Die realistische Alternative

Karl Czasny

Thema des folgenden Textes sind zwei mögliche Entwicklungen innerhalb der Systemgrenzen der kapitalistischen Ökonomie. Ausgangspunkt des Weges in jede der beiden Zukünfte ist die katastrophale Lage der vom Kapitalismus geschaffenen Weltgesellschaft. Sie wird zusammengehalten von einem im Zuge der Globalisierung entstandenen Weltmarkt, der sukzessive alle bestehenden Wirtschaftskreisläufe in sich aufsaugte. Er brachte dadurch sämtliche Standorte in Konkurrenz zu einander und erzeugte an jedem von ihnen und in ihrem Verhältnis zu einander Gewinner und Verlierer. So vertiefte und vervielfältigte er jene Bruchlinien, die der Kapitalismus immer schon durch die Aufspaltung der Produzenten in Kapitaleigner und Lohnabhängige verursacht hatte.

Die aus der universellen Konkurrenz resultierende Verschärfung aller gesellschaftlichen Spannungen ist aber nur der erste von drei Hauptaspekten der katastrophalen Lage der Weltgesellschaft. Gravierend sind auch die Folgen der strukturellen Wachstumsprobleme des Kapitalismus. Als eine vom Profit gesteuerte Ökonomie kann er seine Dynamik nur aufrecht erhalten, wenn das in der Vergangenheit akkumulierte Kapital auch künftig profitable Anlagemöglichkeiten findet und so weiter anwachsen kann. Andernfalls droht Stillstand der Verwertung in Verbindung mit sozialem Abstieg großer Bevölkerungsschichten und Massenarbeitslosigkeit. Das Problem dabei: je besser die Kapitalverwertung zuletzt lief, desto mehr akkumuliertes Kapital wartet auf künftige Verwertung und desto schwerer werden sich auch in Zukunft ausreichende Anlagemöglichkeiten finden lassen. Die kapitalistische Wirtschaft entfaltet sich daher prinzipiell immer nur in Zyklen, wobei sie neben ihren periodisch auftretenden Krisen auch immer wieder längerfristige Wachstumsflauten zeigt. Will sie sich aus einer solchen Flauten herausarbeiten, muss sie den Akkumulationsprozess auf gänzlich neue Beine stellen, sprich: neue Produktivkräfte und Produkte entwickeln und neue soziale Integrationsmechanismen etablieren, welche die Arbeitskräfte zur Akzeptanz der in den künftigen Produktionsverhältnissen enthaltenen Arbeits- und Konsumangebote motivieren. Derzeit befindet sich der Kapitalismus schon seit der großen Finanzkrise wieder in einer jener Wachstumsflauten, aus denen er nur durch den Übergang zu einem neuen Akkumulationsregime herausfinden kann.

Der dritte Aspekt der katastrophalen Lage der Weltgesellschaft hängt eng mit der eben skizzierten Krisendynamik des Kapitalismus zusammen. Weil er nicht als stabile Kreislaufwirtschaft existieren kann, sondern immer vor der Alternative steht, zu wachsen oder sich zu Tode zu schrumpfen, wird er, so lange es ihn gibt, auf lange Sicht immer wachsen müssen. Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, weshalb wir nun schon seit Jahrzehnten auf eine umfassende ökologische Katastrophe zusteuern. Wegen der unauflöslichen Wachstumsabhängigkeit des Kapitalismus können wir ihr letztlich nur durch seine Überwindung entkommen.

So zwingend diese Schlussfolgerung auch ist, so schwer findet sie doch den Weg aus den Köpfen in die politische Praxis. Vielleicht sollten wir uns daher nicht auf ihre gebetsmühlenartige Wiederholung beschränken, sondern zur Abwechslung auch einmal etwas genauer die Alternativen betrachten, die sich für den Kapitalismus selbst zum Umgang mit den von ihm angerichteten Katastrophen bieten. Denkbar sind zwei mögliche neue Akkumulationsregime, die jeweils einen Rahmen für eine profitgesteuerte Bearbeitung der drei eben skizzierten Probleme bilden könnten.

