Das Ende der Pax Americana und die deutsche Staatsräson im Nahen Osten

Ein Ausblick auf das spezielle deutsche Verhältnis zu Israel im Kontext der regionalen Neuordnung

Michael B. Elm (Tel Aviv)

Die Pax Americana wie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges etabliert wurde, neigt sich dem Ende zu. Das hat nicht nur mit den veränderten globalen Gleichgewichten und insbesondere dem Aufstieg Chinas zu tun, sondern ist ebenso den inneren Krisenprozessen des US-amerikanischen Hegemon geschuldet. Dieser ist über seinen eigenen Traum gestolpert. Die sozialen und politisch-kulturellen Spaltungen sind so fortgeschritten, dass sich die Mehrheit für einen rückwärtsgewandten Alptraum entschieden hat. Der live Showdown im TV mit der öffentlichen Erniedrigung eines demokratisch gewählten Präsidenten, dessen Land sich in einem Überlebenskampf gegen Putins diktatorisches Regime befindet, besiegelt diese Entwicklung. Anders als vielfach gemutmaßt, dürfte es sich dabei um keine absichtsvolle Inszenierung der Akteure im Weißen Haus gehandelt haben. Die Dynamik des Gesprächsverlaufs mit den faktischen Fehlern und Wissenslücken auf der amerikanischen Seite und insbesondere der Zeitpunkt der Intervention von Vizepräsident J.D. Vance legen eine andere Deutung nahe. Nach Selenskyjs Klarstellung des diplomatischen Verhandlungsverlaufs der letzten zehn Jahre war abzusehen, dass die logische Forderung nach Sicherheitsgarantien für einen Deal folgen würde. Vance erkannte die `Gefahr´ und versuchte das Gesicht bzw. das Narrativ seines Bosses zu retten, was den Disput erst in Gang setzt. Dies deutet mehr auf Aggressivität, Überheblichkeit und Selbstverliebtheit hin, die gewissermaßen die Signatur der neuen Trump Administration bilden. Der jüngste Dilettantismus mit der fahrlässigen Preisgabe militärischer Angriffsoperationen durch den ehemaligen TV-Host und jetzigen Verteidigungsminister Pete Hagseth bestätigen diesen Eindruck nur. Aus der Position einer gefestigten Macht im Weißen Haus muss man gegenüber abhängigen Staatschefs über bestimmte Vertragsdetails nicht mehr nachdenken. Das ist der Zeitgeist, der aus den diplomatischen Hinterzimmern in die Öffentlichkeit getreten ist. Auch wenn es in der Folgezeit aufgrund der üblichen Trumpschen Verhandlungsstrategie zu einem vor und zurück der Positionen gekommen ist, lassen sich der internationale Vertrauensbruch und dessen Auswirkungen in den Bereichen von Rüstungs- und Verteidigungspolitik nicht revidieren.  Die Preisgabe des Prinzips der territorialen Integrität wird in politisch instabilen Regionen wie dem Nahen Osten unabsehbare Folgen haben und insbesondere den Nahostkonflikt auf eine Weise zuspitzen, die für die neue deutsche Regierung die Frage nach ihrer historischen Verantwortung neu ausbuchstabiert.

Der diplomatische Wandel kündigte sich bereits bei Premierminister Netanjahus Besuch in Washington nur drei Wochen vorher an. Wir schaffen eine `Riviera of the Middle East´ and `we will own it´ sprach der Immobilienentwickler im Weißen Haus mit dem freudig funkelnden Netanjahu an seiner Seite. Selbstverständlich will Trump nicht die Rechnung dafür zahlen. Das sollen die reichen Golfstaaten und das Saudische Könighaus übernehmen. Wenig später brachte Trump im Kontext der Geiselverhandlungen einige seiner Lieblingsdrohungen `All hell will break lose´ oder dessen pekuniäre Form `All hell to pay´ in Stellung, um Druck auf die Hamas auszuüben. Die Formulierung ist lose genug, um hinterher tun zu können, was man will, bedient aber den Narzissmus des Sprechers, der sich als gottähnlich oder diabolisch positioniert, was im Grunde auf das Gleiche hinausläuft. Die jüngste Wiederaufnahme der Kampfhandlungen durch Israel zeigt die Freiheitspielräume, auf die man sich zwischen Washington und Jerusalem verständigt hat. Politisch nutzte Netanjahu dies dazu, Ben-Gvirs rechtsradikale Partei in die Koalition zurückzuholen, deren Stimmen er für die Verabschiedung des Budgets Ende März braucht. Ben-Gvir hatte die Koalition zu Beginn des Waffenstillstandes verlassen und hätte voraussichtlich bei Eintritt in die zweite Phase des Geiselabkommens auch seine passive Unterstützung der Koalition zurückgezogen. Nun ist Ben-Gvir zurück und die aktualisierten Kriegsziele des `totalen Sieges´ über die Hamas und der Befreiung der Geiseln bleiben Vorwände für Netanjahus politisches Überleben. Innenpolitisch hat die Regierungskoalition die Umsetzung des juristischen Staatscoups durch die Beseitigung der letzten Gatekeeper wieder aufgenommen, was die Protestbewegung in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die fortbestehende US-amerikanische Drohung der Landnahme in Gaza eröffnet für Regierungskoalition die sehr reale Möglichkeit, den Krieg mit der von den Nationalreligiösen favorisierten Vertreibung der Palästinenser_innen zu verknüpfen. Damit wird für die Zivilbevölkerung in Gaza, deren Lebensbedingungen sich allemal als Vorhof zur Hölle bezeichnen lassen, das Tor endgültig aufgestoßen. Die Vorstellungen von Bevölkerungstransfer und ethnischer Vertreibung haben sich von den Rändern in die Mitte des israelischen Diskurses verschoben. Umfragen zufolge spricht sich eine Mehrheit der Israelis jedoch für eine Beendigung des Krieges zugunsten Freilassung der restlichen Geiseln aus. Dies findet bei der Regierung ebenso wenig Gehör wie die Forderungen nach Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung oder einer amtlichen Untersuchungskommission zum staatlichen Versagen am 7. Oktober. Trumps Freibrief erlaubt es der Netanjahu- Regierung in alle Richtungen gleichzeitig zu feuern. Im Grunde nutzt Netanjahu die aggressive Linie aus Washington für seine eigenen Zwecke und legitimiert damit im Gegenzug die Haltung der Trump Administration. Das erstreckt sich auch auf den Wunsch nach Annexion und Erweiterung der Siedlungsgebiete in der Westbank. Die Knesset berät gegenwärtig über das sogenannte Metropolitan Jerusalem Projekt, das eine Eingemeindung von jüdischen Siedlungen um Jerusalem ins israelische Staatsgebiet vorsieht und ganz unverhohlen als Schritt zur Eingemeindung der gesamten Westbank angepriesen wird.

