Die Ausgangslage
Karl Czasny
Im Sommer 2024 befasste ich mich unter dem Titel „Die realistische Alternative“ mit zwei möglichen Entwicklungen des Kapitalismus. Ausgangspunkt der Betrachtung dieser beiden Zukunftsbilder war die katastrophale Gegenwart der Weltgesellschaft, die ich als eine für den Kapitalismus existenzgefährdende Systemkrise beschrieb. Der Kapitalismus kann solche Systemkrisen nur durch grundlegende Veränderung der dominierenden Produktions-, Konsumtions- und Legitimationsmuster überwinden, wobei aktuell zwei ganz unterschiedliche Neugestaltungen dieses institutionell-legitimatorischen Rahmens der Kapitalverwertung denkbar sind.
Die eine wäre ein weltweiter Green Deal zwischen Kapital und Arbeit, bei dem sich die künftige Akkumulation des Kapitals auf qualitative, also ökologisch verträgliche Zuwächse konzentriert. Dieser Weg erscheint jedoch, so meine vor einem Jahr präsentierte Argumentation, völlig unrealisierbar. Die Interessengegensätze zwischen den zwar weltweit verflochtenen, konkurrenzbedingt aber keineswegs an einem Strang ziehenden Trägern des globalen Produktionsprozesses sind einfach zu groß, als dass sich die ganze Menschheit ernsthaft den einem solchen Deal zugrunde liegenden Nachhaltigkeits- und Friedenszielen verpflichten könnte.
Viel realistischer, meinte ich damals, sei ein künftiges Akkumulationsregime, das die drohende ökologische Katastrophe nicht verhindert, sondern bloß managt, wobei jeder der konkurrierenden Staaten und Blöcke versucht, seinen eigenen Weg in die Katastrophe auf Kosten der Konkurrenten möglichst schonend zu gestalten.
Was seither geschah
Der erwähnte Artikel prognostizierte acht vorerst bloß andeutungsweise hervortretende Konturen jener in Entstehung begriffenen Gesellschaftsformation. Ein Jahr danach überprüfte ich nun anhand meines Medienarchivs, in welchen dieser acht Bereiche es inzwischen zur Verfestigung der 2024 skizzierten Tendenzen kam. Vorwegnehmend ist schon an dieser Stelle festzuhalten, dass dies in allen Beobachtungsfeldern der Fall war. In drei davon zeigten sich besonders dramatische Entwicklungen – mit ihnen wird sich der Schluss meines Berichts zum Stand der Dinge etwas ausführlicher befassen. Davor mache ich einen Streifzug durch die übrigen fünf Beobachtungsfelder. Bei ihm ist zu beachten, dass die registrierten Tendenzen wegen der inneren Widersprüchlichkeit des weltweiten Gesamtprozesses nicht an allen regionalen Brennpunkten der kapitalistischen Ökonomie parallel zu Tage treten. Diese Differenzen weisen darauf hin, dass der aktuelle Umbruch der Weltgesellschaft in den wichtigsten Metropolen der Kapitalverwertung unterschiedlich akzentuierte Spielarten des neuen Akkumulationsregimes hervorbringen wird.
Ungebrochener Glaube an Wachstum und Markt
Regionstypische Sonderwege zeigen sich etwa bei der ersten der acht Prognosen. Die in ihr vorausgesagte zunehmende Diskrepanz zwischen Lippenbekenntnissen zur Nachhaltigkeit und fortgesetzter Vernichtung der natürlichen Grundlagen des Lebens kennzeichnete in den letzten Monaten vor allem die Entwicklung der EU, während die USA in Trumps zweiter Präsidentschaft wieder mit geschlossenen Augen und forciertem Tempo auf die ökologische Katastrophe zurasen (Verordnung zum neuerlichen Austritt aus dem Klimaabkommen von Paris schon an Trumps erstem Amtstag und zuletzt auch noch Ankündigung der US-Umweltbehörde EPA, dass Treibhausgase künftig nicht mehr als gesundheitsschädlich eingestuft werden sollen, was dem Kampf gegen den Klimawandel auf Bundesebene die rechtliche Grundlage entziehen wird).