Das eine wäre ein weltweiter Green Deal zwischen Kapital und Arbeit. Das von der gesamten Menschheit akzeptierte Ziel der Etablierung einer ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaftsweise würden dabei die Folie abgeben, vor deren Hintergrund sich jene Dynamik bei der Entwicklung neuer Technologien, Produkte, Konsummuster und Lebensmodelle entfalten könnte, die einerseits Vollbeschäftigung garantiert und andererseits die Weichen stellt für ein künftiges mit der Endlichkeit des Planeten vereinbares Wirtschaften. Dieses sollte dann aber nicht nur mit den Nachhaltigkeitszielen kompatibel sein, sondern hätte darüber hinaus den Wachstumserfordernissen des Kapitalismus zu genügen. Es müsste sich deshalb auf fast ausschließlich qualitative Zuwächse beschränken.

Auch wenn man von der mit äußerster Skepsis zu beurteilenden Möglichkeit eines fast ausschließlich qualitativen Wachstums absieht, liegt es auf der Hand, dass die Realisierung dieses Entwicklungspfads womöglich noch utopischer ist, als der Übergang zum Sozialismus. Viel zu groß sind die weltweiten Entwicklungsdifferenzen, viel zu stark der wechselseitige Konkurrenzdruck, als dass sich die Menschheit insgesamt ernsthaft den erwähnten Nachhaltigkeitszielen verpflichten könnte. Wenn die kurzfristigen Interessengegensätze zwischen konkurrierenden oder auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus stehenden Staaten jene wechselseitigen Vertrauensvorschüsse und Kompromisse verunmöglichen, die der Einigung auf einen universellen Green Deal zugrunde liegen müssten, dann bleibt als realistische Möglichkeit nur der andere Weg: Ein Akkumulationsregime, das die ökologische Katastrophe nicht verhindert, sondern bloß managt, und bei dem jeder der konkurrierenden Staaten und Blöcke versucht, seinen eigenen Weg in die Katastrophe auf Kosten der Konkurrenten möglichst schonend zu gestalten.

Ich möchte nun acht hierzulande immer deutlicher hervortretende Merkmale dieses gerade entstehenden Akkumulationsregimes aufzeigen und kurz erläutern.

  1. Etablierung einer Rhetorik der ökologischen Nachhaltigkeit bei gleichzeitiger Minimierung der Beiträge zur Erreichung der Transformationsziele

Jene Ziele wären nur erreichbar, wenn die Gesellschaften des globalen Nordens ihren ökologischen Fußabdruck durch radikalen Wandel aller eingespielten Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Mobilitätsformen reduzierten. Das möchte man der eigenen Bevölkerung unter allen Umständen ersparen – aber nicht deshalb, weil man es so gut mit ihr meint, sondern weil es potentiell höchst gefährliche Konsequenzen für das bestehende Herrschaftsgefüge birgt. Denn zum einen träfe diese Reduktion ökonomisch schwächere Schichten in verstärktem Ausmaß, sodass hohe Ausgaben zur sozialstaatlichen Abfederung der Transformation entstünden und eine Verschärfung der Verteilungskämpfe drohte. Zum anderen würden die erforderlichen Wandlungen der Lebens- und Konsummuster vermutlich zur Entwicklung neuer Formen basisnaher Kooperation zwischen Produzenten und Konsumenten und zur Reorganisierung vieler Bereiche des Alltagslebens im Modus der Selbsthilfe und Selbstverwaltung führen. Und all dies könnte den Keim des kollektiven Wirtschaftens in die profitgesteuerte Ökonomie hineintragen.

  1. Steuerung der Transformation primär durch Marktmechanismen

Neben diesen an der Basis des Wirtschaftslebens drohenden Gefahren fürchtet das Kapital auch ausufernde Interventionen der öffentlichen Hände. Die Politik des neuen Akkumulationsregimes soll sich daher überwiegend mit bloßen Überformungen des Marktgeschehens (etwa durch Förderungen oder Normierungen) und dem Schaffen neuer Märkte (Stichwort: Handel mit Verschmutzungsrechten) begnügen. Wegen der scharfen Konkurrenz auf den Weltmärkten beschränken sich alle einschlägigen politischen Bemühungen auf die Einflussbereiche der einzelnen Staaten bzw. Blöcke, während es auf internationaler Ebene bei unverbindlichen kollektiven Zielvereinbarungen bleibt.