Vor diesem Hintergrund stellt sich für die kommende deutsche Regierung die Frage nach dem besonderen Verhältnis zu Israel und dessen Sicherheit als Frage der deutschen „Staatsräson“ neu. Die List der Geschichte hat diese Frage anders ausbuchstabiert, als es sich manche in der historischen Fantasie ausgemalt haben mögen. Keine deutsche Soldaten, die einem bedrängten Israel zu Hilfe eilen, sondern die Gretchenfrage lautet vielmehr, ob deutsche Regierungspolitik mehr dem internalen Völkerrecht und Menschenrechten oder der Solidarität mit einer israelischen Regierung verpflichtet ist, die im Kampf gegen die Hamas dagegen verstößt. Das betrifft auch den Umgang mit den Urteilen und Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, deren Vertreter mit Sanktionen durch die US-amerikanische Administration belegt werden, nachdem man die militanten israelischen Siedler von eben jenen Sanktionen ausgenommen hat. Auch auf diesem Gebiet ist man in der Knesset dabei, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, der die Unterstützung des ICC bei seinen Verfahren gegen Israelis unter Strafe stellt.

Man kann angesichts der langen defensiven Haltung der deutschen Politik gewiss nicht sehr optimistisch sein. Die bisherige Position der deutschen Regierungen neigte dazu, sich hinter der historischen Verantwortung für Krieg und Holocaust zu verschanzen. Bundeskanzler in spe Friedrich Merz hat schon verlautbaren lassen, dass man Wege finden werde, Netanjahu einen Staatsbesuch zu ermöglichen. In einem FAZ-Interview zieht er dabei das grausame Massaker vom 7. Oktober heran, um die von ihm beabsichtigte Umgehung der Haftbefehle aus Den Haag zu bemänteln. So als ob ein Verbrechen ein anderes rechtfertigen könnte. Was man in Berlin noch nicht in aller Deutlichkeit verstanden hat ist, dass die Vollendung des autoritären staatlichen Umbaus in Israel aller Voraussicht nach in die Amtszeit der Merz-Regierung fallen wird. Der ideologische Schulterschluss mit der neuen US-Administration ermöglicht es der israelischen Rechten, die weit über Netanjahu hinaus reicht, Staat, Justiz, Medien und Militär nach ihrem religiös-ethnokratischen Wertesystem umzugestalten. Insofern sind die Kämpfe um Demokratie und die rhetorisch gerne bemühte historische Verantwortung aufs Engste miteinander verwoben. Das zeigte sich bereits bei den US-amerikanischen Interventionen von Elon Musk und US-Vizepräsident J.D. Vance in den deutschen Wahlkampf. Zweifellos wird man in Jerusalem daran arbeiten, die EU durch Unterstützung der zahlreichen rechtspopulistischen Kräfte weiter zu schwächen. Deutsche Verfechter der israelischen Staatssicherheit wie der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein oder der Grünenpolitiker Volker Beck sahen sich dazu gezwungen, ihre Teilnahme auf einer internationalen Konferenz gegen Antisemitismus abzusagen, da das Diaspora-Ministerium zahlreiche rechtsextreme Politiker dazu nach Jerusalem eingeladen hat. Historische Verantwortung und deutsches Selbstinteresse müssten der Merz-Regierung also gebieten, diesen Entwicklungen entgegenzutreten. Zu erwarten ist indes, dass man in Fragen des interessengeleitenden Handelns bei Militär- und Sicherheitspolitik keinen Bruch mit den USA oder Israel riskieren wird und dafür deren autoritäre Vorstöße in Kauf nimmt. So wie die Trump-Administration bereit ist, die territoriale Integrität der Ukraine zu opfern, ist davon auszugehen, dass eine große Koalition unter Friedrich Merz die territoriale Integrität des palästinensischen Staates preisgeben wird und damit das Recht der Palästinenser_innen auf politische Selbstbestimmung negiert. Gleichzeitig kündigt man die Solidarität mit demjenigen Teil der israelischen Gesellschaft auf, der seit mehr als zwei Jahren gegen den autoritären Umsturz und für das Leben der verbliebenen Geiseln im Gazastreifen kämpft. Deutsche Regierungspolitik unterwandert so ihre eigene demokratische Glaubwürdigkeit und leistet ihren Beitrag, das Tor zur Hölle zu öffnen.