Die EU bekennt sich demgegenüber zwar nach wie vor zu zwei zentralen regulatorischen Elementen ihres 2019 gestarteten Green Deals (Lieferkettengesetz und Bodenschutzgesetz), hat jedoch beide entscheidend verwässert. Ein kleines, aber typisches Beispiel für folgenlose Lippenbekenntnisse zur Nachhaltigkeit ist auch aus Österreich zu berichten. Hier präsentierte nämlich jüngst der Landwirtschafts- und Klimaminister der Dreierkoalition einen sogenannten „Klimacheck“, dem ab 2026 alle größeren Gesetzesvorhaben unterzogen werden müssen. Der Haken an der Sache: der Check wird völlig unverbindlich sein.
Das zuletzt in Frankreich beschlossene Gesetz zur Regulierung von Ultra-Fast-Fashion ist nur scheinbar ein Gegenbeispiel. Es zielt auf das Einbremsen chinesischer Online-Plattformen wie Shein, Temo oder AliExpress, die diese Mode vertreiben, und macht damit deutlich, dass man sich zu konsequenten Maßnahmen nur dann aufrafft, wenn sie bloß die ausländische Konkurrenz betreffen.
Wer auf wirkungsvolle Regulation weitgehend verzichtet, muss sich dem Markt anvertrauen. Die zweite Prognose behauptete daher, dass die Politik künftig bei der Steuerung der auf dem Papier angestrebten ökologischen Transformation der Wirtschaft primär Marktmechanismen nutzen werde. Ein in diesem Kontext bedeutendes Ereignis war die von der Trump-Administration durchgesetzte Herausnahme der großen US-Konzerne aus dem 2021 von 140 Staaten beschlossenen Abkommen für eine Mindestbesteuerung multinationaler Konzerne. Das Potential der Staaten für gezielte Förderungen oder Eigeninvestitionen wird dadurch vermutlich nicht nur in den USA entscheidend geschmälert. Denn nun wächst etwa in Europa die Sorge vor Wettbewerbsverzerrungen und einer Abwanderung von Unternehmen in Länder ohne Mindeststeuer. Schon hört man die Forderung eines Moratoriums oder einer Anpassung der europäischen Regelungen.
Wichtigstes Instrument der EU zur Steuerung der Transformation über den Markt ist der Handel mit CO2-Emissionsrechten. Er hat zwar im Energiesektor zu einem Rückgang der Emissionen geführt. Um aber mit diesem Instrument die Klimaziele zu erreichen, müsste man es nun konsequent verschärfen (stärkerer Anstieg des Preises der Emissionszertifikate, strengere Kontrolle der Emissionen). In den letzten Monaten wurden keine diesbezüglichen Schritte gemeldet.
‚Bitte warten‘ heißt es auch beim sogenannten ‚Klimazoll‘. Er betrifft sehr energiereiche Produkte aus Drittländern. Während die EU-Unternehmen der betreffenden Sektoren für ihre CO2-Emmissionen Zertifikate kaufen müssen, sollen die Unternehmen von Drittstaaten bei ihren Exporten in die EU für ihre CO2-Emissionen den CO2-Grenzausgleich zahlen. Wenn Drittstaaten die CO2-Emissionen verringern oder selbst CO2-Certifikate einführen, vermindert sich der CO2-Grenzausgleich für ihre Unternehmen entsprechend. Derzeit läuft die Testphase für diesen neuen Zoll, der dann erst ab 2026 gelten soll. Langfristig könnte ein „Klimaklub“ von Ländern mit geringeren CO2-Emissionen und CO2-Zertifikatshandel entstehen.
Hier hat jedoch Trump den Verfechtern der marktwirtschaftlich gesteuerten Transformation einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn unter seiner Führung werden wohl die Vereinigten Staaten nicht Mitglied eines solchen Clubs werden. Ein weiteres Problem tut sich auf im Verhältnis zu den armen Rohstoffexporteuren des globalen Südens: Einige sehr arme afrikanische Staaten, die viele energiereiche Grundstoffe wie Eisen, Stahl oder Aluminium in die EU liefern, fürchten wohl zu Recht, dass ihnen der Klimazoll hohe Verluste bereiten wird. Eine flankierende finanzielle Unterstützung dieser Länder war geplant, wurde jedoch nicht implementiert.