Ungeachtet dieser generellen Dominanz der Marktmechanismen zeigt ein Vergleich der drei führenden Wirtschaftsmächte USA, China und EU interessante Akzentunterschiede:

  • In China hat das planwirtschaftliche Element aus historischen Gründen derzeit noch deutlich größere Bedeutung als in den USA und der EU.
  • In den USA tritt der Staat als Nachfrager und Förderer wesentlich stärker in Erscheinung als in Europa. Das hängt einerseits mit dem für den US-Imperialismus zentralen Stellenwert der Militärausgaben zusammen und andererseits mit der Rolle des Dollars als Weltleitwährung, die bisher stets eine problemlose Finanzierung von Budgetdefiziten ermöglichte.
  • In der EU ist die Dominanz des Marktes vergleichsweise am stärksten ausgeprägt, was auch in diesem Fall historisch erklärbar ist. War doch Europa jahrzehntelang Front in einem kalten Krieg der Systeme, der schließlich mit dem „Sieg“ des freien Marktes über die Planwirtschaft endete.

Vermutlich kommt es im Zug der Verfestigung des neuen Akkumulationsregimes zu einer Annährung dieser drei Modelle, die in Europa zu einem Bedeutungsanstieg von Planung und staatlicher Intervention führen wird.

  1. Grünes Wachstum anstelle umfassender ökologischer Transformation

Der kapitalistische Wachstumszwang schlägt die ökologischen Imperative nachhaltigen Wirtschaftens. Die EU etwa strebt in ihrem Green Deal kein Ende des Wachstums an, sondern möchte ein „europäisches Wachstumsmodell“ etablieren. In dessen Zentrum soll eine durch sie geförderte flächendeckende Dekarbonisierung und Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft stehen. Es ist zu befürchten, dass damit die ökologische Krise bloß von der Output-Seite (klimaschädliche Emissionen) auf die Input-Seite (gesteigerte Rohstoffextraktion) verlagert wird[1]. Darüber hinaus kommen bei dieser Schwerpunktbildung wesentliche Aspekte der ökologischen Transformation wie etwa Erhaltung der Biodiversität, forcierter Bodenschutz und entschiedener Übergang zu nachhaltigen Formen der Landwirtschaft zu kurz.

  1. Intensivierung der Konkurrenz um die weltweite Führerschaft bei den Schlüsseltechnologien des neuen Akkumulationsregimes

Die für die künftige Dynamik des Akkumulationsprozesses ausschlaggebenden Technologien entwickeln sich an den Brennpunkten der eingangs skizzierten Probleme der Weltgesellschaft:

  • Technologien zur Erzeugung, Speicherung und Anwendung von emissionsfreier Energie haben zentrale Bedeutung für die Verhinderung der drohenden Klimakatastrophe.
  • Materialwissenschaften und Werkstofftechnologien sollen durch Erschließung neuer Materialien und Werkstoffe sowie durch Steigerung von Effizienz und Nachhaltigkeit bei der Verwendung bereits bekannter Stoffe den Umgang mit den begrenzten Rohstoffressourcen der Erde optimieren.
  • Life Sciences wollen den Fortbestand der von der ökologischen Katastrophe bedrohten Lebensformen und Ökosysteme sichern.
  • Entwicklung und umfassende Anwendung der Informationstechnologien sind Voraussetzungen für die effiziente Steuerung vernetzter Zusammenhänge wie wir ihnen etwa beim Klima, in ökologischen oder technischen Systemen und in großen sozialen Aggregaten (Städte, Unternehmen, Märkte, …) begegnen.

