2002 und 2007 – auf 3,4 % ab 2010 und 3,2 % ab 2012. Diese Verlangsamung war auf den Rückgang des Wachstums im kapitalistischen Zentrum zurückzuführen. Die sogenannten „fortgeschrittenen Volkswirtschaften“ (so die Klassifikation des IWF) wuchsen zwischen 1983 und 2007 mit durchschnittlich 2,8 % jährlich und ab 2010 mit 1,9 %. Die Mitgliedsstaaten der EU wuchsen seit 2010 (außer dem Erholungsjahr 2021 nach der Pandemie) kontinuierlich unter 2 %. Auch das Wachstum in China verlangsamte sich: von 10,4 % zwischen 1983 und 2007 auf 6,2 % ab 2012 und auf 4,3 % in den Jahren 2022–2024. Japan wuchs seit Anfang der 1990er Jahre mit etwa 1 % jährlich, und auch Südostasien reduzierte sein Wachstumstempo. Südkorea wuchs zwischen 1983 und 2007 durchschnittlich mit 7,7 % jährlich, ab 2010 mit 3,2 %, ab 2012 mit 2,8 % und zwischen 2022 und 2024 mit 2,2 % (Quelle: Eigene Ausarbeitung auf Basis von IWF-Daten).

[3] Vertiefung der Tendenzen zur Automatisierung und Robotisierung – sogenannte Industrie 4.0 – Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, Expansion des Plattformkapitalismus, Reorganisation der Arbeitsprozesse usw.

[4] Als Hauptbelege können genannt werden: die fehlende Koordination von Geld- und Fiskalpolitik während der Wirtschaftskrise 2008, die Unfähigkeit zu gemeinsamem Handeln bei der Klimakrise, die Schwierigkeiten bei der globalen Koordination von Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie.

[5] Zu den wichtigsten Ereignissen zählen die Spannungen zwischen den USA und China, die Syrienkrise seit 2011, Spannungen im Südchinesischen Meer, der Ukrainekrieg, das Wiederaufflammen der Palästinafrage.

[6] Die informell Beschäftigten, also jene ohne Rentenversicherungsbeiträge, machten im zweiten Quartal 2016 noch 31,4 % der Lohnabhängigen aus und stiegen bis zum gleichen Quartal 2023 auf 37 %. Die Summe aus Selbstständigen und informell Beschäftigten belief sich 2016 auf 43,5 % der Erwerbstätigen und erreichte 2023 48,9 %. Wenn man die Definition auf informell Beschäftigte und Selbstständige ohne eigenes Geschäft beschränkt, stieg die Informalität im selben Zeitraum von 35,4 % auf 41,1 % (Quelle: INDEC).

[7] Zwischen März und Juli 2008 erhob sich die Agrarbürgerschicht gegen die Erhöhung der Exportzölle, die von der Regierung Cristina Kirchners durchgesetzt wurde. Fast vier Monate lang führten sie einen Unternehmer-Lockout durch, blockierten Straßen und organisierten große Mobilisierungen, die von der städtischen Mittelschicht der Großstädte unterstützt wurden. Die Großbourgeoisie verband ihren Protest gegen die Steuererhöhungen mit der Ablehnung des Regierungsstils des Peronismus, der als autoritär charakterisiert wurde, und traf damit auf die Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster der städtischen Mittelschichten, die eine antiperonistische Tradition haben.

[8] Bei Vorwahlen wird der Stimmenanteil auf der Grundlage aller abgegebenen Stimmen (einschließlich ungültiger Stimmen) berechnet. Bei den allgemeinen Wahlen wird er auf Grundlage der gültigen Stimmen berechnet, d. h. leere Stimmzettel werden nicht berücksichtigt.