Die dritte Prognose vermutete, dass die sich nun herausbildende Gesellschaftsformation auf sogenanntes Grünes Wachstum an Stelle von umfassender ökologischer Transformation setzen wird. Bei dieser Tendenz zeigt sich wieder sehr deutlich eine regionale Differenzierung, die sich im Verlauf des letzten Jahres weiter vertiefte. Denn in weltweiter Betrachtung konzentriert sich jenes Grüne Wachstum immer stärker auf China. Während die USA bei ihrer Wachstumspolitik eine antiökologische Kehrtwende aufs Parkett legen und die EU immer mehr Abstriche von ihrem Green Deal macht, ist China die einzige wirtschaftliche Weltmacht, die nach wie vor ungebrochen an Grünes Wachstum glaubt, also seine gesamtwirtschaftliche Dynamik durch konsequentes Anstreben der Klimaneutralität aufrecht erhalten möchte. Das Land will dieses Ziel bis 2060 erreichen, trägt schon jetzt mehr als 50% zum weltweiten Anstieg der Solar- und Windenergieerzeugung bei und ist die Heimat von global 40% aller Jobs im Bereich der erneuerbaren Energien. Vor allem bei der Mobilitätswende ist China seinen Konkurrenten weit voraus:
- E-Tankstellen: USA 50.000, EU 71.000, China über 1,6 Millionen
- Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge: EU: 8.500 km, China: 48.000 km
In den letzten Monaten trat vor allem ein hochproblematischer Aspekt des Grünen Wachstums klar zu Tage: Es löst die ökologische Krise nicht wirklich, sondern verlagert sie bloß von der Output-Seite (klimaschädliche Emissionen) zur Inputseite. Ein Wirtschaftszweig in dem sich dies besonders deutlich zeigt, ist die IT. Sie ist einerseits Teil der Grünen Technologien, weil sie Werkzeuge und Technologien bietet, mit denen man andere Sektoren dekarbonisieren und nachhaltiger gestalten kann. Andererseits hat sie selbst einen geradezu unerschöpflichen Energiebedarf. Hier ist es vor allem die Entwicklung und Implementierung immer leistungsfähigerer KI-Modelle, die den Energiehunger dieser Branche anheizt. Der Anteil der Rechenzentren am weltweiten Stromverbrauch lag schon 2024 bei etwa 1,5% und könnte sich bis 2030 auf 3% verdoppeln. Derzeit werden noch rund 30% dieses Stroms mit Kohle produziert, schon investieren aber die amerikanischen Tech-Konzerne vermehrt in die Atomkraft. Microsoft möchte ein bereits abgeschaltetes AKW wieder hochfahren und der CEO von Google appelliert Anfang April 2025 an die Abgeordneten des US-Kongresses: „Was wir von Ihnen brauchen, ist Energie in allen Formen – erneuerbar, nicht erneuerbar, was auch immer. Sie muss verfügbar sein, und sie muss schnell verfügbar sein.“
Verschärfte Konkurrenz als wichtigster Entwicklungsmotor
Die vierte Prognose sagte eine Intensivierung der Konkurrenz um die weltweite Führerschaft bei den Schlüsseltechnologien des neuen Akkumulationsregimes vorher. Die spektakulärsten diesbezüglichen Entwicklungen des letzten Jahres fanden im Kontext der sich zuspitzenden Rivalität zwischen den USA und China statt. Noch sind die USA die stärkere Macht, aber der aufstrebende Rivale gilt bereits bei 37 von 44 Schlüsseltechnologien wie der Elektromobilität als weltweit führend. Zuletzt setzte China diese Vorsprünge im Rahmen des von Trump eröffneten Handelskriegs ein: Als Antwort auf die Ankündigung einer drastischen Erhöhung der amerikanischen Zollschranken gegen Importe aus China verfügte man eine massive Beschränkung der Ausfuhr von sieben Kategorien Seltener Erden. Das ist viel mehr als der bloße Stopp eines Rohstoffexports, denn die komplexe Technik zur Separierung dieser Seltenen Erden ist in den USA erst in Entwicklung. Nur China verfügt derzeit über entsprechende Trennungsanlagen, und hat vorsorglich schon unmittelbar nach Trumps Wahl auch den Export dieser Technik und ihrer Komponenten verboten. Da China dieses Rohstoff- und Technologiemonopol bereits 2010 bei einem Konflikt mit Japan um ein Seegebiet strategisch einsetzte, investieren sowohl die USA als auch die EU schon seit einiger Zeit in alternative Problemlösungen und Lieferketten. Der Weg aus der Abhängigkeit von China ist aber noch weit.
