Jens Wissel
„Europa sollte seine Werte verteidigen“, oder „Aufmunitionierung wird teuer und kompliziert“, vier Seiten später auf Seite 14: „Airbusmanager Michael Schöllhorn über Europas militärische Fähigkeiten in der Luft und im Weltraum“. Seite 16: „Die Kampfbereitschaft der europäischen Armeen“ und Seite 18: „War der deutsche Pazifismus eine Schimäre? Doch wieder Krieg. Deutschland braucht nicht nur Geld und Waffen, um sich zu verteidigen. Die Gesellschaft muss im Ernstfall bereit sein, ihre Söhne und Töchter in einen Krieg zu schicken. Ist sie das?“
Wer glaubt angesichts dieser Titel irgendein dubioses Veteranen-Magazin, oder eine Broschüre von Rheinmetall, oder Schlimmeres in der Hand zu halten täuscht sich, die Überschriften stammen allesamt aus dem Spiegel vom 29.03.2025. Da verwundert eigentlich nur, dass nicht noch Sönke Neitzel über den letzten Sommer in Frieden befragt wurde und Marcus Keup darüber berichten darf, wie vorteilhaft es für Europa ist, wenn die Ukraine weiterkämpft und dabei die russische Armee abnutzt. Ok, ZDF (Marcus Keup, in: ZDF 27.03.2025) und Bild-Talk (Neitzel, in: Bild Talk 21.03.2025) sind ja auch noch da. Zurzeit ist es fast egal welches Programm man einschaltet, oder welche Zeitung man aufschlägt, überall läuft die Mobilmachung. Die immer gleichen Expert:innen, die im „Informationsraum“ (Oberst Reisner) kämpfen lachen einen an und verkünden, dass wir dieses und jenes noch brauchen und machen angesichts der Möglichkeiten, die mit der Reform der Schuldenbremse entstanden sind Augen wie Dreijährige unterm Weihnachtsbaum. Der Leitartikel im Spiegel vom 5.04. legt im Übrigen nochmal nach, dort heißt es: „Antreten, bitte! Die nächste Regierung sollte die Wehrpflicht reaktivieren. Anders wird Deutschland seine Freiheit nicht verteidigen können.“
Erstaunlich wie schnell, aus dem Russland, das Anfang 2023 „den Krieg eigentlich schon verloren hat“ (Carlo Masala, in: FAZ 01.04.2023), das seit 3 Jahren Verluste im Verhältnis von 10 zu 1 zu den ukrainischen Verlusten hinnehmen musste (FAZ 30.03.2023) und schon im September 2022 nur noch für 280 weitere Tage Panzer hatte (Marcus Keup in: n-tv, siehe Stern.de, 21.09. 2022), ein Land wurde, dass mit seiner Armee bald in Berlin stehen könnte und dem die europäischen NATO-Staaten offensichtlich hilflos ausgeliefert sind. Was solls, wir leben in schnelllebigen Zeiten. War die russische Armee gestern noch eine Lachnummer, die nicht in der Lage war. ein ökonomisch unbedeutendes Land wie die Ukraine zu erobern und die locker von 18 Leopard-Panzern und 20 Panzerhaubizen 2000 besiegt hätte werden sollen, so ist sie heute eine übermächtige Armee, die kaum aufzuhalten ist.
Man könnte sagen, die Kulturindustrie ist nicht nur substanzlos, weil sich die Produktionsbedingungen so verschlechtert haben, dass die gehaltvollen Berichte, die es auch noch gibt, im allgemeinen Informationsmüll völlig untergehen. Sie ist auch manisch-depressiv. Es gibt keinen Übergang von Selenskyjs Siegesplan und der Vertreibung der russischen Armee aus der Krim zum Zusammenbruch Europas und seiner scheinbar nicht vorhandenen Armeen, bzw. der Übergang ist kurz und schmerzlos. Wobei so ganz einig ist man sich doch nicht, ob Europa jetzt wehrlos ist, oder ob Europa doch dazu in der Lage ist die amerikanischen Waffenlieferungen an die Ukraine zu ersetzen, oder sogar eigene Truppen stellen könnte, um Putin aufzuhalten.