Es ist allerdings noch nicht ausgemacht, inwieweit die israelische Rechte ihre autoritären Projekte fortsetzen kann. Der Hoffnungsschimmer kommt allerdings nicht aus dem Westen, sondern vom Osten, aus dem Saudischen Könighaus. Mohammed Bin Salman, der aufgrund der brutalen Ermordung des Saudischen Journalisten Jamal Khashoggi vor kurzem noch als `Schlächter von Riad´ firmierte, ist wegen seiner ökonomischen Entwicklungspläne für das Königreich an einer regionalen Stabilisierung interessiert. Zudem gebietet die Rolle als regionaler Hegemon und religiöser Verwalter der heiligen Stätten in Mekka und Medina die Wahrung muslimisch-arabischer Identität, was sich eben auch auf palästinensische Belange erstreckt. Vor der bereits erwähnten Pressekonferenz Anfang Februar in Washington waren die meisten Analyst_innen davon ausgegangen, dass Trump Netanjahu zahlreiche Zugeständnisse im Hinblick auf die Beendigung des Krieges und Fortsetzung des Geiseldeals abringen würde. Diese Einschätzung ist den ökonomischen und militärischen Interessen der USA – und nicht zuletzt die der Trump-Familie mit ihren Milliardeninvestitionen in Dschiddah – geschuldet, die beim Zustandekommen eines lukrativen Abkommens mit Saudi-Arabien liegen. Die Saudis hatten über verschiedene Kanäle verlautbaren lassen, dass die Aussicht auf einen palästinensischen Staat eine notwendige Bedingung für ein Normalisierungsabkommen mit Israel ist. Ergo würde Trump Netanjahu das Leben schwer machen und eventuell dessen angeschlagene Koalition zu Fall bringen. Dann kam es jedoch anderes. Netanjahu ist es vor allem gelungen, der neuen US-Administration die Beseitigung der Hamas als notwendige Bedingung jeglicher Fortschritte anzupreisen. Damit ist man bei dem in Israel allseits bekannten Motiv des `totalen Sieges´ angelangt, das Netanjahu seit der Beendigung des ersten Geiseldeals im November 2023 propagiert. Dieses Phantasma einer rein militärischen Zerschlagung der Hamas, also deren Entmachtung ohne Entwicklung einer politischen Alternative, wurde durch die Umsiedlungsfantasie aus dem Weißen Haus wiederbelebt. Im Horrorgenre würde man von der Reanimation eines Zombies sprechen. Dieser Film könnte schon bald ein Ende finden, wenn Trump durch seinen Sondergesandten Stephen Witkoff mitgeteilt bekommt, dass weder die israelischen Geiseln noch der Deal mit Saudi-Arabien zu haben sind ohne eine Beendigung des Krieges in Gaza. Witkoff wies im Kontext der geplanten Erweiterung des Abraham Abkommens bei einem Interview mit TV-Host Tucker Carlson am 22. März explizit darauf hin. Am Ende werden Bin Salman und Trump in der Riege der starken Männer das letzte Wort haben. Die Annexion von Siedlungsgebieten könnte dann der Trostpreis für die israelische Regierungskoalition sein.

Die deutsche Regierung wird sicher kaum mehr als Zaungast dieses unschönen Spektakels sein. Anders als im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine, wo es im eigenen elementaren Interesse liegt, eine gegensätzliche Alternative zu entwickeln, wird der Autoritarismus im Nahen Osten nur als Kollateralschaden wahrgenommen. Daran wird der realpolitische Stellenwert der sogenannten deutschen Staatsräson deutlich. Sie dient im außenpolitischen Bereich, wie es sich bei Merz abzeichnet und bei Kanzler Scholz nicht anders war vor allem dazu, sich historischer Verantwortung zu entziehen als diese zu vergegenwärtigen. Deutsche Regierungspolitik schreibt damit ihre selbstverschuldete Bedeutungslosigkeit fort, für die man im Kontext des Niedergangs der Pax Americana eine Rechnung ausgestellt bekommt.