Nicht weniger dramatisch verläuft derzeit das Ringen der beiden führenden Wirtschaftsmächte um die Vorherrschaft bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. Bereits 2022 hatte Joe Biden ein Embargo für KI-Chips gegen China verhängt. Um den riesigen China-Markt nicht zu verlieren, entwickelte daraufhin die Nvidia Corporation den H20-Chip. Diese zwar abgespeckte, aber dennoch für KI-Modelle einsetzbare Variante des vom Embargo betroffenen H100-Chips fand reißenden Absatz bei den chinesischen Tech-Konzernen. Alibaba, Tencent und Bytedance bestellten den H20 im vergangenen Jahr im Wert von 16 Milliarden US-Dollar – auch um das mit ihm arbeitende chinesische Large-Language-Modell Deepseek in ihre Anwendungen zu integrieren. Daraufhin weitete nun die Trump-Regierung das Exportverbot auf H20-Chips aus. Entschieden ist das Rennen damit aber noch lange nicht. Denn der technische Vorsprung der USA beträgt aktuell nicht mehr als ein bis drei Jahre, und die neuen Sanktionen schaffen Anreize für China, kreativere Lösungen zu finden.
An diesem Beispiel zeigt sich sehr schön, wie widersprüchlich die Entwicklung der von Konkurrenzbeziehungen innerlich zerrissenen kapitalistischen Ökonomie verläuft und wie begrenzt das Steuerungspotential des Staates ist. Im vorliegenden Fall verhängte er zum Schutz der Vormachtstellung einer wichtigen Fraktion des eigenen Kapitals ein Embargo, das dann sofort von einer anderen, nicht weniger wichtigen Kapitalfraktion unterlaufen wurde, weil es gegen deren Interessen verstieß.
Die fünfte Prognose hielt fest, dass sich parallel zur Verschärfung der Konkurrenz um die weltweite Technologie-Führerschaft auch das Ringen um die wichtigsten natürlichen Ressourcen der Erde intensivieren wird. Einige der wichtigsten diesbezüglichen Entwicklungen der vergangenen Monate standen ebenfalls wieder im Kontext der Rivalität zwischen den USA und China. Dass China seine Monopole im Bereich der für die grünen Technologien benötigten Rohstoffe im Handelskrieg mit den USA nutzt, wurde bereits erwähnt. Ergänzend ist hier nun festzuhalten, dass die USA in diesem Ressourcenwettstreit zuletzt bedeutsame Schritte der Gegenwehr setzten. Drei davon seien hier stichwortartig erwähnt:
- Der Rohstoffdeal mit der Ukraine, bei dem diese den USA Zugang zu wertvollen Bodenschätzen einräumt, um weiter Unterstützung im Krieg gegen Russland zu erhalten
- Die Androhung von militärischem oder wirtschaftlichem Druck auf die dänische Regierung, um Kontrolle über Grönland zu erlangen, wo immense Vorkommen an seltenen Erden und anderen Rohstoffen durch das fortschreitende Schmelzen des Eises immer besser zugänglich werden
- Die organisatorische Vorbereitung von Deep-Sea-Mining großen Stils in internationalen Gewässern – vorbei an allen internationalen Regulierungen und ökologischen Bedenken der zuständigen Behörde der Vereinten Nationen.
Beim letztgenannten Punkt war Trumps Wahlsieg die Initialzündung, auf man in der gesamten Deep-Sea-Mining Branche gewartet hatte. Die Aktien des kanadischen Unternehmens TMC, eines der Pioniere im Deep-Sea-Mining, hatten davor unter einem Dollar notiert und schnellten kurz danach auf knapp über 3 Dollar hoch. Ganz zu Recht, wie man inzwischen weiß, denn mit einer seiner zahllosen Durchführungsverordnungen erweiterte Trump die Zuständigkeit des Nationalen Ozean- und Atmosphärenamts. Während es davor unter anderem für den Schutz von Fischgründen zuständig war und damit als einer der wichtigsten Beschützer der Meere fungierte, soll es künftig den Prozess der Ausstellung von Exploitationslizenzen für Mineralien auf dem Meeresboden beschleunigen.