Da alles Forschen und Entwickeln unter kapitalistischen Rahmenbedingungen stattfindet, soll es mit seinen Resultaten nicht nur die genannten Probleme lösen, sondern zugleich (letztlich sogar primär!) die Konkurrenzfähigkeit der die Forschung durch Steuern und Drittmittel finanzierenden Kapitalien stärken und die kapitalistische Ökonomie in ihrer Gesamtheit stabilisieren. Die daraus resultierende konsequente Unterwerfung der Forschung unter die Logik der Kapitalverwertung korrumpiert sowohl deren inhaltliche Ausrichtung als auch die Art ihrer Organisation:

  • Inhaltlich leidet die Forschung, weil das Kapitalinteresse sich nicht nur in ihren Frage- bzw. Problemstellungen, sondern auch in den jeweils gewählten Untersuchungsmethoden sowie in der Art der gesuchten Problemlösungen niederschlägt. So spielen etwa die Biowissenschaften eine wesentliche Rolle bei den Bemühungen des Agrarkapitals, mittels entsprechend designter Tiere, Pflanzen und Ökosysteme ein weiteres Wachstum der großindustriellen Landwirtschaft zu möglichen.
  • In organisatorischer Hinsicht werden Forschung und Entwicklung dadurch beeinträchtigt, dass sie nicht international koordiniert voranschreiten dürfen, sondern im Kontext scharfer, oft destruktiver Konkurrenz ablaufen. Es geht dabei darum, die Märkte von Mitbewerbern zu schrumpfen, zu blockieren oder am besten ganz zunichtezumachen, indem man sich etwa Patente sichert oder die Macht erringt, globale Standards für technische Normen, rechtliche Regeln und vor allem für die Preise zu setzen.

Eine wichtige Rolle bei diesem weltweiten Konkurrenzkampf um die Führerschaft bei Entwicklung und Implementierung der neuen Schlüsseltechnologien spielen öffentliche Aufträge und Subventionen. Dabei fällt auf, dass die EU wegen ihrer bereits erwähnten Marktfixierung viel zögerlicher agiert als die USA. So will man etwa im Zuge der Digitalisierungsoffensive den Eigenanteil an den weltweit gefertigten Chips von derzeit 10 auf 20% steigern, stellt dafür aber über ein im Vorjahr beschlossenes „Europäisches Chip-Gesetz“ insgesamt nur 43 Mrd € zur Verfügung, während die USA auf Basis des „Chips and Science Act“ rund 260 Mrd € ins Spiel bringen.

  1. Intensivierung des Kampfs um die wichtigsten natürlichen Ressourcen der Erde

Begrenzt sind neben den Essentials wie Wasser und fruchtbarer Boden auch sämtliche Rohstoffe. Letzteres stellt vor allem für die westlichen Wirtschaften ein großes Problem bei der Dekarbonisierung dar, da sich die bedeutendsten Lagerstätten der für die grünen Technologien benötigten Rohstoffe nicht in ihrem Einflussbereich befinden.

Die erbitterte Konkurrenz der Big Player auf allen Weltmärkten verhindert, dass man sich auf einen koordinierten, möglichst schonenden Umgang mit den kostbaren natürlichen Ressourcen einigt. So müssen alle Staaten und Machtblöcke je für sich auf Kosten der Konkurrenten und der letzten unbeschädigten Naturräume um eine ausreichende Versorgung ihrer Wirtschaft mit Wasser, Boden und Rohstoffen ringen.

  1. Geopolitik statt Bemühung um kollektive Sicherheit

In Verbindung mit der in allen Sektoren zunehmenden ökonomischen Konkurrenz hat die Intensivierung des Kampfs um die natürlichen Ressourcen der Erde gravierende Konsequenzen auf der Ebene der Macht- und Militärpolitik: Hier droht eine vollständige Verdrängung des gemeinsamen Bemühens um multilaterale Sicherheitskonzepte durch ein immer aggressiveres feindliches Ringen um die Ausweitung und Absicherung von geopolitischen Einflussbereichen. Dieses zwingt militärisch schwächere Staaten zur Bildung von formellen oder informellen militärischen Kooperationen bzw. zum Anschluss an bestehende Bündnisse. Unausweichliche Folge: immer mehr und immer engere Verknüpfungen zwischen regionalen Konflikten mit entsprechend steigender Gefahr des Ausbruchs großer Kriege.