Eine Reflexion darüber, dass Europa und die Biden-Administration drei Jahre Zeit hatten, ein anderes Ergebnis herbeizuführen als das aktuelle, ist nicht zu erwarten. Drei Jahre hat man (kontrafaktisch) verkündet, dass man mit Putin nicht verhandeln kann und das Russland besiegt werden muss. Keine der Waffenstillstandinitiativen wurde unterstützt, weder die Chinesische noch die Indische und auch nicht die Süd Afrikas. Jetzt beschwert man sich, dass man an (möglicherweise) bevorstehenden Verhandlungen nicht beteiligt wird. Bis heute haben die Europäer nichts anzubieten, außer den Krieg weiterzuführen. Einen Krieg, durch den sich seit zwei Jahren die Verhandlungsposition der Ukraine kontinuierlich verschlechtert, weil der Ukraine die Soldaten ausgehen bzw. desertieren. Da helfen auch keine Zwangsrekrutierungen. Den Vorschlag der Biden-Administration das Einzugsalter auf 18 Jahre herabzusetzen, um Rekruten an die Front schicken zu können, wollte man dann in der Ukraine doch nicht, bzw. es war innenpolitische nicht durchsetzbar. Das Alter wurde lediglich von 27 Jahren auf 25 gesenkt. Die prekäre Situation der ukrainischen Armee macht Verhandlungen tatsächlich unwahrscheinlicher, oder zumindest schwieriger.
Es ist leider wie immer: nicht diejenigen, die für die Fortführung des Krieges eintraten und eintreten zahlen die Rechnung, sondern diejenigen, die nicht die Ressourcen haben das Land zu verlassen oder das Geld, um Freistellungpapiere zu kaufen und jetzt ohne Ablösung in den Schützengräben einem zahlenmäßig weit überlegenen Gegner gegenüberstehen.
In Europa wird es im Übrigen nicht anders sein, die Rechnung für den aufkommenden Militärkeynesianismus werden nicht die Hobbystrategen zahlen, die durch die Talkshows tingeln, sondern die Menschen, die auf soziale Infrastruktur angewiesen sind. Der Abbau des Wohlfahrtstaates zur Finanzierung der europäischen Kriegstüchtigkeit wird unverhohlen gefordert. Den Entwicklungen in den USA zum Trotz wird der „Kampf gegen Autokratien“ externalisiert. Wenn das ebenso erfolgreich verläuft wie in den USA, dann kann man den europäischen Autokraten wenigstens eine verteidigungs- und interventionsfähige Armee sowie üppig ausgestattete Geheimdienste (dafür haben sich die Grünen eingesetzt) übergeben.
In dem oben erwähnten Spiegel vom 29.03.2025 kann man im Übrigen auch etwas über das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den europäischen Armeen und der russischen Armee erfahren. Unter der Überschrift „Wie kampfbereit ist Europa?“ kann man auf den Seiten 16-17 die Größenverhältnisse der einzelnen Waffengattungen nachlesen.
Laut dem Londoner Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS) verfügen die europäischen NATO-Staaten über mehr als 2 Millionen Soldaten (ohne die Türkei 25% weniger). Russland kommt auf 1,1 Millionen Soldaten. Die Europäer verfügen über 6700 Kampfpanzer (ohne die Türkei 33% weniger), Russland über 2900. Die europäischen Armeen verfügen über 2300 Kampfjets (wieviel türkische Kampfjets dazu zählen wird nicht angegeben), die russische Armee verfügt über 1400. Im Text erfahren wir zudem, dass die europäischen Kampfjets den russischen überlegen sein sollen. Bei den Artilleriebeständen ist die europäische Überlegenheit noch deutlicher. Die europäischen NATO-Staaten verfügen über 15400 Geschütze (ohne die Türkei 18% weniger), Russland über 6090. Zwar mangele es hier an Munition, aber die hochmobilen europäischen Artilleriesysteme seien den Russischen technisch überlegen, wie man im Artikel erfahren kann.
Immerhin. Eine Schlussfolgerung und eine entsprechende Einordnung der gesellschaftlichen Debatte wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Möglicherweise ist die Frage ohnehin eher die, ob Europa in der Lage wäre, Grönland zu verteidigen. Da zumindest wären die Kräfteverhältnisse in etwa so wie man sie sich mit Russland imaginiert. Die historische Erfahrung sagt im Übrigen, dass ein Zweifrontenkrieg unbedingt vermieden werden muss, das sei nur angemerkt für den Fall, dass die manische Phase in der öffentlichen Debatte überhandnimmt.