Steigende Risiken für Frieden und Wohlstand
Die sechste Prognose zog eine politische Schlussfolgerung aus der durch die Globalisierung stimulierten Zuspitzung weltweiter Konkurrenz auf allen Ebenen. Denn sie vermutete eine immer konsequentere Verdrängung des gemeinsamen Bemühens um multilaterale Sicherheitskonzepte durch zunehmend aggressives Ringen um Absicherung und Ausweitung geopolitischer Einflussbereiche. Den ersten Anstoß zu diesem Paradigmenwechsel gab schon vor Jahrzehnten die Nato-Osterweiterung. Danach tickte jahrzehntelang ein Zeitzünder, bis es mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zu einer ersten großen Explosion kam. Sie setzte eine Entwicklung in Gang, die im letzten Jahr eine deutliche Beschleunigung erfuhr.
Auch für sie war der Amtsantritt Trumps verantwortlich. Denn letzterer versucht nun die multilaterale Ordnung der Welt mit der Brechstange zu kippen. Besagte Ordnung hatte zwei Grundlagen: Einerseits die axiomatischen Überzeugung, dass freier Handel ein Win-Win-Spiel für sämtliche Beteiligten sei und andererseits die spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion allseits akzeptierte und durch extrem hohe Militärausgaben gestützte Vormachtstellung der Vereinigten Staaten. Mit der zunehmenden Bedrohung der Dominanz der USA durch China und andere boomende Ökonomien des globalen Südens gerieten beide Grundlagen ins Wanken: Der freie Handel mit Billiglohnländern vernichtete in den USA viele Arbeitsplätze und die immensen Militärausgaben wurden zu einer zunehmenden Belastung für den amerikanischen Staatshaushalt.
Trump reitet mit seiner Zollpolitik eine frontale Attacke gegen den freien Handel, um einerseits Arbeitsplätze in die USA zurückzubringen und andererseits dem durch seine Steuergeschenke für die Reichen zusätzlich belasteten US-Budget neue Einnahmen zu erschließen. Der Entspannung der Budgetlage dienen auch die Ankündigung eines möglichen Rückzugs aus der Finanzierung der Militärhilfe für die Ukraine und die von einer Infragestellung der Nato-Beistandspflicht begleitete Forderung an die Bündnispartner nun selbst aufzurüsten. All dies ist ein hochgefährliches Spiel mit ökonomischen und sicherheitspolitischen Risiken, das die Welt sehr schnell an den Rand des Abgrunds bringen kann.
Betrachten wir als erstes das Problemfeld der Sicherheitspolitik, so ist festzustellen, dass die Einleitung des Rückzugs der USA aus Europa in den zunächst noch am Paradigma von Freihandel und Multilateralismus festhaltenden Ländern des alten Kontinents zu einem endgültigen Durchbruch der geopolitischen Orientierung führte. Dies ist deshalb so gefährlich, weil es die Verengung der sicherheitspolitischen Debatten auf das Militärische und die Vernachlässigung von Krisenprävention durch zivile Konfliktbearbeitung und Diplomatie mit sich bringt. Der Militärhistoriker Markus Reisner kennzeichnet diesen grundlegenden Wandel der Sicherheitspolitik mit einem treffenden Vergleich: „Wir sind wieder mitten im 19. Jahrhundert, wo es nur um militärische Stärke geht. Das Völkerrecht wird nicht mehr ernst genommen, die Welt gerät aus den Fugen. Wenn die USA nicht mehr als Garant dafür stehen, dass Abkommen eingehalten werden, dann macht jeder, was er will. Pakttreue, Verhandlungen, die Vereinten Nationen werden marginalisiert. Eine Eskalation folgt auf die letzte, und es wird immer schlimmer. Es ist wie im Wilden Westen und der Sheriff hat die Stadt verlassen.“[i]
Bei den von der Trump-Administration heraufbeschworenen ökonomischen Risiken ist zunächst an die wachstumshemmenden Effekte der neu errichteten Zollschranken zu denken. Sie können ganz leicht zu umfassenden Handelskriegen zwischen den größten Volkswirtschaften der Welt führen. Denn die von den hochgeschraubten US-Zöllen betroffenen Staaten werden jetzt nach neuen Märkten suchen und einander dadurch wechselseitig bedrohen. Sollten sich dann alle gegen diese neue Konkurrenz mit protektionistischen Maßnahmen schützen, steht die nächste globale Depression vor der Tür. Letztlich droht in diesem Szenario sogar der Umschlag der Handelskriege in militärische Auseinandersetzungen.