  1. Aufrüstung statt volle Konzentration auf die ökologische Transformation und die sozialstaatliche Abfederung des mit ihr verbundenen Strukturwandels

Im Zuge der Wiederkehr der Geopolitik findet ein allgemeines Aufrüsten statt, das in dreifachem direktem Widerspruch zu den Zielen einer umfassenden ökosozialen Transformation der Weltgesellschaft steht:

  • Erstens tritt dadurch zum sogenannten „grünen Wachstum“ ein weiterer Wachstumsmotor hinzu[2]. Er verstärkt zwar die für den Kapitalismus überlebensnotwendige Dynamik der Akkumulation, ist aber verbunden mit zusätzlichem Raubbau an den materiellen Ressourcen der Erde und mit zusätzlichen klimaschädlichen Emissionen.
  • Zweitens kommt es, wie sich exemplarisch beim Ukrainekrieg zeigt, wegen des allgemeinen Bestrebens, in der Energie- und Rohstoffversorgung unabhängig von Importen aus feindlichen Staaten zu werden, zu einem noch stärkeren Run auf die vorhandenen Energie- und Rohstoffreserven.
  • Drittens bindet das Aufrüsten privates Kapital und öffentliche Mittel, die dadurch dem Transformationsprozess verloren gehen.

Besonders betroffen von der Verdrängung durch die Aufrüstung sind die sozialstaatlichen Abfederungen des mit der Transformation verbundenen Strukturwandels. Sie stehen in direkter Konkurrenz zu den steigenden Rüstungsausgaben und bleiben dabei typischerweise auf der Strecke. Denn das Aufrüsten geht stets mit einer Mobilisierung der Ängste vor äußeren Feinden einher, was in der Bevölkerung die Bereitschaft zum Kampf für verteilungs- und sozialpolitische Anliegen entscheidend schwächt. Wie gezielt die Rüstungslobby im Kontext des Ukrainekriegs mit diesem psychosozialen Mechanismus arbeitet, zeigt eine Aussage des auf Sicherheitsforschung im post-sowjetischen Raum spezialisierten Innsbrucker Politologen Gerald Mangott. Während Militärstrategen die Gefahr eines baldigen russischen Angriffs auf die EU beschwören, glaubt er selbst nicht an diese Möglichkeit, da Russland im Falle eines Sieges über die Ukraine auf Jahre hinaus die Kraft dazu fehle. Europa müsse daher „diese Zeit nutzen, um seine eigene Schlagkraft zu stärken.“ Wie soll das aber finanziert werden? Durch Schulden oder gar durch Kürzung der Sozialausgaben? Mangott weiß die Antwort auf diese Fragen: „Die Finanzierung ist kontroversiell, da hilft das Angstszenario, damit die Mehrheit der Bevölkerung das akzeptiert.“[3]

  1. Intensivierung der Ausbeutung und Gefährdung der Demokratie im Gefolge forcierter Digitalisierung

Entwicklung und umfassende Anwendung der Informationstechnologien erfüllen zwei wesentliche Funktionen für die Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung:

Zum einen ermöglichen sie dem Kapital die zusätzliche Aneignung von Arbeitswerten: Während wir vor dem digitalen Zeitalter nur während unserer Arbeitszeit Wert in seinem Sold schufen, produzieren wir jetzt auch in unserer Freizeit Arbeitswert, den es sich einverleibt. Denn wir erledigen nun vielerlei einstige Unternehmensdienstleistungen online und erzeugen darüber hinaus mit jedem Klick am Smartphone und jedem Furz in unserem Smart Home ganz nebenbei Informationen[4], was im Kontext der digitalisierten Produktion den Stellenwert kleiner Arbeitsleistungen hat. All dies ergibt in Summe gigantische Massen an Arbeitswert, die dem Akkumulationsprozess zusätzlichen Schwung verleihen.