Mindestens ebenso gefährlich wie eine Eskalation des Protektionismus sind die möglichen Konsequenzen von Trumps Wirtschafts- und Finanzpolitik für das Weltfinanzsystem, in dem der Dollar eine zentrale Rolle als Leitwährung spielt. Denn hier schlummert das Potential für eine neue Weltfinanzkrise. Um dies verständlich zu machen, gilt es etwas genauer auf die Funktion der Weltleitwährung hinzublicken. Sie bedeutet für den Dollar zweierlei: einerseits fungiert er als globales Geld, d.h. es werden viele internationale Geschäfte in Dollar abgewickelt. Andererseits gibt er weltweit Sicherheit, d.h. die Zentralbanken aller Welt halten große Teile (aktuell: 58%) ihrer Währungsreserven in Dollar. Basis beider Funktionen ist die geballte Wirtschafts- und Militärmacht der Vereinigten Staaten. Für die hat die Rolle des Dollar als Weltleitwährung den großen Vorteil, dass ständig große internationale Nachfrage nach ihm besteht, weshalb sich der US-Staat sehr günstig verschulden kann. Er tut das auch ausgiebig (aktuelles Budgetdefizit 8% des BIP) und hat daher größtes Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Möglichkeit.
Seit aber der Stern der USA im Sinken begriffen ist, besteht auch wachsende Gefahr für die Rolle des Dollar als Weltleitwährung, denn mit der Zunahme der Probleme in der realen wirtschafts- und machtpolitischen Basis des Werts dieser Währung sinkt das weltweite Vertrauen in ihre Stabilität. Bei der Währung eines weniger potenten Landes hätte ein gigantisches Leistungsbilanzdefizit wie jenes der USA längst schon zu einem starken Kursverfall geführt. Bei der von einer zwar rückläufigen, aber immer noch sehr großen militärisch-politischen Macht gestützten Weltleitwährung beobachten wir bloß einen seit Monaten (in Relation zum Euro schon seit drei Jahren) anhaltenden leichten Wertverlust.
Trumps wirtschaftspolitisches Um-sich-schlagen könnte nun dieses ohnehin schon recht wackelige Konstrukt einer sicheren Weltleitwährung zum Einsturz bringen. Denn einerseits gefährden seine wütenden Angriffe auf die Unabhängigkeit der US-Notenbank das Vertrauen in die Stabilität des Dollar. Andererseits fordert Trumps aggressive Zollpolitik den Rivalen China zu währungspolitischen Revancheakten heraus. China könnte nämlich künftig immer mehr Auslandsgeschäfte in seiner eigenen Landeswährung abwickeln, was die Rolle des Dollar als globales Geld untergraben würde. Darüber hinaus hätte die chinesische Notenbank die Möglichkeit, relevante Teile ihrer großen Dollarreserven auf den Markt zu werfen. Das würde den Wert des Dollars ernsthaft gefährden und könnte andere Notenbanken zu einem ähnlichen Schritt motivieren. Sehr schnell stünde dann eine nicht mehr kontrollierbare Kettenreaktion mit einem rasanten Verfall des Dollar und katastrophalen Folgen im Raum. Denn viele Notenbanken haben ihrerseits Anleihen oder ähnliche Produkte auf dem Markt gebracht, die mit Dollarreserven besichert sind und daher nun ebenfalls sofort an Wert verlieren würden …
All dies geschieht aber keinesfalls mit Notwendigkeit, denn in China weiß man natürlich, dass man sich auch selbst schadet, wenn man im aktuellen Zollkonflikt den Dollar frontal attackiert. International könnte die steigende Unsicherheit über die Zukunft der Weltwirtschaft vorübergehend sogar zu einer verstärkten Flucht in den Dollar führen, was dessen Position (fürs erste) wieder stärken würde. Der Dollar ist also derzeit, wie die Finanzexperten so schön sagen, „hoch volatil“. Die Vorzeichen sind aber deutlich negativ. Zuletzt stufte die Rating-Agentur Moody’s die Bonität des US-Staats herab, und die weltgrößten Vermögensverwaltungen denken mittlerweile öffentlich darüber nach, riesige Summen in Europa oder woanders, jedenfalls nicht in USA, zu investieren. Denn Deutschland (mit aufgehobener Schuldenbremse) und die EU (mit ihrer aktuellen Extra-Kreditlinie für Waffenkäufe) erscheinen im Vergleich zu dem durch immer höhere Zinszahlungen limitierten US-Staat als lohnenswertere Hoffnungsmärkte.
Das Stichwort ‚Waffenkäufe‘ leitet über zur siebenten Prognose des Vorjahrs. Denn die vermutete als weiteres Merkmal der sich gerade etablierenden Gesellschaftsformation ein von der Wiederkehr der Geopolitik ausgelöstes allgemeines Aufrüsten, das in direktem Widerspruch zu den Zielen einer umfassenden ökosozialen Transformation der Weltgesellschaft steht. Vor allem in Europa fanden hier im letzten Jahr mit den eben erwähnten finanzpolitischen Vorbereitungen künftiger Waffenkäufe großen Stils einige langfristig wirksame Weichenstellungen statt. So will die Europäische Kommission bis 2030 zusätzlich zu den bisherigen Militärbudgets 800 Mrd. € für Aufrüstung mobilisieren.
Wie sehr das den Zielen einer ökosozialen Transformation zuwiderläuft, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Militär schon vor dem jetzt einsetzenden Rüstungsschub mindestens 5,5% der klimaschädlichen Emissionen verantwortet und damit weltweit der viertgrößte Klimakiller ist. Ferner ist zu bedenken, dass die Aufrüstung der Transformation wichtige industrielle Kapazitäten entzieht. So sollten etwa in Deutschland möglichst viele Unternehmen der kriselnden Autobranche ihre Produktion auf Schienenfahrzeuge und Busse umstellen. Stattdessen übernehmen jetzt aber Rüstungskonzerne Fabriken, in denen bisher Autoteile hergestellt wurden, und im sächsischen Görlitz will man in einem bisherigen Eisenbahnwerk künftig Panzerteile produzieren.
Selbst das neutrale Österreich klinkt sich in diese uns der Katastrophe näher bringende Entwicklung ein: Während die Regierung einerseits die Militärausgaben bis 2032 gegenüber der Periode 2023-2026 verdreifachen möchte, werden andererseits im Namen der Budgetkonsolidierung zahlreiche Klimaschutzmaßnahmen reduziert (Abschaffung des Klimabonus, Verteuerung des Klimatickets, Einbremsen der ÖBB-Ausbaupläne, usw.) und die Krankenversicherungsbeiträge der Pensionist*innen erhöht.
Höchste Gefahr für die liberale Demokratie
Die achte und damit letzte These des Vorjahrs konstatierte eine tiefe Krise der liberalen Demokratie und prognostizierte deren zusätzliche Gefährdung durch die von der Digitalisierung erweiterten Möglichkeiten des Zugriffs auf das Individuum.
Weil Politik und Kapital das hier schlummernde Herrschafts- und Ausbeutungspotential nutzen wollen, etablierte sich in den letzten Jahrzehnten ein gleichsam unendlicher Kampf zwischen der Staatsmacht und den großen Datenkonzernen, der sich auch im abgelaufenen Jahr an verschiedenen Fronten fortsetzte. Zentrum der Auseinandersetzung sind traditionell die USA, Heimat der ‚Big Five‘, Microsoft, Amazon, Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Apple. Sie haben ihre digitalen Dienstleistungen wie Räder eines Uhrwerks verzahnt und monopolisiert und können daher nicht nur die Preise für Werbekunden in die Höhe treiben, sondern auch bestimmen, welche Bilder und Informationen wir zu sehen bekommen. Der US-Staat versucht seit langem immer wieder diese Machtgebilde aufzubrechen, legt dadurch aber stets nur den Grundstein für die Entstehung neuer Monopole. So ermöglichte etwa im Jahr 2000 ein Kartellverfahren gegen Microsoft den Aufstieg von Google. Aktuell laufen wieder einschlägige Verfahren – nun gegen Google und Meta. Ihr Ausgang ist derzeit noch offen.