Zum anderen erlangt das Kapital auf Basis der Digitalisierung umfassende Kontrolle über sämtliche Rahmenbedingungen und Phasen seines Verwertungsprozesses. Dabei geht es neben der bereits in Punkt 4 erwähnte Steuerung aller komplexen Systeme um zwei hochproblematische Aspekte von sozialer Kontrolle, die beide den durch Digitalisierung ermöglichten Zugriff auf das einzelne Individuum voraussetzen:

Erstens gestattet dieser Zugriff ergänzend zu der durch Aufrüstung bewerkstelligten Absicherung vor Außenfeinden einen besseren Schutz vor potentiellen inneren Feinden. Er wurde notwendig, weil die in den reichen Staaten des globalen Nordens etablierte liberale Demokratie in einer tiefen Krise steckt. Diese resultiert daraus, dass ihre wichtigste Legitimationsbasis, der kontinuierliche Wohlstandszuwachs breiter Bevölkerungsschichten, in der jüngsten längerfristigen Wachstumsflaute zusammenbrach. Davon abgesehen hat die liberale Demokratie mit einer derartigen Vielzahl explosiver innerer Widersprüche des neuen Akkumulationsregimes zu kämpfen, dass sie von Krise zu Krise taumelt. In dieser Situation wird aus Opposition oft Fundamentalopposition, und damit ein gefährlicher innerer Feind jenes um die Optimierung des Akkumulationsprozesses ringenden politischen Systems.

Zweitens ist bei einigen der eben erwähnten Krisen (man denke etwa an Umweltkatastrophen oder Seuchen) eine möglichst rasche und hochkoordinierte Reaktion der gesamten Gesellschaft erforderlich. Dabei wird dann die Digitalisierung zum wichtigsten Instrument einer zentralen Steuerung individuellen Verhaltens.

Es besteht allerdings höchste Gefahr, dass der in solchen Ausnahmesituationen vertretbare Einsatz des digitalen Steuerungsinstrumentariums schleichend Eingang in den Alltag findet. Denn die auf seiner Basis mögliche zentrale Lenkung und Kontrolle individuellen Verhaltens bietet jedem Herrschaftssystem neben schnellerer Reaktion auf Katastrophen und besserem Schutz vor inneren Feinden noch zwei weitere Vorteile: Zum einen erhält es dadurch die Chance, seine Schlagkraft bei der Durchsetzung aller anstehenden Transformationen zu erhöhen. Zum anderen kann es auf diesem Weg, wie uns China vorführt, jedes für den reibungslosen Ablauf der Kapitalverwertung dysfunktionale Verhalten minimieren und so wichtige Pluspunkte bei der internationalen Standortkonkurrenz einheimsen. Mit einem Wort: Die Versuchung ist groß, dass sich die liberale Demokratie unter dem Deckmantel der Stärkung ihrer Resilienz gegen innere Feinde selbst zu Grabe trägt.

Noch weist man hierzulande Chinas Weg einer zentralen Steuerung der Massen strikt zurück, wobei man nicht nur den moralischen Wert von intakter persönlicher Freiheit betont, sondern auch die ökonomisch messbare Überlegenheit der sich ungehindert entfaltenden Individuen gegenüber gleichgeschalteten Untertanen unterstreicht. Es ist jedoch zu befürchten, dass diese Argumente angesichts immer häufigerer und schärferer Krisen an Gewicht verlieren, während umgekehrt die Notwendigkeit von raschen und hochkoordinierten Reaktionen der gesamten Gesellschaft so sehr an Bedeutung gewinnt, dass wir uns früher oder später auch hierzulande chinesischen Verhältnissen annähern.


[1]    Vgl. Mahnkopf, B., Rolle rückwärts. Der Green Deal im Kapitalozän, in:     https://www.linksnet.de/artikel/48475

[2]    Vgl. Hirsch, J., Krise – welche Krise? in: http://wp.links-netz.de/?p=563

[3]    profil, 13.4.2024, S. 37

[4]    Vgl. Zuboff, S., Der dressierte Mensch. Die Tyrannei des Überwachungskapitalismus, in:      
https://www.blaetter.de/ausgabe/2018/november/der-dressierte-mensch