Zuletzt zeigte auch die EU erstmals den Datenriesen die Zähne und verhängte im April 2025 wegen Verstößen gegen das Gesetz für digitale Märkte über Meta und Apple Strafen im Gesamtvolumen von 700 Millionen Euro. Im Zuge des jüngsten Zoll-Streits mit den USA stand dann aber gleich deren vorübergehende Aussetzung im Raum. Vorläufig kam es nicht dazu, die Sache ist aber noch längst nicht gegessen, denn schon droht Trump mit neuen Zöllen und Exportbeschränkungen für US-Halbleiter, sollte die EU ihre Gesetze für Digitale Dienste und Digitale Märkte nicht widerrufen.
Diese Fortsetzung des Ringens großer Kapitale und (supra-) staatlicher Institutionen um die Kontrolle des Zugriffs auf das Individuum war aber im letzten Jahr nur ein Nebenschauplatz im Kampf um die Zukunft der liberalen Demokratie. Denn die in der politischen Arena selbst ablaufenden Ereignisse waren noch dramatischer. Von allerhöchster Bedeutung natürlich der Wahlsieg Trumps, der nun viel brutaler und effizienter als in seiner ersten Amtszeit daran geht, all die ‚Checks and balances‘ auszuhebeln, welche die US-Demokratie vor autokratischen Absichten eines Präsidenten schützen sollen.
Was heute in den USA geschieht und diesseits des Atlantiks erst in einigen Staaten abläuft, könnte morgen schon als Flächenbrand in weiten Teilen Europas wüten. Jetzt wird sich nämlich im Gefolge des anlaufenden Rüstungsbooms die Krise der liberalen Demokratie fast zwangsläufig weiter verschärfen. Denn man muss die Rüstung praktisch überall auf Kosten des Sozialstaats hochfahren, und dies gefährdet unweigerlich Stabilität und sozialen Zusammenhalt der davon betroffenen Gesellschaften – damit zugleich aber auch deren liberal-demokratische Verfassung.
Wie sehr diese Entwicklung den Nerv der Demokratie trifft, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass sie unter kapitalistischen Rahmenbedingungen im Wesentlichen bloße Verteilungsdemokratie ist. Als solche beschränkt sie sich weitgehend auf die Aushandlung von Kompromissen bei der Distribution des kollektiv produzierten gesellschaftlichen Reichtums, während sie die Entscheidungen über die Produktion jenes Reichtums dem an seiner Verwertungslogik orientierten Kapital überlässt. Ihre Blüte erlebte die liberale Demokratie daher in jenen Zeiten, als das fordistische Akkumulationsregime für robustes Wachstum sorgte und Verteilungskämpfe bloß ein Ringen um die hohen Zuwächse des gesellschaftlichen Reichtums waren. Heute haben wir es dagegen mit defensiven Kämpfen um ein möglichst geringes Schrumpfen der Bezüge aus einem nur mehr wenig bis gar nicht wachsenden Bruttosozialprodukt zu tun. Diese neue ökonomische Ausgangslage überfordert das Problemlösungspotential der liberalen Verteilungsdemokratie, weshalb ihre Grundstrukturen (Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Grund- und Menschenrechte) zunehmend in Verruf geraten und immer aggressiver vom Rechtspopulismus in Frage gestellt werden können. Der nun beginnende Abfluss relevanter Teile des gesellschaftlichen Produkts in die Aufrüstung wird das skizzierte Überforderungsproblem verstärken und damit noch bessere Ausgangsbedingungen für das zerstörerische Wirken des Rechtspopulismus erzeugen.
[i] Profil, 21.6.2025